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In zerlumpter Uniform, mit einem russischen Granatsplitter im Rücken, einer russischen Gefangenschaft knapp entkommen, nach zwei Wochen im amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Eger, in dem man nur durch nächtliche Lebensmitteldiebstähle überleben konnte, war ich zusammen mit 50 weiteren deutschen Kriegsgefangenen nach zwölfstündiger Fahrt – auf einem offenen amerikanischen Lastkraftwagen stehend – nachts in Kassel abgeladen worden. Im Kopf noch die überstandenen Todesängste der Fronteinsätze, die Erinnerung an gefallene Kameraden, die in ihrem kurzen Leben nie ein Gedicht von Heine gelesen, nie eine Symphonie von Mendelssohn gehört und nie mit einer Frau geschlafen haben. Und die Sorge um das unbekannte Schicksal von Angehörigen in der Sowjetischen Besatzungszone, zu denen es weder Post- noch Telefonverbindung gab. Und im Bauch ganz animalischer Hunger. Erste Eindrücke von einer durch Bombenangriffe zerstörten Stadt. Erste Begegnungen mit Menschen, die ebenso wie ich den Krieg mit viel Glück überlebt hatten und froh waren, daß die Hitlerei vorbei war. Erste Informationen über entsetzliche, zunächst kaum zu glaubende Verbrechen. Ich gehörte zu denen, die sich von Wolfgang Borcherts Drama »Draußen vor der Tür« und seinem Antikriegsmanifest »Dann gibt es nur eins! Sagt Nein!« angesprochen fühlten. Da tat sich eine andere Welt auf, in der es auch viel Not gab, aber die frei war von den menschenfeindlichen Zwängen des Militärs und seiner Tötungsmaschinerie. Unvorstellbar, daß eine Generation, die den Krieg erlebt und überlebt hatte, bereit sein könnte, Politikern die Macht zu übertragen, sie in neue Kriege zu führen. Aber offenbar hatten längst nicht alle Überlebenden des Zweiten Weltkriegs sich so radikal und nachhaltig von dem bis 1945 herrschenden Zeitgeist verabschiedet, wie es den damals 19-jährigen möglich war. Als die Westdeutschen ihren ersten Bundestag wählen durften, votierte die Mehrheit für einen Kanzler, der schon bald dafür sorgte, daß wir für den nächsten Krieg gerüstet waren. Und alle, die sich weigerten, die Ausbildung zum Töten mitzumachen, wurden in den zur Prüfung ihrer Gewissensgründe berufenen Gremien mit dem primitiven Denken der Militärfreunde konfrontiert, die nichts aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gelernt hatten. Oft genug habe ich erlebt, wie das Bekenntnis zum Pazifismus von Leuten belächelt wurde, die den jungen Kriegsdienstverweigerern allen Ernstes entgegenhielten, daß sie doch sicher von der Waffe Gebrauch machen würden, wenn sie beim Spaziergang im Bürgerpark überfallen würden oder wenn es gelte, die Freundin zu schützen. Als wir jungen Soldaten auf andere junge Soldaten geschossen und über einen brennenden russischen Panzer gejubelt haben, in dem Menschen lebendigen Leibes verbrannten, waren wir keine Spaziergänger im Park und haben keine Freundin beschützt, sondern waren von der Kriegspropaganda der Nazis benebelte, schießgeile Krieger, die erst viel später angefangen haben, darüber nachzudenken, was sie da getan hatten. Und ich bin einer von denen, die nachdenklich geblieben sind, wenn wieder Parolen von Verteidigung der Freiheit und anderen hehren Rechtsgütern verkündet werden, für die man in anderen Ländern Menschen töten und Häuser, Fabriken, Brücken, Fernsehsender und Tanklastwagen zerstören müsse. Aus der Schule habe ich noch die kriegerischen Verse im Ohr, die Altmeister Goethe in seinem »Faust« einen biederen Bürger sprechen läßt: »Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker aufeinander schlagen.