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Zu diesem Kiosk durfte der Junge den Vater oft begleiten, und als er lesen lernte, bekam er hier die ersten kleinen bunten Hefte aus der Reihe »Kriegsbücherei für die deutsche Jugend«, die, in großer Auflage verbreitet, der »Wehrertüchtigung« dienen sollten. »Diese Hefte haben mich begeistert und zum richtigen kleinen Nazi gemacht.« Aber zur »Hitler-Jugend« wollte er nicht, obwohl er für Hitler schwärmte. Er hatte gehört: Da werden die Jungen geschlagen, der Fähnleinführer haut mit Boxhandschuhen auf sie ein. Davor hatte er Angst. Als 1945 die Amerikaner einzogen und er einen von ihnen vor sich sah, wäre er gern ein »Werwolf« gewesen: »Ich dachte, jetzt müßte man Handgranaten werfen.« Der Zehnjährige war noch immer ein »kleiner Nazi«. Empörung packte ihn, als ein aus dem Krieg heimgekehrter Nachbar, der ein Nazi-Funktionär gewesen war, seine kindliche Schwärmerei für Hitler barsch abtat: »Das war doch ein Verbrecher.« Der Mann verriet den Führer! Treulos! Ehrlos! In einem Schulheft hatte Otto Köhler einen ersten literarischen Versuch unternommen: ein Stück über einen deutschen Angriff auf eine Stadt in Feindesland, einen Luftangriff. »Stolz zeigte ich mein Werk herum, und wer es sah, war natürlich begeistert, wie man es gegenüber einem Kind sein muß.« So begann seine Schriftstellerei, inspiriert von jenen kleinen bunten Heften. 1988 fiel ihm seine Begeisterung von einst wieder ein. Das war, als er sich mit Werner Höfer beschäftigte, dem damaligen WDR-Chefredakteur und allsonntäglichen jovialen Gastgeber des Fernseh-Frühschoppens. Im Nazi-Reich war Höfer ein publizistischer Mordhetzer gewesen. Otto Köhler besorgte sich aus Bibliotheken einzelne Hefte und fand als deren Autoren viele alte Kollegen angegeben, die 1988 in hohem Ansehen standen: Henri Nannen, Chef des stern, Walter Henkels, Bonner Korrespondent und Kolumnist etlicher Tageszeitungen, Jürgen Eick, Herausgeber der FAZ, Josef Müller-Marein von der Zeit und so weiter. »Diese großen Kollegen«, erkannte er, »waren es, die mich zum kleinen Nazi gemacht hatten.« Und als er dann sein Buch »Wir Schreibmaschinentäter« herausbrachte, stellte er ihm als Motto Thomas Manns Frage aus dem Jahre 1945 voran, was denn mit den Journalisten der Nazi-Presse sei, »die zwölf Jahre das Volk mit den verderblichen geistigen Drogen fütterten und verdarben – sind sie keine Kriegsverbrecher? Sind sie vielleicht nicht die strafbarsten?« Noch auf dem Progymnasium in Hammelburg pflegte er seine Hitler-Verehrung. Aber ein Deutschlehrer reagierte klugerweise nicht heftig, sondern mit einem skeptisch-lächelnden Blick oder auch mal mit der einfachen Frage: »Ja? Ist das wirklich so?« Das erwies sich als die pädagogisch richtige Methode, Otto Köhler von Hitler wegzuführen. Fleißiges Lesen half weiter. Im Amerikahaus fraß er sich durch Zeitschriften und Bücher. Es war noch die Zeit der »reeducation«.Als Gymnasiast in Schweinfurt trat er der SPD bei, als Germanistik-Student in Würzburg dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Er hörte, daß mit dem neuen bayerischen Kultusminister Theodor Maunz etwas nicht stimme. Genaues erfuhr er nicht. Er ging ins juristische Seminar, schlug in einer Bibliographie nach und suchte all die Fachzeitschriften zusammen, in denen Maunz publiziert hatte. Beim Lesen dieser Aufsätze habe es ihn »umgehauen«, berichtet er. Dann brachte er in der Vollversammlung der Studentenschaft einen Mißtrauensantrag gegen den Minister ein. Obwohl die Universität Würzburg von Korporierten beherrscht war, spürte er, daß der Antrag Chancen hatte. Die von ihm vorgetragenen Maunz-Zitate hatten Eindruck gemacht. Aber da war eine Gruppe, die mit langen Reden die Abstimmung hinauszögerte. Die Absicht bestätigte sich, als ihr in einem Auto aus München, auf das sie gewartet hatte, ein Stapel Papier mit Entlastungsmaterial gebracht wurde: Maunz habe Juden geholfen, und der Sozialdemokrat Adolf Arndt habe ihm zur Einsetzung ins Ministeramt gratuliert. Na bitte. Der Antrag wurde abgelehnt. Köhler fand heraus, wer das Material rasch zusammengestellt hatte: Maunz‘ damaliger Assistent Roman Herzog. Anläßlich einer Außenministerkonferenz in Genf wurden alle westdeutschen Studentenschaften aufgerufen, gegen das Unrechtsregime in der DDR, nein in der SBZ, wie man damals sagte, zu protestieren. Köhler und ein SDS-Genosse kamen mit dem vom AStA genehmigten Transparent: »Ein Deutschland ist wichtiger als zwei Armeen.