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Anhand dieser Akten konnten Rebecca Schwoch und ein Kollektiv des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf mit großer Mühe und Akribie Namen und biographische Daten der Verfolgten zusammenstellen. Sie suchten nach Überlebenden, Kindern und Enkeln und nutzten deren Wissen. Vor einigen Tagen ist nun im Verlag Hentrich & Hentrich das Gedenkbuch »Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus« erschienen. Auf fast 1000 Seiten beschreibt die Autorin das Schicksal von 2018 jüdischen Kassenärztinnen und -ärzten. Auf Seite 880 steht Dr. med. Else Weil, die erste Ehefrau von Kurt Tucholsky – seine »Claire«, die er in der Erzählung »Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte« beschrieb. Sie ist Legende geworden für alle, die sich von Tucholskys Geschichte bezaubern lassen. Gemessen an den Hunderten weniger bekannten Ärzten wissen wir viel von ihr. Die Germanistin Sunhild Pflug hat ihr ein Büchlein in der Reihe »Jüdische Miniaturen« bei Hentrich & Hentrich gewidmet. Else Weil: Geboren am 19. Juni 1898 in Berlin als Tochter des Kaufmanns Siegmund Weil und der Lehrerin Franziska Weil. Studium der Philosophie und der Medizin in Berlin. Approbation 1917, Dissertation 1918. 1918 bis 1920 Assistenzärztin in der Charité, 1920 bis 1932 niedergelassene Ärztin. Zeitweise Mitarbeiterin in der renommierten Privatklinik des Gynäkologen Dr. Benno Hallauer am Schiffbauerdamm. November 1932 bis März 1933 Ärztin im Städtischen Krankenhaus Berlin-Friedrichshain. Am 3. Mai 1920 heiratete sie Dr. jur. Kurt Tucholsky, mit dem sie in Berlin-Friedenau, Kaiserdamm 79, wohnte, wo sie auch ihre erste Praxis unterhielt. Pflug beschreibt sie so: »Sie bezauberte nicht nur durch ihre sinnlich starke Ausstrahlung, sondern war klug, gewitzt und nicht auf den Mund gefallen – eine echte ›Berliner Beere‹, die, wie Tucholsky sie besang, unkompliziert und lebensfroh daherkam.« Wegen Tucholskys Liebeseskapaden trennte sie sich 1922 von ihm, 1924 wurden sie geschieden. Noch bis 1933 war Dr. Weil im Reichsmedizinkalender unter dem Namen Tucholsky verzeichnet, ab 1935 wieder als Dr. Else Weil. Als Medizinerin hatte sie einen guten Ruf. Hallauer bescheinigte ihr gründliche Vorbildung, ausgezeichnete Kenntnisse und Erfahrungen, besondere ärztliche Begabung und überdurchschnittliche Leistung. Nach Beginn der Naziherrschaft teilte Else Weil das Schicksal ihrer jüdischen Kollegen: am 25. März 1933 Entlassung aus dem Krankenhaus Friedrichshain, im Dezember 1933 Entzug der Kassenzulassung, am 30. September 1938 »Erlöschen« der Approbation. Weils weiteren Weg rekonstruierten Sunhild Pflug und Peter Böthig vom Kurt Tucholsky Literaturmuseum Rheinsberg nach spärlichen schriftlichen und mündlichen Quellen. Zunächst fand sie Aufnahme bei der befreundeten Familie Hilde und Ludwig Hoffnung in Berlin-Grunewald als Kinderfrau. Die Hoffnungs emigrierten 1938 nach England. Weil ging vermutlich im Oktober 1938 illegal nach Holland, später nach Paris, wo sie sich mit dem ebenfalls emigrierten Chemiker Friedrich Epstein verband. Nach der deutschen Okkupation suchte sie mit Epstein Rettung in Südfrankreich, wurde interniert, freigelassen, wieder interniert, nach Auschwitz deportiert und in der Gaskammer ermordet. Ein Jahr später geschah Epstein das gleiche. Wie bei fast allen