« Die Zeiten sind vorbei, in denen Krieg etwas war, was in fernen Ländern stattfand. Wer die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen hat, weiß, daß der Krieg, den man fern der Heimat anzettelt, ins eigene Land zurückkommen kann. Als der Angriffskrieg im Osten begann, hatte die übergroße Mehrheit der Deutschen noch Hitlers Ankündigung verinnerlicht, daß es die Aufgabe ihrer Generation sei (ich zitiere aus »Mein Kampf«), »dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern«. Daß der Grund und Boden in Rußland und dessen Randstaaten zu holen sei, konnte man auch schon in diesem von Haß und Größenwahn diktierten Buch lesen. Aber Hitler war nicht allein, als seine verbrecherischen Pläne in die Tat umgesetzt wurden. Der zur Vergrößerung des deutschen Staatsgebiets begonnene Angriffskrieg, der Deutschland letztlich nicht größer, sondern kleiner gemacht hat, wäre nicht ohne Generäle möglich gewesen, deren Weisheit nicht ausreichte, das Ende vorauszusehen. Selbst wir Landser machten Witze über den von Hitler zum Reichsmarschall beförderten Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, der Meier heißen wollte, wenn feindliche Flugzeuge es schaffen würden, deutsche Städte zu bombardieren. Aber die große Mehrheit der von den Naziparolen verführten Mitläufergeneration war überrascht und empört, als der in ferne Länder getragene Krieg wirklich zurückkam und auch über deutsche Familien viel Leid brachte und mit zerbombten Städten und dem Verlust deutschen Landes endete. Die Menschen hatten blindlings auf das Verantwortungsbewußtsein und den militärischen Sachverstand von Leuten vertraut, die Politik und Soldatenhandwerk beruflich ausüben. Und sie hatten unter ständiger Berieselung mit der Freund-Feind-Propaganda der Nazis schnell vergessen, daß der als Terror bezeichneten Bombardierung deutscher Städte die Zerstörung von Warschau, Rotterdam und Coventry vorangegangen war. Auch was deutschen Menschen widerfuhr, als die Rote Armee ins deutsche Reichsgebiet vorrückte, wurde als Terror ohne Vorgeschichte angeklagt und erlebt. Ich hebe noch einen Tagesbefehl des Kommandierenden Generals unseres Panzerkorps vom 20. April 1945, dem letzten Geburtstag des sogenannten Führers, auf, einen Schreibmaschinendurchschlag auf hauchdünnem Papier, allen Soldaten des Bataillons bekanntzugeben: »Morgen tretet Ihr erneut zum Angriff gegen den Bolschewisten an, der, wenn auch unter sehr hohen Verlusten, wieder in unsere deutsche Heimat einbrechen konnte... Von jedem Einzelnen von Euch hängt es ab, ob die vormarschierenden Feindhorden zum Stehen gebracht werden. In Eurer Hand liegt das Schicksal von Millionen deutscher Frauen und Kinder.« So sieht der argumentative Teufelskreis der Militärfreunde aus. Was da fehlt, ist nur die Erkenntnis, daß sie die Situation, in der sie den Terror der anderen beklagen, selbst herbeigeführt haben. Und dann appellieren sie an die Bereitschaft junger Menschen, ihr Leben für einen Krieg einzusetzen, der nicht zu gewinnen ist und der nie hätte begonnen werden dürfen. Hauptsache, die Rechnung derer stimmt, für die Kriege ein profitables Geschäft sind. Es hat auch in Deutschland Menschen gegeben, die schon vor 1933 gewarnt haben: »Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.