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Doch es gibt – in der Regel nicht im Programm – auch Orte, die ein anderes Vietnam zeigen, das leidende und kämpfende und schließlich siegreiche Vietnam unter der französischen Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert bis 1954 und dann während des US-amerikanischen Vietnamkrieges bis 1975. Von diesem Vietnam soll hier die Rede sein. Vor 40 Jahren ging der Name eines kleinen Dorfes in Zentralvietnam um die Welt: My Lai. Damals wurde bekannt, was der oberste US-Militär in Vietnam, General Westmoreland, zunächst als großartigen Sieg über den Feind (»128 Feinde wurden getötet, 13 Verdächtige festgenommen«, Zivilisten kamen demnach nicht zu Schaden) gefeiert hatte und was dann vertuscht worden war: Mehr als anderthalb Jahre zuvor war in diesem Dorf ein bis dahin unvorstellbares Verbrechen geschehen. Am 16. März 1968 hatten drei Kompanien eines amerikanischen Elitebataillons My Lai niedergebrannt und die Bewohner, ausnahmslos Zivilisten, grausam ermordet. In einem »Haus der Beweise« sind jetzt auf einer Ehrentafel die Namen der 504 Ermordeten festgehalten, und das damalige Massaker wird mit Hilfe von Fotos, Zeugenaussagen, Kleidungsstücken ermordeter Kinder und sonstigen Fundstücken aus den abgebrannten Häusern eindrucksvoll dokumentiert. Die Bilder stammen von dem Armee-Bildreporter Ronald Haeberle und die Texte von dem Reporter Jay Roberts, die sie zur Veröffentlichung der New York Times und dem Life magazin zur Verfügung gestellt hatten. Augenzeuge Roberts berichtet: »Da war noch ein winziger Junge, der hatte nur ein Hemdchen an und sonst nichts. Er kam über tote Körper gekrabbelt und hielt noch die Hand einer Toten fest, wahrscheinlich seiner Mama. Einer der GIs hinter mir ließ sich in eine kniende Position nieder, dreißig Meter von diesem Kleinen entfernt, und tötete ihn mit einem einzigen Schuß.« Ein Foto seines Kollegen Haeberle zeigt einen Mörder, wie er von seinem Vorgesetzten mit einer Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet wird. Leutnant William Calley war der einzige Beteiligte, der später angeklagt und 1971 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Doch er saß keinen einzigen Tag im Gefängnis, denn ein anderer Verbrecher, Präsident Richard Nixon, verfügte unmittelbar nach dem Urteil Hausarrest für ihn, bis er 1974 freigesprochen wurde. Die Gründe dafür fand der Richter im Alten Testament in Josua 6: Dort stehe nichts von einer Bestrafung Josuas, der Jericho eingenommen und alle Einwohner hatte ermorden lassen. Ein anderes Massaker ist in dem alten Kolonialgefängnis (»Maison Centrale«) der Franzosen in Hanoi dokumentiert, in dem bis 1973 abgeschossene amerikanische Piloten gefangengehalten wurden. Sie sind auf vielen Fotos beim Volleyball- und Basketballspielen, beim Gottesdienst und bei anderen Geselligkeiten zu sehen, unter ihnen der letztjährige republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain bei einer medizinischen Untersuchung nach seiner Gefangennahme 1967 und bei einem Besuch in diesem Gefängnis 33 Jahre später. Etwa 30 der Gefangenen waren am »Weihnachtsbombardement 1972« beteiligt gewesen. In einem Film erlebt man mit, wie ein Viertel Hanois zerstört wurde. Fast 4000 Zivilisten wurden getötet oder verwundet. Auf einem Foto sieht der Besucher auch die dafür politisch Verantwortlichen im Kriegskabinett: Nixon, der Präsident, und Henry Kissinger, sein Sicherheitsberater. Der Weihnachtsterror war wohl der letzte Versuch, Vietnam »in die Steinzeit zurückzubomben«, wie General Curtis Le-May das Kriegsziel beschrieben hatte. Für einen solchen Sieg wurden gerade zu Weihnachten alle Kräfte mobilisiert, wobei die Kirchen nicht fehlen durften. So erklärte der Erzbischof von New York, Kardinal Francis Spellman, in seiner Heiligabendpredigt 1966 in Saigon vor 500 amerikanischen Offizieren mit General Westmoreland an der Spitze: »Ich glaube, daß der Krieg in Vietnam ein Krieg zur Verteidigung der Zivilisation ist«, und er schloß mit dem Satz: »Amerika ist der barmherzige Samariter aller Völker.