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Nichts kommt den Grünen gelegener als die Wahl zwischen SPD und der Linken oder CDU und FDP als Koalitionspartnern, um zu beweisen, daß sie nicht nur über eine ökologische, sondern auch über eine soziale Kompetenz verfüge.« Zweiter Versuch. »Die öffentliche Stimmung gegenüber Oskar Lafontaine hat eine dramatische Wendung genommen. Die Mehrheit der Deutschen ist zu der Überzeugung gelangt, daß es nicht schmählich, sondern ehrenwert ist, wenn ein Politiker, der erkennt, daß er nicht durchsetzen kann, was er für richtig hält, sich aus einem Amt und notfalls auch aus einer Partei zurückzieht, daß es nicht feige, sondern vorbildlich ist, wenn er nicht an einer mit höherem Prestige versehenen Funktion festklebt, sondern sich an einer Stelle engagiert, an der er nützlicher und kompetenter zu sein meint, und daß es voreilig ist, wenn man ihm böse Motive unterstellt, wo möglicherweise ganz private Gründe vorliegen, die Lafontaine so lange wie nur möglich verschweigt, weil er sich der allgemeinen Gepflogenheit, die Medien mit der eigenen Befindlichkeit vollzuschwatzen, nicht unterwerfen will.« Dritter Versuch. »Es wurde endlich ein Konsens hergestellt, daß Gerechtigkeit kein Schlagwort bleiben dürfe und daß Strafen für Vergehen an der Gemeinschaft dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechen müssen. Deshalb wird die Entlassung der Angestellten, die fünf Maultaschen entwendet hat, umgehend rückgängig gemacht. Dafür werden jene Politiker, die durch falsche Entscheidungen, sei es in der Bildungs-, der Gesundheits- oder der Friedenspolitik, Tausende und Abertausende in Not und Unglück gestürzt oder sogar um ihr Leben gebracht haben, zur Verantwortung gezogen und gezwungen, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Auch jene Politiker, die den Steuerzahler durch fahrlässige Berechnungen und Geschenke an die Wirtschaft um Milliardenbeträge erleichtert haben, müssen mit ihrem privaten Vermögen dafür geradestehen.« »Es ist alles net wahr«, lautet der Refrain eines Couplets aus der »Verhängnisvollen Faschingsnacht« von Johann Nepomuk Nestroy. Was waren die Themen, die im vergangenen Jahr die heftigsten, bis zum Verdruß breitgetretenen Diskussionen ausgelöst haben? Der Amoklauf von Winnenden. Peter Sloterdijks Plädoyer für die Abschaffung der »Zwangssteuer« auf Kosten derer, die auf den Sozialstaat angewiesen sind. Das Schweizer Mehrheitsvotum für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot, um jenen, die in Moscheen beten, vorzuenthalten, was den Besuchern von Kirchen zugestanden wird: ein Turm. Wie gerne schriebe ich über neue Erfolge der Aufklärung, der Solidarität, der Friedenssicherung. Ich finde sie nicht. Thomas Rothschild Das Land verkommtZum Brötchenholen gehe ich aus dem Haus, rutsche beim ersten Schritt, kann mich nicht halten, stürze und höre das Knacken: zwei Knochenbrüche, wie später das Röntgenbild bestätigt. Das Eis ist spiegelglatt. Die Hausverwaltung hat nicht streuen lassen. Die Stadtreinigungsbetriebe haben die Fahrbahnen mit Salz eisfrei gemacht. Die Autos erhalten mehr Schutz als die Bürger auf den ihnen zugedachten Steigen – auch entlang städtischer Grundstücke. Kann mich sowas – fünf Jahre nach Hartz IV – noch wundern? Öffentliche Dienste werden reduziert und bald ganz abgeschafft. Das Krankenhaus Prenzlauer Berg, wo mein Arm erst einmal geschient wird, ist von Schließung bedroht. Das benachbarte Kulturzentrum ebenfalls. In Hannover wird das Haus der Landesbühne geschlossen, Wuppertal will, weil die Armut wächst, sein Schauspiel-Ensemble nicht mehr finanzieren. Die Telekom hat wegen einer Störung meinen Fax-Anschluß abgeschaltet, spätestens nach