« Einen von ihnen, den auch bei politischen Gegnern hochgeachteten kommunistischen Bürgerschaftsabgeordneten Willi Meyer-Buer, habe ich 1963 vor dem Landgericht Bremen verteidigen müssen gegen die von einem ehemaligen Nazistaatsanwalt unterschriebene Anklage, er habe gegen das KPD-Verbot verstoßen, indem er sich öffentlich dazu bekannt hatte, Kommunist geblieben zu sein. Meyer-Buer war einer der relativ wenigen Kommunisten, die das große Morden des NS-Staates überlebt hatten. Er hatte als Widerstandskämpfer gegen die Hitler-Bande jahrelange KZ- und Zuchthaushaft erlitten und nach dem Krieg beim Wiederaufbau demokratischer Staatlichkeit allgemein anerkannte Arbeit geleistet. Aber nach der erneuten Machtübernahme des alten Personals in Staatsgewalt und Wirtschaft gehörten er und seine Genossen zu den ersten Opfern der von alten Nazis dominierten politischen Justiz der Adenauer-Ära. Denn er und seine Genossen waren wieder die engagiertesten Sprecher der unerwünschten Minderheit, die gegen die Remilitarisierung opponierten und die Verwicklung in neue Kriege voraussagten. Kommunisten wurden wieder zu Kriminellen gestempelt. Und im öffentlichen Bewußtsein wurde die Erinnerung getilgt, daß es Kommunisten waren, die im Widerstand gegen die Nazis und deren Kriegsvorbereitung die größten Opfer gebracht haben. Brok bilanziertZur Einstimmung auf die Afghanistan-Konferenz in London hat die Bundesregierung einmal mehr die hehren Ziele der deutschen Mission am Hindukusch beschworen: »Gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Sicherheit sowie wirtschaftliche und soziale Entwicklung« für das afghanische Volk. Da ist dann ein Massaker wie bei Kundus nur eine »Anekdote«, wie es der derzeitige NATO-Stabschef, ein deutscher General, genannt hat. Und um Klarheit über Sinn und Zweck des humanitären Einsatzes von »Nichtregierungsorganisationen« zu schaffen, ermahnte »Entwicklungshilfe«-Minister Dirk Niebel die zivilen Hilfswerke, enger mit dem Militär zu kooperieren – sonst müßten sie sich andere Geldgeber suchen als die deutsche Bundesregierung. Störend trat ein altgedienter CDU-Politiker auf, Elmar Brok, außenpolitischer Sprecher der konservativen Fraktion im Europäischen Parlament. »Wir sind an Afghanistan gescheitert«, sagte er der Presse. Die Regierung Karsai besitze keine Legitimität, die Sicherheitslage im Land sei katastrophal, die Drogenproduktion massiv angestiegen, die Bevölkerung erkenne als Ordnungsfaktor am ehesten die Taliban an. Der Westen müsse sich »von der Idee verabschieden, den Afghanen die Demokratie beibringen zu wollen«. Wenn der »kriegsähnliche« Feldzug nicht zu gewinnen sei, stelle sich die Frage nach dem Sinn des ganzen Unternehmens. Pazifistische Anwandlungen eines prominenten Christdemokraten? Nein. Aber Brok, langjähriger Manager der Firma Bertelsmann, versteht sich auf Kosten-Nutzen-Rechnungen. Er vergaß auch nicht zu erwähnen, daß es »die rot-grüne Bundesregierung war, die uns den Einsatz in Afghanistan eingebrockt hat«. Arno Klönne Eine Rehabilitierung der westdeutschen Justizopfer des kalten Krieges ist nie erfolgt, obwohl wir zwischenzeitlich einen der SPD angehörenden Bundeskanzler hatten, der aus eigener Anwaltserfahrung wußte oder wissen konnte, daß nicht nur in der DDR sondern auch in der Bundesrepublik Justizunrecht verübt worden ist. Ich habe Herrn Schröder vergeblich daran erinnert. Auch die Rehabilitierung der von der Nazi-Justiz verurteilten Deserteure, die den Mut gehabt hatten, sich Hitlers Krieg zu verweigern, hat Jahrzehnte auf sich warten lassen und ist für die meisten zu spät gekommen. Einer von ihnen ist der damals zum Tode verurteilte Ludwig Baumann, der nicht müde geworden ist, gegen dieses gesetzliche Unrecht zu kämpfen. Auch in unserer Zeit geben die Kriegsanstifter den Ton an und beherrschen über ihre Medien die hohlen Köpfe ihrer Mitläufer. Nach der Implosion des Sowjetimperiums haben sie flink ein neues Feindbild erfunden, den Terrorismus – natürlich den in aller Welt fluktuierenden Terrorismus, nicht etwa den eigenen. Wer überrascht war, daß am 11.September 2001 zwei Türme in Manhattan, die wirtschaftliche Weltmacht symbolisierten, zum Objekt eines Terroranschlags wurden, mußte