« Die Korporierten weigerten sich, mit einem solchen Transparent durch Würzburg zu ziehen, denn ihnen war die Wiederaufrüstung wichtiger als die Wiedervereinigung; ein entmilitarisiertes Gesamtdeutschland widersprach ihren Vorstellungen. SDS-Vorsitzender Köhler weigerte sich, das genehmigte Transparent zusammenzurollen. Daraufhin wurde der Marsch abgesagt – was die Universitätsleitung für eine Blamage hielt. Ein von ihr eingeleitetes Disziplinarverfahren gegen Köhler endete mit einem Tadel. Schließlich wurde Köhler aus dem SDS ausgeschlossen. Er hatte nämlich eine Einladung der FDJ zu einem gesamtdeutschen Studententreffen auf der Wartburg angenommen. Die SPD – immer darauf bedacht, es im Kalten Krieg nicht an strammer Haltung fehlen zu lassen – erlaubte keinerlei Kontakt ihres Studentenverbands zur Jugendorganisation der DDR. Der damalige SDS-Bundesvorsitzende Ulrich Lohmar exekutierte das Verbot. Als die SPD nach einigen Jahren den ganzen SDS ächtete und namhafte Intellektuelle wie Wolfgang Abendroth wegen Förderung des SDS ausschloß, verabschiedete sich Köhler von der Partei. Beim Lesen des Spiegel fand er einen kräftig oppositionellen Artikel von Jens Daniel, wie sich Herausgeber Rudolf Augstein damals als Kolumnist nannte. »Solche Kolumnen wollte ich auch einmal schreiben.« Zunächst schrieb er kleine Berichte für den Fränkischen Volksfreund. Der erste Artikel für Die andere Zeitung, das Wochenblatt der Remilitarisierungsgegner, handelte von einem Traditionstreffen der Fallschirmjäger, auf dem nicht nur die erste Strophe des »Deutschlandliedes«, sondern auch »Die Fahne hoch« gesungen worden war. Der werdende Journalist flüchtete vor dem Gesang, wollte sich aus dem Saal entfernen, wurde aber festgehalten: Wenn er schon nicht mitsinge, habe er gefälligst stehenzubleiben und respektvoll zuzuhören. Im einem Schaukasten im Studentenhaus hängte er dann antimilitaristische Gedichte von Kästner und Tucholsky aus. Der Geschäftsführer des Studentenwerks ließ sie prompt entfernen. Von 1958 an setzte Köhler sein Studium in Berlin fort und verstärkte seine journalistische Arbeit. Von hier aus lieferte er auch kurze Meldungen an den Spiegel, zum Beispiel über Emil Dovifat, den Publizistik-Professor, der früher die Kriegsberichterstatter geschult hatte und jetzt die Studenten darüber belehrte, was sie vom Spiegel zu halten hätten: »Gosse«, »nicht mehr vereinbar mit akademischer Würde und Ehre«. Gelegentlich schrieb er für den Monat und für konkret (ohne zu wissen, daß die eine Zeitschrift vom US-Geheimdienst CIA, die andere von der DDR finanziert wurde). Im Rundfunk im amerikanischen Sektor (RiaS) rezensierte er alle vier Wochen Taschenbücher. Das Feuilleton der Zeit bot ihm eine Spalte für regelmäßige Hörfunk-Kritik. 1963 heuerte ihn die neugegründete Satire-Zeitschrift Pardon in Frankfurt am Main an. Allmonatlich präsentierte er dort den »Fall«, trug Buchrezensionen (»Sellerkiller«) und Pressekritiken bei. Ein Artikel über die Springer-Presse in Westberlin hatte 1966 einen Anruf des Spiegel zur Folge: Ob er bereit sei, zu einem Gespräch nach Hamburg zu kommen, per Flugzeug selbstverständlich. Augstein bot ihm an, sich allwöchentlich mit der bundesdeutschen Presse zu befassen. Dazu ein eigenes Arbeitszimmer und mehr als das Doppelte dessen, was Pardon zahlte. Es war die Erfüllung eines Traumes. »Ich ahnte nicht, daß ich das Feigenblatt war, das der Spiegel brauchte, nachdem er sich gerade zuvor mit Springer über die Herstellung des Blattes in dessen Ahrensburger Druckerei verständigt hatte. Ich wußte nicht, welche Leichen im Keller des Spiegel lagen, hatte keinerlei Hinweis darauf, daß ehemalige hohe Offiziere des Sicherheitsdienstes (SD) der SS dort Ressortleiter geworden waren. Und mir fehlten damals die notwendigen Kenntnisse, um durchschauen zu können, wie der Spiegel mit einigen seiner Serien die Nazi-Vergangenheit verfälscht hatte.