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Hier wohnte der junge, noch unbekannte Schauspieler Ekkehard Schall, kurz Ekke. Ich hatte ihn im Sommercamp des Kulturbundes für junge Theaterleute, das alljährlich in Thüringen stattfand, kennengelernt. Er galt als Eigenbrötler, weil er nachts Sprechübungen machte und tagsüber die auf Erholung Bedachten mit nicht immer verständlichen Fragen behelligte. Zur obligaten Abschlußfeier, wo jeder zeigen sollte, »was er drauf hat«, trug er Otto Reutters »Da fangen wir gleich an« vor, beherrschte aber den Text nicht. Das Ganze war eine verbissene Suche nach Text. Die anderen waren empört. Ich fand es eine unfreiwillige hinreißende Clownerie. Eine Vorahnung des »Ui«? Zurück zur Ackerstraße. Bei einer Flasche sowjetischen Wodkas lasen wir – Schall und ich – eines Nachts Verbotenes. Schall, den Brecht auf meinen Vorschlag hin für die »Gewehre der Frau Carrar« als José engagiert hatte, nutzte seine Stellung als wahrscheinlich künftiger Schwiegersohn des Meisters, um für eine Nacht einen Text zu entwenden, den Brecht für uns »Junge« streng unter Verschluß hielt: die Hitler-Travestie »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«. Wir sollten uns erst gründlich mit dem Stück »Furcht und Elend des dritten Reiches« befassen: Bevor man über die Nazis lacht, muß man über sie erschrecken, so der Meister. Nun saßen wir in der Ackerstraße unter einer Funzel ohne Lampenschirm und lasen mit hochroten Köpfen »Arturo Ui«. Gegen Mitternacht leisteten wir den Eid, den »Arturo Ui« auf die Bühne zu bringen. Es blieb allerdings bei dem Eid. Denn auch, als Brecht gestorben, »Furcht und Elend« aufgeführt war und wir »Arturo Ui« als Projekt bei der Intendantin Helene Weigel und der Dramaturgie anmeldeten, erhob sich vor uns eine neue Hürde: Beide fanden Wekwerth und Schall »zu humorlos« für eine Travestie. Tatsächlich waren unsere ersten gemeinsamen Arbeiten etwas düster ausgefallen. So suchten wir beim Ruprecht im »Zerbrochenen Krug« nicht den unbeholfenen, vor Gericht stotternden angeblich betrogenen Liebhaber, sondern den Brechtschen »Kausalnexus«, von uns gründlich mißverstanden als Alleinbestimmung durch die Ökonomie. Aber den Ausschlag für den Vorwurf der »Humorlosigkeit« dürfte unsere gemeinsame Arbeit an Johannes R. Bechers »Winterschlacht« gegeben haben, in der Schall den jungen Hörder spielte. Um das schwache Stück zur Wirkung zu bringen, mußten wir Hörder zum erschütternden Beispiel machen und Schall zum tragischen Helden. Die Anerkennung durch die Dramaturgie war zugleich unser Untergang. Schall und Wekwerth wurden als »ideales Team für große ernste Stoffe« gelobt. Unsere »Humorlosigkeit« war damit festgeschrieben. Und wir mußten eidbrüchig werden, denn für uns war »Arturo Ui« für lange Zeit passé. Angesichts der »Humorlosigkeit« am Berliner Ensemble verlegte Chefdramaturg Peter Palitzsch die Uraufführung des »Arturo Ui« kurzerhand nach Stuttgart. Und da er mit Regie liebäugelte, übernahm er die auch selbst. Helene Weigel mußte wohl oder übel zustimmen, denn Palitzsch machte von Stuttgart die Verlängerung seines Vertrages am Berliner Ensemble abhängig. Eigentlich hätten wir Ui-Eidgenossen uns freuen müssen, als Stuttgart trotz des großartigen Wolfgang Kieling ein Flop wurde. Grund: Humorlosigkeit. Schadenfreude ist schön, aber unproduktiv. Und wir standen zu unserem Eid: Wenn das Berliner Ensemble den »Arturo Ui« von uns nicht haben will, machen wir ihn selbst. Und in jenem Hinterzimmer in der Ackerstraße unter der Funzel ohne Lampenschirm arbeiteten wir intensiv an dem »Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui«. Und es ging schief. Ich, der Regisseur, wollte die Normalität der Gangsterwelt (mit umfangreicher Kenntnis amerikanischer Krimis), wollte »runde« Figuren und eiserne Logik der Gangsterstory, Ekke dagegen kam mit losen, wenn auch großartigen Nummern und unzusammenhängenden Beobachtungen aus der Nazi-Welt, vorgebracht als Absurditäten und bar jeder Logik. Es war wieder Mitternacht, als wir in der Ackerstraße unser Scheitern konstatierten. Aber die inzwischen leere Wodka-Flasche gab uns die nötige Verwegenheit, »Verrücktes« zu versuchen: Ekkes Unlogik und meinen Drang nach Logik einfach zusammenzuwerfen. Vielleicht war das Unlogische gerade die neue Logik: Die Nazis versprachen in ein und derselben Rede den Mietern die Mietsenkung und den Vermietern die Erhöhung der Mieten. Vielleicht waren Ekkes Absurditäten die neue Normalität. Vielleicht waren die clownesken Einzelnummern der »runde« Zusammenhalt des Stücks. Erst am nächsten Morgen, etwas lädiert vom Wodka, bemerkten wir, daß wir den Schlüssel zum »Arturo Ui« gefunden hatten: die schreiende Unlogik war die neue verbindliche Logik der neuen Herrscher, die Absurdität die neue Normalität, und Ekkes »Nummernprogramm« clownesker Art entsprach am besten der Einheitlichkeit, denn Zusammenhanglosigkeit wurde der neue Zusammenhang des Dritten Reiches. 1958 wurde »Arturo Ui« von Helene Weigel in den Plan des Berliner Ensembles als Projekt der »Humorlosen« aufgenommen: Wir konnten endlich unseren Eid aus der Ackerstraße erfüllen. Palitzsch, zurück aus Stuttgart, entdeckte in den Szenen, die wir bereits erarbeitet hatten, plötzlich »exzellenten Humor«, und er nahm mein Angebot, als Mitregisseur einzusteigen, gern an. 1960 erhielt »Arturo Ui« beim Paris-Gastspiel den Preis des Theaters der Nationen. In Berlin wurde die Inszenierung 767mal gespielt und 1977 unter Protest des Publikums abgesetzt, weil Ekke, wie er sagte, »Hitler zum Halse raushing«. Für mich sind Entstehen und Arbeiten mit dieser Travestie ein Beispiel des Wunders eines atheistischen Sakraments, genannt »Gemeinsame Produktivität«. Anderswo spricht man von »trial and error«, was Vertrauen der Partner, geminderte oder sogar unterlassene Empfindlichkeit gegen Kritik und Eingeständnis von Fehlern voraussetzt, eben echte Arbeit. Dazu braucht es einen neuen Typ von Schauspielern. Eben solche wie Ekkehard Schall. Ich denke an die Zusammenarbeit mit Ekke als an eine meiner glücklichsten Zeiten am Theater. Zum fünften Todestag des Schauspielers wird im März im Eulenspiegel Verlag das Buch »Ekkehard Schall. Von großer Art« mit Fotografien von Vera Tenschert erscheinen (192 Seiten, 24.95 €).
Erschienen in Ossietzky 1/2010 |
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