vergessen haben, daß diesem Anschlag unzählige amerikanische Angriffskriege und Attentate vorangegangen waren, mit denen bestimmte Teile der Weltbevölkerung seit Jahrzehnten provoziert worden sind und weiterhin provoziert werden. Selbstverständlich immer im Zeichen von Freiheit und Demokratie. Wer Informationsbedarf hat, findet bei Google 22.800 Ergebnisse zu »amerikanischer Staatsterrorismus«, 37.700 zu »amerikanische Angriffskriege« und 13.700.000 zu »USA terror list«. Und wieder sind deutsche Soldaten in einen Krieg fern der Heimat involviert und ziehen die Gefahr auf ihr Land, daß der Krieg auch vor unserer Haustür stattfinden könnte. Es sind wohl noch nicht genug Särge zurückgekommen, um die Frage, wofür unsere Soldaten dort töten und sterben müssen, in einen neuen Massenkonsens »Nie wieder Krieg!« zu verwandeln. Schon nachdem die USA Anfang der 1990er Jahre unter Präsident Bush sen. den ersten Angriffskrieg gegen den Irak geführt hatten, zeichnete sich ab und ich schrieb es in meinen Memoiren (»Die Republik vor Gericht 1954–1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts«), daß es »vielleicht eine der letzten Möglichkeiten war, einen solchen Hinrichtungskrieg gegen einen hoffnungslos unterlegenen Gegner ohne die geringste Gefährdung der eigenen Bevölkerung zu führen. Wie lange wird es noch möglich sein, die weitere Verbreitung der Atomwaffen zu verhindern? Und auch die neue Kampfform kleiner Völker, sich gegen die Übermacht des Stärkeren durch Geiselnahmen und Terrorkommandos im Hinterland des Feindes zu wehren, scheint an Boden zu gewinnen. Spätestens dann, wenn deutsche Banken von Selbstmordkommandos gesprengt werden, wird man wohl auch bei uns begreifen, daß die Einmischung in Kriege, die irgendwo in der Welt vom Zaun gebrochen werden, nicht ohne Gefährdung des eigenen Wohlstands abgehen muß.« Als ich das schrieb, standen die Twin Towers noch. Was ich nicht vorausgesehen habe, war, daß es amerikanische und nicht deutsche Machtsymbole treffen würde; aber das kann ja noch kommen. Auch am Hindukush kann man die Freiheit nicht straflos verteidigen Welche enorme Veränderung des kollektiven Bewußtseins seit 1945 stattgefunden hat, kann wohl nur empfinden, wer das Damals erlebt hat. Längst ist die militärische Dressur zum Töten und die Austreibung des Gewissens wieder als Staatsbürgerpflicht akzeptiert. Längst ist vergessen, daß in Artikel 26 des Grundgesetzes Handlungen, die geeignet sind, die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, als verfassungswidrig zu bestrafen sind. Um nicht Leute wie Gerhard Schröder und Joseph Fischer wegen des Angriffskriegs gegen Jugoslawien anklagen zu müssen, flüchtete die amtierende Generalbundesanwältin zu der rabulistischen Gesetzesinterpretation, es sei ja nur die Vorbereitung, nicht aber die Führung eines Angriffskrieges verboten. Und sie amtiert tatsächlich noch immer. Einer der letzten Schritte auf diesem Entwicklungsweg war die Änderung des Sprachgebrauchs unserer Verteidigungsminister. Während der vorletzte sich noch scheute, vom Krieg in Afghanistan zu sprechen, erntet der neue Lob für sein Bekenntnis, daß wir uns bereits im Krieg befinden. Wie gut, wird mancher brave Bürger denken, daß wir diesmal nicht zu befürchten haben, daß deutsche Städte bombardiert und deutsches Land besetzt wird, weil der Krieg fern in Afghanistan stattfindet. Aber wie erstaunt und empört würde mancher die verschlafenen Augen öffnen, wenn der leichtfertig provozierte Gegenterror uns in Form von Anschlägen nach dem Muster der Nine-eleven-Attacke im eigenen Land heimsuchen sollte. Freilich höre ich für diesen Fall schon den Chor der Militärfreunde, daß die Terroranschläge aus heiterem