« In den Weihnachtsgottesdiensten der folgenden Jahre, 1967 und 1968, war es der Baptistenpfarrer und Kriegsberater allen Präsidenten von Eisenhower bis Bush sen., Billy Graham, der die US-Soldaten zum Weiterkämpfen antrieb. Beide Geistlichen, Spellman und Graham, machten sich mitschuldig an den Verbrechen am vietnamesischen Volk. Diese Verbrechen finden sich heute am umfangreichsten im »Kriegsreliktemuseum« in Ho-Chi-Minh-Stadt dokumentiert. Dort erfährt der Besucher, wie die Amerikaner 1964 einen Vorwand erfanden, den »Tonking-Zwischenfall«, um endlich den seit langem geplanten Krieg gegen den Norden des geteilten Landes beginnen zu können; er erfährt, daß ihre Angriffe zu 52 Prozent der Infrastruktur und zu 31 Prozent der Zivilbevölkerung galten; drei Millionen Zivilisten wurden getötet und vier Millionen verletzt. Er erfährt auch, daß weite Teile des Landes bis heute durch Giftgas (»Agent orange«) und Napalm verseucht sind und dadurch das Erbgut vieler Menschen geschädigt wurde, so daß jetzt eine Million Erwachsene und 150.000 Kinder unter Krankheiten und Mißbildungen leiden. Die Überlebenden haben bis heute keine Entschädigung erhalten. Ein amerikanisches Gericht begründete die Ablehnung so: »Der Zusammenhang von Agent Orange und den Behinderungen ist nicht nachzuweisen.« Und: »Das Gift ist nicht gezielt gegen Menschen eingesetzt worden!« In einem anderen Raum der Gedenkstätte wird die »internationale Unterstützung für das vietnamesische Volk in seinem Widerstandskrieg« gezeigt. Diese Unterstützung war weltweit. Aus Westdeutschland stammt ein Bild von einer Demonstration am 21. Juni 1970 in Hamburg mit einem großen Transparent »SDAJ fordert Solidarität gegen US-Imperialismus«. Im Mittelpunkt des Raumes befindet sich eine Stellwand mit vier großen Plakaten, die »Unsere Solidarität mit Vietnam« bekunden. Sie stammen aus der DDR. Die Regierenden der BRD dagegen, vor allem die Bundeskanzler Erhard und Kiesinger (beide CDU), erwiesen sich als die treuesten Vasallen der amerikanischen Vietnampolitik. Erhard schickte 1966 das Lazarettschiff »Helgoland« in die US-Militärfestung Da Nang. Ende desselben Jahres versprach Kiesinger, die Bundesrepublik werde »entschiedener als bisher Mitverantwortung in Vietnam übernehmen« (übernahm sie damit auch Mithaftung für die immensen Schäden?) und bekräftigte diese Haltung am 21. August 1967: »Wir würdigen die Anstrengungen Amerikas für die Erhaltung der Freiheit und des Friedens in der Welt ... Wir sind weitab davon – wie es doch vielfach in der Welt geschieht –, als Regierung der Bundesrepublik die amerikanische Politik in Vietnam zu kritisieren ...« Auch sein Nachfolger Willy Brandt (SPD) hielt auf seiner ersten Pressekonferenz als Bundeskanzler am 29. November 1969 daran fest, keine Kritik an den USA zu üben. Von dem Korrespondenten der New York Times gefragt, ob er sich zu dem gerade bekannt gewordenen Massaker in My Lai äußern wolle, antwortete er »Nein«, fügte dann aber hinzu: Als Privatmann wüßte er wohl, »was zu sagen wäre«, als Bundeskanzler aber habe er sich »entschlossen, nicht ungebetene Kommentare der Regierung zu geben«. Das war dann auch die Sprachregelung, an die sich das bundesdeutsche Establishments in der Folgezeit hielt. Ein Beispiel dafür: Der Landesbischof der größten westdeutschen Landeskirche, Hanns Lilje (Hannover), bekundete 1968 großes Verständnis für die Absicht der Amerikaner, in Vietnam zu bleiben, weil dadurch eine »gewisse Garantie für das politische Gleichgewicht im Fernen Osten gegeben« sei. Als zwei Jahre später Pastoren seiner Landeskirche gegen das Massaker in My Lai protestierten (»Du sollst nicht töten«), bestellte er sie in die Bischofskanzlei und drohte ihnen bei weiterem Protest Disziplinarmaßnahmen an, »weil die Amerikaner in Vietnam unsere Freiheit verteidigen«. Für die heutige Afghanistan-Politik wären aus den damaligen Erfahrungen manche Lehren zu ziehen. Und wenn heutzutage oft Vergleiche zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik gezogen werden, dann sollten um der historischen Redlichkeit willen die jeweiligen Haltungen zu den amerikanischen Terrormaßnahmen in Vietnam einbezogen werden wie auch die Haltungen zur südafrikanischen Apartheid-Politik und zum faschistischen Pinochet-Regime in Chile – auch und gerade wenn der übrig gebliebene der beiden Staaten dabei nicht gut wegkommt.
Erschienen in Ossietzky 25/2009 |
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