ermordeten Juden gibt es keinen Nachlaß, denn auch die Bekannten, die etwas zur Aufbewahrung übernommen hatten, wurden zum großen Teil vertrieben oder ermordet. Oder gewissenhafte Finanzbeamte beschlagnahmten ihre Habe und versteigerten sie an »arische« Deutsche. Wie mir Sunhild Pflug mitteilte, hatte möglicherweise Elses Bruder Kurt Sachen von ihr in seinem Gepäck, als er 1939 nach England emigrierte. An der Grenze beschlagnahmt – verloren. Seit September 2008 werden die Namen der 2018 Ärzte auf einer elektronischen Gedenktafel am Gebäude der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin in der Masurenallee permanent projiziert. Für den Initiator des Forschungsprojekts, den Vorsitzenden des Bundesverbandes Jüdischer Ärzte, Dr. med. Roman Skoblo, erfüllen sich damit ein religiöses Gebot jüdischer Menschen und ein humanistisches Anliegen: »Unseren Kollegen sind endlich ihre Namen wiedergegeben, und uns sind die Namen der Kollegen wiedergegeben worden.« Alles erledigt? Für Skoblo ist das Namhaftmachen der Täter nicht weniger wichtig als die Nennung der Opfer. Wie Schwoch nachweist, waren »arische« Ärzte unter dem Schirm der Berliner Kassenärztlichen Vereinigung die Profiteure, die ihre jüdischen Kollegen entrechteten, ins Exil und in den Tod trieben. Sie übernahmen das Betätigungsfeld der lästigen Konkurrenz. Noch nicht aufgearbeitet ist das wissenschaftliche Erbe der jüdischen Wissenschaftler und Forscher. Skoblo: »Unter den verbliebenen nichtjüdischen Kollegen verbreitete sich ein großes Schweigen – ein geschäftiges, fleißiges. Große Namen in der Medizin Deutschlands hatten sich unbemerkt der Leistungen bemächtigt, die ihnen nicht zustanden. Mit diesen Leistungen verschwanden Karteien, Dateien – ein weiteres Nachkriegsverbrechen nach diesem großen Zivilisationsbruch.« Im siebten Jahrzehnt nach der Befreiung vom Faschismus hilft jedoch auch kein Wirkungsverstärker, um mit dem Tempo der »Aufarbeitung der SED-Diktatur« gleichzuziehen. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Täter tot. Was erinnert in Deutschland – außer der erwähnten elektronischen Gedenktafel – an die verfolgten Mediziner? Noch ist in Berlin kein Stolperstein für Else Weil verlegt. Auf Seite 377 des Gedenkbuchs begegnet dem Leser auch Dr. med. Hermann Horwitz. Er war viele Jahre Mannschaftsarzt des renommierten Berliner Fußballklubs Hertha BSC (s. Ossietzky 12/09). 1935 wurde ihm gekündigt. Er praktizierte weiter als Allgemeinpraktiker, nach dem Entzug der Approbation als »Krankenbehandler«. Im April 1943 wurde er zum Reichsfeind erklärt, enteignet, verhaftet und in Auschwitz ermordet. Funktionäre und Mitglieder von Hertha BSC stellten sich nicht nur nicht schützend vor ihren Arzt, sondern einige denunzierten einander wegen »zu freundlichen Umgangs« mit ihm. Hertha BSC verfügt heute über das Olympiastadion und einen Millionenetat. Um eine Gedenktafel für Hermann Horwitz hat sich noch keiner gekümmert. Rebecca Schwoch (Hg): »Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch«, Verlag Hentrich und Hentrich, 973 Seiten, 38.50 €; Judith Hahn und Rebecca Schwoch: »Anpassung und Ausschaltung. Die Berliner Kassenärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus«, Verlag Hentrich und Hentrich, 227 Seiten, 19.50 €
Erschienen in Ossietzky 24/2009 |
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