einer Woche sollte ich einen neuen bekommen, aber das ist jetzt mehr als sechs Wochen her; unzählige Anrufe bei dem teilprivatisierten Unternehmen blieben erfolglos. Die Briefpost kommt jetzt nie mehr morgens, immer erst nachmittags, an manchen Tagen gar nicht. Dazu das Durcheinander bei der Bahn AG, die nach Ansicht der Bundestagsmehrheit unbedingt privatisiert werden muß. Auf dem S-Bahnhof ärgere ich mich oft, wenn ich einen Zug oder sogar auch den nächsten verpasse, weil ich zu lange am Fahrscheinautomaten warten mußte. Ich erinnere mich gut, wie schnell man einst für zwei Groschen im Osten oder fünf im Westen am Schalter bedient wurde. Aber die Stellen der Verkäufer mußten weggespart werden. Alle Risiken, alle Kosten des neoliberalen Gesellschaftsumbaus haben die Unteren zu tragen. Das ist der Sinn des Umbaus. Man preist uns das als »mehr Eigenverantwortung« an. Das Wort läßt mich jedesmal zusammenzucken. Ein paar Häuser weiter ist ein neuer Arzt eingezogen. Auf dem Schild steht: »Praxis für Selbstzahlermedizin«. Das Land verkommt. Eckart Spoo Christliche HämeEinen Erfolg kann man der Generalsekretärin der SPD nicht absprechen: Seit der Übernahme dieses Amtes kommt Andrea Nahles häufiger in die Medien, auch in die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die ein Interview mit ihr unter die Überschrift stellt: »Der Papst ist der Chef«. Ein Seitenhieb gegen Sigmar Gabriel? Vermutlich nur Realitätssinn, denn Gabriel kann im Unterschied zu Benedikt abgewählt werden oder den Kram hinwerfen. Andrea Nahles beschreibt im Interview unter anderem, wie sie zu »desillusionierenden Erfahrungen in bezug auf den real existierenden Sozialismus« gekommen ist. 1985 machte sie einen Besuch in der DDR, um Spendengeld für die Renovierung einer Kirche hinüberzubringen. Und da erlebte sie »hautnah: Christen hatten es dort schwer ... Wer sich zur Kirche bekannte, wer andere Werte hatte, konnte nicht mehr studieren, wurde gegängelt. Das fand ich sehr bedrückend.« Das läßt sich nur als Tiefschlag gegen die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin verstehen. Denn offenkundig ist: Pfarrerstochter Angela Merkel konnte in der DDR studieren, sogar zum Studium beim Großen Bruder wurde sie entsandt. Sie hatte es nicht schwer. War sie vielleicht keine Christin? Das Beste wird sein, den Chef mal zu fragen, wie er das sieht. In einer Privataudienz für Andrea Nahles. Marja Winken Schleim zum Überlaufen»Mit seinen Komplimenten wird er Sie verstümmeln«, heißt es in einem Stück von Maxim Gorki. Ja, Schmeichelei erweist sich oft als Bärendienst. Das bestätigt eine Zitatensammlung über Wladimir Putin, veröffentlicht von der Zeitung Kommersant-Wlast. Die Äußerungen stammen aus der Zeit, als Putin Präsident war und noch nicht endgültig angekündigt hatte, ob er zum dritten Mal kandidieren oder sein Amt räumen würde. Hier einige Zitate: »Die demokratische Nation kann ihren Leader nicht so einfach gehen lassen«, dieses Verständnis von der Demokratie vertrat der Politastrologe Gleb Pawlowski. Und warum kann sie das nicht? Das erläuterte uns die Stellvertretende Vorsitzende der Staatsduma, Lubow Sliska: »Putin ist unser Alpha und Omega.« Darum nicht. Unterstützung für diese mutige Behauptung erntete die Parlamentarierin bei dem Abgeordneten Sergej Markow. Der äußerte sich fest davon überzeugt, daß »die Persönlichkeit Wladimir Putins für die Gesellschaft relevanter ist als die staatlichen Institutionen«. Und überhaupt: »Ist es möglich, daß Putin im Unrecht sein kann?