« Otto Köhler und ich kennen uns sehr lange. Uns verbinden Erlebnisse vom Anfang der 1970er Jahre. 1971 wurde ich, kurz vorher zum Bundesvorsitzenden der Deutschen Journalisten-Union in der IG Druck und Papier gewählt, vom damaligen Verleger der Frankfurter Rundschau mit den Worten entlassen: »Ich mache die Rundschau, du machst die Gewerkschaft.« Otto Köhler, der sich sogleich in seiner Spiegel-Kolumne mit diesem Vorgang befassen wollte, mußte erleben, daß die Chefredaktion den Text unter anderem mit der Begründung verwarf, »das Selbstverständnis der Spiegel-Redaktion« sei »tangiert«. Bald darauf erhielt er selber die Kündigung. Eine »tragfähige Übereinstimmung über Thematik, Gestaltung und Kontinuität« der Kolumne, so erfuhr er aus dem Entlassungsschreiben, habe »zu keinem Zeitpunkt« seit 1966 bestanden. Augstein warf zugleich – auch zur Beschwichtigung großer Firmen, die sich unter Hinweis auf linke Tendenzen des Blattes an einem Anzeigenboykott beteiligt hatten – einige weitere Spiegel-Redakteure heraus, die sich gewerkschaftlich engagiert hatten. Ähnliches geschah in anderen Pressehäusern. Es begannen – auch finanziell – schwierige Zeiten für Otto Köhler. Zwar hatte er jetzt in der ganzen Branche den Ruf eines glänzenden Schreibers, und dieses Ansehen hatte drei gute Gründe: Er hielt sich an den Grundsatz, daß die Wahrheit konkret ist, er formulierte sie so deutlich wie möglich, und er ersparte den Tätern nie die Veröffentlichung ihrer erbärmlichen Selbstrechtfertigungen, womit er beachtliche Ideologiekritik leistete. Zwar gab es manches Blatt, das gern an seinem Ansehen partizipiert hätte. Aber ganz so konkret, ganz so deutlich, ganz so kritisch, wie er schrieb, mochten sie es doch lieber nicht veröffentlichen. Er arbeitete beispielsweise für den stern. Eine Serie von Porträts war vereinbart. Er lieferte einen Artikel über den furchtbaren Juristen Willi Geiger, der in der Nazi-Zeit Berufsverbote für Journalisten (»wenn ein Schriftleiter sich als Schädling an Staat und Volk erwiesen hat«) begründet und auch an Todesurteilen eines Sondergerichts mitgewirkt hatte und nun als Bundesverfassungsrichter in gleichem Sinne die Berufsverbote für sogenannte Verfassungsfeinde absegnete. Köhlers Text wurde vom späteren Chefredakteur Heiner Bremer so umgeschrieben und verharmlost, daß der Autor ihn nicht wiedererkannte. So erging es ihm auch bei der Zeit. Da war eine Geschichte über den Spiegel verabredet. Herausgeber Theo Sommer verhinderte ihr Erscheinen. Begründung: »Dasselbe kann man auch bei uns finden« – womit Sommer gewiß recht hatte. Nach einem Artikel über braune Tendenzen in der Hamburger Justiz setzte Chefredakteur Robert Leicht eine »Richtigstellung« ins Blatt, obwohl Köhler nichts Falsches geschrieben hatte. Falsch war die »Richtigstellung«. Solche Erfahrungen veranlaßten Köhler 1998, jegliche Arbeit für die Zeit einzustellen, nachdem ihm das Blatt auch Rechtsschutz gegen Verleumder von rechts verweigert hatte. Und sogar beim öffentlich-rechtlichen Norddeutschen Rundfunk waren die, die sich durch Köhlers Kritik bloßgestellt sahen, mit ihren Protesten erfolgreich, zum Beispiel die Konrad-Adenauer-Stiftung, deren Reinwaschungspublikationen über Hans Globke und Hans Filbinger er sorgfältig analysiert hatte. Der damalige NDR-Intendant Friedrich Wilhelm Räuker (CDU) erließ ein Beschäftigungsverbot, das er zwar nicht so genannt wissen wollte, aber so praktizierte. Und dabei blieb es. So verlor Otto Köhler immer mehr Veröffentlichungsmöglichkeiten. Der Ossietzky-Mitgründer und -Mitherausgeber kann brisante Ergebnisse seiner Erkundungen immerhin noch gelegentlich auf einer Doppelseite der Tageszeitung junge Welt ausbreiten. Daß ihm die großen Auflagen abhanden gekommen sind, ist ein Armutszeichen der bundesdeutschen Medien. Über Otto Köhler hat der Autor ausführlich in dem Sammelband »Engagierte Demokraten« geschrieben, herausgegeben von Claudia Fröhlich und Michael Kohlstruck, erschienen im Verlag Westfälisches Dampfboot.
Erschienen in Ossietzky 1/2010 |
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