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Pro Studienjahr gilt es 60 »Credit-Points« genannte Leistungspunkte zu erwerben; diese entsprechen einem »Workload« genannten Aufkommen von 1.800 Arbeitsstunden, so daß ein Studienjahr jetzt 45 Arbeitswochen à 40 Stunden umfaßt. Es verbleibt der Anspruch auf einen siebenwöchigen Jahresurlaub. Diese Denkweise setzt den Vollzeitstudenten voraus, der ohne Brot-Jobs und Nebentätigkeiten auskommt – Voraussetzungen, die nur einer Minderheit der Studierenden vergönnt sind. Von daher ist es ein realitätsfremdes Konzept. Viele Studierende klagen über die Zumutungen eines ganz normalen Arbeitnehmer-Alltags, denen das BA-Studium sie aussetzt. In der Tat: Das Creditpoints- und Workload-Denken lehrt das Studium wie einen Acht-Stunden-Bürotag zu verstehen; um 17 Uhr fällt der Griffel, und das Büffeln hat ein Ende. Dieses Denken stiftet lebenslange Lust auf Erkenntnis nicht an, sondern tötet sie eher ab. In Ihrem Protest sprechen Sie mit der Parole »Keine geistige Lehre, nur fleißiger Leerlauf« diesen Punkt an. Viele Studierende klagen über die verschärfte Gangart des von acht auf sechs Semester verkürzten Studiums. Ich sehe in der Steigerung des Tempodrucks bis hin zur Abschaffung von Pausen Herrschaftsmethoden. Man nimmt den Studierenden die Zeit zum Nachdenken. In Ihrem Protest sprechen Sie mit der Parole »Adornos Dialektik verträgt keine Hektik« diesen Punkt an. Viele Studierende beklagen die permanente Gängelung im Studium. Dauerkontrolle durch Anwesenheitspflicht und ein allumfassendes Klausurensystem sind ebenfalls herrschaftliche Mittel und Wege, um Versagensängste wachzuhalten, denn verängstigte Studierende sind leichter zu steuern als selbstbewußte. In Ihrem Protest sprechen Sie mit der Parole »Leistungsfrust statt Studienlust« diesen Punkt an. Jetzt möchte ich auf eine merkwürdige Parallele hinweisen: Die Bologna-Reformen in den Hochschulen und die Hartz-IV-Reformen des Sozialstaates in Deutschland wurden ungefähr zur gleichen Zeit eingeleitet und gesetzlich verankert. Beide Prozesse haben eine gemeinsame Grundlage: Sie basieren auf einem pessimistischen Menschenbild. Sowohl dem Arbeitslosen als auch dem Studierwilligen traut man nichts Gutes zu. Man tut so, als suchten die Arbeitslosen keine Arbeit, sondern seien allesamt arbeitsscheue Subjekte und Transferleistungsabgreifer, die es sich in der sogenannten sozialen Hängematte bequem machen möchten. Darum müsse man sie zur Arbeit zwingen – durch Nachweispflichten, durch materiellen Druck, durch ständiges Nachkontrollieren, also durch Fremdzwang und Fremdkontrolle. Und das bei einem Arbeitsmarkt, der kaum neue Arbeitsplätze hergibt! Ganz ähnlich werden die Studierenden gesehen. Man tut so, als hätten die Studierwilligen gar kein Interesse daran zu studieren und würden das Studium – wenn es allein nach ihnen ginge – erst verbummeln, dann abbrechen und somit Unmengen von Steuergeldern verschleudern. Also bewegt man sie dazu, den Ernst der Lage zu erkennen: indem man sie, erstens, mit Studiengebühren zur Kasse bittet und zu einer finanziellen Vorleistung zwingt; indem man, zweitens, das Studium stark verschult und, drittens, den Verlauf rigoros kontrolliert und Überschreitungen der Mindeststudienzeit an den Pranger stellt. Alles von außen, alles von oben, alles oktroyiert, jedenfalls aus der Sicht der Studierenden. Dieses Mißtrauen gegenüber der Selbstverantwortung studierwilliger Erwachsener; diese vorsätzliche Deckelung, wenn nicht gar Zerstörung von intrinsischer Motivation sind das »Kapital«-Verbrechen an der jungen Generation. Mit der womöglich üblen Konsequenz, daß dieses Zwangs- und Kontrollsystem genau jene Gleichgültigen, Desinteressierten und Drückeberger hervorbringt, die es angeblich verhindern will. Insgesamt hat sich der Charakter des Hochschulstudiums im Bologna-Prozeß radikal verändert. Das Studium ist zum ersten Hauptberuf im Leben junger Menschen geworden. Noch für meine Generation war das Studium Teil eines psycho-sozialen Moratoriums, das die Lebensphase der Post-Adoleszenz prägte. Bildung und Studium wurden von uns als Bausteine eines selbstbestimmten Lebens verstanden, Holzwege und Sackgassen inbegriffen. Heute wird das »verschlankte«, »effiziente« und »geradlinig modulierte« Studium lediglich als eine Investition in die berufliche Zukunft betrachtet. Soviel zur Situation der Studierenden. Die Situation der Lehrenden beschreibt der Frankfurter Kollege Tilman Allert folgendermaßen, ich paraphrasiere: Papierberge aus Modulentwürfen, Zielvereinbarungen, Akkreditierungs- und, kaum daß ein Jahrgang durchgelaufen ist, Reakkreditierungsanträgen (adressiert an zum Teil fragwürdige »Akkreditierungsagenturen«), Berge an Qualitätskontrollberichten und Evaluierungsformularen überziehen diejenigen Berufe, in deren Zentrum einmal die geschützte Vertrauensbeziehung gegenüber Schülern