Himmel gekommen seien und bewiesen, wie nötig es sei, den Terrorismus in aller Welt mit Waffengewalt zu bekämpfen. Und sie könnten sicher mit Volksvertretern rechnen, die noch mehr Volksvermögen für die Finanzierung von Kriegen bewilligen und noch mehr Soldaten in ferne Länder schicken würden. Der Teufelskreis des militärischen Gewaltdenkens beherrscht wieder das kollektive Bewußtsein, und die Konzerne verdienen an Rüstung, Zerstörung und Wiederaufbau Milliarden. Aber wie lange noch? In Kriegen wird regelmäßig das Recht des Stärkeren praktiziert. So hinterließen die Bomben auf Jugoslawien ein zerstörtes Land, ohne daß den Angreifern auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Aber wo sich die Aggressoren auf den Bodenkampf einließen, siegten doch mitunter die waffentechnisch weit unterlegenen Völker. Daß auch der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen ist, wissen außer den verantwortlichen Politikern und ihren Mitläufern wohl alle unabhängig denkenden Menschen. Und verlorene Kriege haben ihr Gutes. Sie lassen die Menschen über die Ursachen von Kriegen nachdenken. Nach den beiden verlorenen Weltkriegen des vorigen Jahrhunderts hat es lichte Momente des öffentlichen Bewußtseins gegeben, in denen selbst gemäßigt konservative Kreise die Zusammenhänge zwischen dem kapitalistischen Herrschaftssystem und der Entstehung von Kriegen erkannt und ausgesprochen haben. Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Chance, dieses Herrschaftssystem durch eine freiheitliche sozialistische Gesellschaftsordnung abzulösen, wie sie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vorschwebte, nur um ein Haar versäumt worden, wie man in Sebastian Haffners Buch über die verratene Revolution von 1918/19 lesen kann. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, diese charismatischen Friedenskämpfer der deutschen Arbeiterbewegung, die am 15. Januar 1919 von reaktionären Offizieren im Einvernehmen mit der damaligen SPD-Führung ermordet wurden, hätten mit Sicherheit einem anderen Sozialismus als dem von Stalin und seinen Anbetern realisierten den Weg bereitet. Und nach dem Zweiten Weltkrieg reichte die Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem bekanntlich bis ins Ahlener Parteiprogramm der CDU, wo eine soziale und wirtschaftliche Neuordnung gefordert wurde, deren Inhalt und Ziel nicht mehr »das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben« sein könne. Doch diese Entwicklung wurde schon in ihren Anfängen erstickt, als der kalte Krieg die antikommunistische Feldzugsbereitschaft der Nazizeit wieder auferstehen ließ und deren Exponenten wieder in Machtpositionen in Staat und Wirtschaft katapultierte. Ein weiterer verlorener Krieg gab dem Widerstand gegen das kapitalistische System erneut Auftrieb, als unter dem Eindruck der Kriegsverbrechen und der Niederlage der amerikanischen Interventionstruppen in Vietnam die sozialrevolutionäre Bewegung der 1960er Jahre entstand. Vielleicht könnte das Desaster, mit dem die Kriege im Irak und in Afghanistan aller Voraussicht nach enden werden, selbst dann, wenn uns der Gegenterror vor der eigenen Haustür erspart bleiben sollte, auch in unserem Land zum erneuten Nachdenken über die Kriegsträchtigkeit des kapitalistischen Systems und zum Widerstand gegen die herrschende Militärdoktrin führen. Unsere Aufgabe ist es, den Widerspruch gegen den herrschenden Zeitgeist und das Nachdenken über die Ursachen von Kriegen und deren Abschaffung wachzuhalten. Der Text basiert auf einer Rede, die der Autor im Dezember im Bremer Friedenskulturzentrum Villa Ichon gehalten hat.
Erschienen in Ossietzky 1/2010 |
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