« Der Verfasser dieser rhetorischen Frage, Wladimir Tschurow, Leiter der Zentralen Wahlkommission, schien jeden Zweifel an der Unfehlbarkeit des damaligen Staatsoberhaupts für eine Gotteslästerung zu halten. »Wladimir Wladimirowitsch (Putin) ist der Garant des Friedens, der Stabilität und Einheit«, so der Chef-Trainer der russischen Nationalmannschaft für Freistilringen, Dschambulat Tedejew. Der Präsident der kaukasischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, wußte das noch viel schöner auszudrücken: »Putin schenkte dem tschetschenischen Volk das zweite Leben. Allah hat ihn auf diesen Posten berufen ... Putin ist eine Gottesgabe, er hat uns die Freiheit beschert ... Solange er gesund ist, müssen wir ihn auf Knien bitten, weiterhin den Staat zu führen.« Nach einer solchen Liebeserklärung wirken weitere Huldigungen eher farblos. Vergleichsweise nüchtern beispielsweise die des bekannten Filmregisseurs Fjodor Bondartschuk: »Sämtliche Kinoerfolge sind mit Wladimir Putin verbunden.« Natürlich, mit wem sonst? Aber warum nur die Kinoerfolge?. Das Gesagte galt sicher auch für Literatur, Medizin, Ballett, Weltraumtechnik, Landwirtschaft, Elektronik, Geologie, Bauwesen und alle anderen Branchen. Schließlich sei noch der ideenreiche Vorsitzende des Föderationsrats, Sergej Mironow, zitiert: »Einen besseren Kandidaten für die Fortsetzung des präsidialen Kurses als Wladimir Putin selbst sehe ich nicht.« Doch die Periode der politischen Blindheit währte bei Mironow nicht lange. Nach und nach blickte er wieder durch – und die anderen Lobhudler ebenfalls. Aber nicht von heute auf morgen – das wäre sogar den berufsmäßigen Speichelleckern ein bißchen peinlich gewesen. Sie begriffen, daß Dmitri Medwedew gar nicht daran denkt, im Schatten seines Vorgängers stehenzubleiben, und so entdeckten sie immer mehr Talente des neuen Staatschefs und begannen, ihn zu lobpreisen, wie sie es früher gelernt und sich angewöhnt hatten. Vorsichtshalber wandten sie sich nicht vollständig von Putin ab: Wird er vielleicht schon nächstes Mal wieder als Präsident kandidieren? Man kann nie wissen. Manchmal stelle ich mir die naive Frage: Gefällt den beiden solche schamlose Schmeichelei? Sergej Guk Recherche mit FehlerGustav Regitz war ein saarländischer Sozialdemokrat, der nach dem verlorenen Kampf gegen den Anschluß des Saarlands an Nazi-Deutschland ins KZ Dachau gebracht worden war und von dort als faschistischer Spion zurückkehrte. Der junge Mann hatte, die Lagerbarbarei erlebend, dem Drängen seiner Gegner nicht standgehalten und bespitzelte seitdem die ehemaligen Genossen, auch Kommunisten und andere Antifaschisten. Zeitweise war er in Paris und verkehrte als Emigrant getarnt mit vielen Emigranten, um sie auszuhorchen. Angeblich – so spätere Erklärungen – versuchte er, den Gefährdeten nicht zu schaden, er habe sie sogar gewarnt, beispielsweise die Kommunistin Lore Wolf. Doch diese und der Sozialdemokrat Karl Petri, beide jahrelang in Gefängnissen oder Lagern der Nazis gequält, sahen in Regitz ihren Verräter. 1951 wurde er freigesprochen. Tanya Lieske ist Journalistin und die Großnichte von Gustav Regitz. Nun endlich will sie die Familienmythen aufklären: Lange Gespräche mit der neunzigjährigen Großtante, fündige Recherche in Gestapo-Archiven, Kindheitserinnerungen ... Es entsteht ein Bild eines widerspruchsvollen Mannes, von dem manches im Dunkeln bleibt. Interessante Spurensuche, subjektive Annäherung an ein eher tabuisiertes Thema – so hätte ich geurteilt, wenn nicht ein Fehler der Autorin die tendenziöse Absicht des Ganzen allzu deutlich gemacht hätte: Offensichtlich ging es eben nicht nur um den Großonkel, sein Beispiel sollte auch dazu dienen, die »Spione der nächsten deutschen Diktatur« anzuprangern und mit den Nazispitzeln in einen Topf zu werfen. So wird Markus Wolf, der mit diesem Fall nichts zu tun hatte, zum Schwager von Lore Wolf, der er, wie leicht