und Studenten, Patienten und Klienten, Mandanten und Probanden stand. Dieser Überhang an lehr- und forschungsfremdem Bürokram läßt den Anteil des Dienstes, der Bildung, Sorge und Anteilnahme umfaßt und der als Versprechen dem Beruf zugrunde liegt, auf ein Minimum schrumpfen. Für Hebammen wird das Schreiben des Geburtsprotokolls wichtiger und zeitaufwendiger als die persönliche Begleitung der Gebärenden. Hochschullehrer zerbrechen sich stundenlang den Kopf über den Workload einer zwanzigseitigen Luhmann-Lektüre, der in einer Zahl mit zwei Stellen hinter dem Komma anzugeben ist (s. Tilman Allert: »Die Sorge hat keine Adresse mehr« in FAZ, 19.8.09). Das heißt doch: Das Sekundäre wird primär und das Primäre wird sekundär oder muß einfach aus Zeitgründen vernachlässigt werden. Diese Verkehrung der Prioritäten bringt mich selber immer wieder an den Rand der Verzweiflung, weil ich eine vorsätzliche Verblödung meiner selbst als akademischer Lehrer und Wissenschaftler unerträglich finde. In dem »Bologna-Reader« genannten Buch der Hochschulrektorenkonferenz, erschienen 2004, ist unter anderem von der »Employability« der Studierenden die Rede, von »paßgenauem Hochschulmanagement« und von den »Qualifikations-Erfordernissen« eines »wissensbasierten Wirtschaftsraums Europa«. An keiner Stelle geht es um den Geist, der nach Bildung verlangt. »Nirgends ist davon die Rede, daß Wissen, Erkenntnis und Klugheit Werte sind, die man um ihrer selbst willen erstrebt und liebt … Das ganze Buch durchweht der Geist eines tristen Materialismus und Utilitarismus. Studium ist Berufsausbildung, gelernt wird für einen bestimmten Zweck, Wissen muß sich auszahlen, alles andere ist schöngeistiger Humbug: Das ist die ... Dogmatik, die jetzt die Universitäten reguliert« (Marius Reiser: »Warum ich meinen Lehrstuhl räume« in FAZ, 14.1.09). Aus der Hochschule als einer Bildungsgelegenheit für ihre lernenden und lehrenden Mitglieder ist eine Lernfabrik geworden, geleitet von Professoren als Lehrherren mit einem Schwerpunkt auf Managementaufgaben (vgl. Jürgen Mittelstraß: »Wie die Lust an der Wissenschaft ausgetrieben wird« in FAZ, 20.8.09). So weit, so schlecht. Aber was hat das alles mit Robert Enke zu tun, der einige Jahre hier in Mönchengladbach das Bundesligator hütete? Der Profifußball ist ein gutes Spiegelbild unserer Gesellschaft. Im Profifußball kommt die Ideologie des kapitalistischen Wirtschaftssystems besonders kraß zum Ausdruck – und eben auch, was das System aus den Menschen macht, die ihm unterworfen sind. Im Profifußball herrscht brutale Leistungsauslese. Jeder muß immer und überall das Leistungsmaximum bringen. Jeder muß jederzeit fürchten, ersetzt zu werden; denn der Jüngere, Fittere, Stärkere, auch: Intrigantere lauert schon im Hintergrund und wittert seine Chance. Die permanente Rotation, die tägliche Besten-Auslese, das Benchmarking als perpetuum mobile, das keine Schwächen, keine Krankheiten, keine menschlichen Fehler verzeiht – ist es nicht das, worauf uns der Fall Enke hinweist? Muß nicht ein solches System Menschen wie Robert Enke, die sensibler und verletzbarer sind als andere, in die Ecke treiben, depressiv machen und schließlich »auslesen«, das heißt: vernichten? Und ist es nicht genau dieses Prinzip, das wir im größeren gesellschaftlichen Zusammenhang erleben, wenn bei denen, die in der glücklichen Lage sind, einen Job zu haben, die Taktzeiten verdichtet und die Arbeitsintensität erhöht werden, während auf der anderen Seite das Heer der Langzeitarbeitslosen mit dem Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens zu kämpfen hat? Robert Enkes Selbsttötung stellt Fragen, die weit über den Fußball hinaus und ins Verhältnis von Arbeitswelt und Menschlichkeit hineinreichen. Oder in unserem Fall ins Verhältnis von Studienalltag und Menschlichkeit. Auch im BA-Studium werden die Taktzeiten verdichtet und die Workloads erhöht. Auch im BA-Studium erdrückt Fremdbestimmung die Selbstbestimmung der Studierenden. Auch im BA-Studium kann ein dreimaliges krankheitsbedingtes Fehlen dazu führen, das man ein komplettes Seminar in einem der nächsten Semester wiederholen muß, mit allen Konsequenzen, die damit verbunden sind: Studienzeitverlängerung, weitere Studiengebühren und erhöhter Schuldenstand als Hypothek für den Start ins ohnehin prekäre Berufsleben. Wenn wir dem Leiter der psychosozialen Beratungsstelle unserer Hochschule glauben dürfen, dann hat sich die Zahl der Studierenden mit ernsthaften psychischen Problemen nach der Einführung des Bachelor-Systems deutlich erhöht. Könnte es sein, daß die weniger Robusten unter unseren Studierenden es nunmehr schwerer haben als noch unter Diplom-Bedingungen? Soll man vom Krankheitsbild einer »Bologna-Depression« sprechen? Klaus Hansen lehrt an der Fachhochschule Niederrhein
Erschienen in Ossietzky 24/2009 |
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