zu ermitteln gewesen wäre, nie war! Auf Teufel komm raus spinnt auch diese Angehörige der nunmehr dritten Generation antikommunistische Fäden, so daß man an der Glaubwürdigkeit und Redlichkeit der gesamten Recherche zu zweifeln beginnt. Noch immer läßt der Kalte Krieg grüßen! Christel Berger Tanya Lieske: »Spion wider Willen«, Droste Verlag, 173 Seiten, 14.95 € Familiengeschichte mit LückenDaß sie spannende (Kriminal)-Geschichten schreiben kann, bewies die geistige Mutter der Polizei-Kommissarin Bella Block mit ihren zahlreichen Büchern, in die sie selbstbewußt ihre linke Gesinnung einbrachte. Das bestätigt auch der neue Roman »Pasewalk« – nicht direkt ein Krimi, eher eine Familiengeschichte, die über fünf Generationen vom Beginn des vorigen Jahrhunderts bis heute reicht. Das frühere Dienstmädchen Lene zieht zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrem, durch einen Reiterunfall verkrüppelten Mann nach Pasewalk, einer Garnisonsstadt in Vorpommern, und lebt dort öde und trist das kleinbürgerliche Leben von Eigentümern einer Gastwirtschaft und eines kleinen Ladens. Tochter Margot heiratet einen angeblich anständigen und soliden Mann, der kurz nach Hitlers Machtantritt SS-Führer wird. Als in Pasewalk die Synagoge brennt und das gefeiert wird, ist er selbstverständlich dabei. Doris Gercke hat zur Schilderung dieser Zeit in Pasewalk sorgfältig recherchiert, und es gelingt ein eindrucksvolles Bild dumpfen vorpommerschen Kleinbürgertums, das gut zu den Nazis paßt. Ein weiterer Teil des Romans wird von einem Kriminalfall getragen: Margots Tochter erschießt in Polen eine Deutsche und wird dafür zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach 17 jährigem Gefängnisaufenthalt wird sie von der Enkelin aufgenommen, die nun endlich begonnen hat, sich für die wahre Geschichte der Großmutter zu interessieren. Die Spurensuche führt nach Pasewalk, wo es, wie die Autorin findet, genauso öde und nationalistisch zugeht wie zu Ururgroßvaters Zeiten. Weil die Familiengeschichte die Jahre von 1945 bis heute fast gänzlich ausblendet, wird die Handlung teilweise nebulös; »deutsche Geschichte« wird auf Klischees reduziert. Pasewalk ist bestimmt auch heute nicht besonders spannend, hat es aber nicht verdient, als ein Relikt aus Hitlerzeiten dargestellt zu werden. C. B. Doris Gercke: »Pasewalk. Eine deutsche Geschichte«, Hoffmann und Campe, 157 Seiten, 17 € Erich WulffWenn er sprach – leise, behutsam, aber bestimmt –, hörten alle hin. Meist ließ er erst – aufmerksam zuhörend – alle anderen reden, bevor er das Wort nahm. Was er dann sagte, war endgültig. So erlebte ich ihn als Vorsitzenden der Freundschaftsgesellschaft BRD-Vietnam, in der Friedensbewegung, im Freundeskreis und in seinem Beruf als Leiter der Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Wie er psychische Störungen in gesellschaftlichen Zusammenhängen begriff, vermittelte er den Ossietzky-Lesern gelegentlich mit Berichten von seiner Tätigkeit als Gerichtspsychologe. Die größte Wirkung als Autor hatte er mit seinen unter dem Pseudonym Georg Alsheimer erschienenen Büchern über Vietnam, wo er als junger Arzt während des Krieges im Süden arbeitete. Wie er dort die gefürchtete andere Seite entdeckte und schilderte, half seinen Lesern, die Zusammenhänge zu erkennen. Später, nach dem Sieg der Nationalen Befreiungsfront, beobachtete er souverän auch deren Fehlentwicklungen. Er hoffte, mit solidarischer Kritik helfen zu können. Die Nachricht von seinem Tod in Paris, wo er in den letzten Jahren lebte, weckt viele gute, wohltuende Erinnerungen. Merkwürdig: Sie berühren mich stärker als die Trauer. E.S.
Erschienen in Ossietzky 3/2010 |
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