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Daran knüpfte er den Vorschlag, der Verlag möge »den Verfassern unserer Schulliteraturgeschichten ein Exemplar dedizieren«, damit die nicht sagen könnten, sie kennten den Mann und sein Erbe nicht. Ob Rowohlt so verfahren ist oder ob er es als sinnlos angesehen hat, weil die Verfasser der Lehrbücher 1960 nicht selten die gleichen waren wie 1940, sei dahingestellt. Inzwischen ist Tucholsky in Schulbüchern der Bundesrepublik und in Publikationen, die ergänzend für die Hand von Schülern bestimmt sind, angekommen. Diese Nachricht hätte einen Mann wohl angenehm berührt, der im Verlauf seines Lebens mehr als 500 Buchkritiken schrieb und sich auch dieser Spezies der Literatur mehrfach kritisch zuwandte, weil er aus ihr stärker noch als aus anderen Gattungen Folgen erwachsen sah. Tucholsky erinnerte sich an »die bewußte Hetze zum Staatsmord in Schule, Universität und Kirche«, die dem August 1914 vorausgegangen war. Er kritisierte in der Republik von Weimar: »Man sehe sich an, wie dieser Krieg in den deutschen Schulbüchern auf die junge Generation kommt; wie da mit klaren und eindeutigen Lügen gearbeitet wird; wie auch nicht in einem die schwere Mitschuld Deutschlands zugegeben wird. Nun ist das Schulbuch zwar nicht mehr das, was es uns in unsrer Jugend gewesen ist – aber seine Wirkung ist noch schrecklich genug. So ist der vorige Krieg vorbereitet worden; so wird der nächste vorbereitet.« Und auf einen Brief eines deutschen Studienrates antwortete er 1926 in der Vossischen Zeitung so: »Es gibt in Frankreich nationalistische Schulbücher: Lesebücher mit nationalistischen Erzählungen, Geschichtsbücher, die mehr als nötig den gesamten Plunder an Kriegstaten und Daten, bezopften Dynastiehistorien, von Geschichten vom bösen Feind und dem guten lieben Vaterland enthalten.« Doch bildeten diese, soweit er das habe nachprüfen können, nicht die Mehrheit. Aber selbst wenn an Frankreichs Schulen die nationalistische Verhetzung in größerem Ausmaß vor sich gehe, als ihm bekannt, müßte sie doch scheitern – »an dem durchaus friedlichen Gesamtgeist der Bourgeoisie«. Kurzum: Dieser Mann trat für Schulbücher ein, die Verständigung und Friedfertigkeit lehrten. Und deshalb soll einmal gefragt werden, wie es unsere Schulen mit dem Radikalpazifisten halten, und dabei wollen wir uns mit der bloßen Feststellung seiner Anwesenheit nicht begnügen, sondern sehen, welcher Tucholsky sich dort antreffen läßt. In Schulbüchern, herausgegeben in den Jahren 1986, 1994, 1995, 1998, 1999, 2000, 2006 von einschlägigen Verlagen in Paderborn (Schöningh), Hannover (Schroedel), München (Oldenbourg), Frankfurt am Main (Diesterweg) und bestimmt für den Gebrauch in den achten bis zehnte Klassen, lassen sich die Gedichte »Augen in der Großstadt«, »Wo kommen die Löcher im Käse her«, »Ehekrach«, die Anekdote »Der Floh« sowie die Texte »Kreuzworträtsel mit Gewalt«, »Wo lesen wir unsere Bücher« und »Herr Wendriner erzieht seine Kinder« lesen; in einer deutschen Literaturgeschichte für Schülerhand findet sich der den »Führer« entlarvende Vergleich »Hitler und Goethe«. Die Durchmusterung dieser Auswahl läßt fragen: Wo ist da der »gefürchtete Sozialkritiker«, der »Anwalt der Leidenden und Unterdrückten« geblieben, den Zeitgenossen in ihm sahen? Wo ein Wort des Mannes, der Kapitalismus noch Kapitalismus und Imperialismus bei eben diesem Namen nannte und Ausbeutung nicht in Wortnebeln verschwinden machte? Tucholskys Attacken hätten sich gegen »soziale Ungerechtigkeit« gerichtet, heißt es im »Schülerduden Literatur«, 2008 vom Dudenverlag herausgegeben. Das liest sich heute so unverbindlich wie in den aktuellen Programmen politischer Parteien. Nicht anders, wenn im »Duden Literatur« des Bibliographischen Instituts geschrieben wird, Tucholskys Verse gemahnten »an die Verantwortung des Einzelnen vor der Geschichte aller«. Das macht aus ihm eine Figur gleich jenen Talarträgern, die er unverbindlichen und folgenlosen Predigens zieh. Sprach Tucholsky von Wir, war das immer auch eine Entgegensetzung und enthielt nichts von Volksgemeinschaft. Der Tucholsky, den die Reaktion von den Monarchisten bis zu den Faschisten haßte, kommt gewöhnlich nicht zu Wort. Daß das nicht durch das Aufnahmevermögen Heranwachsender bedingt ist, sondern einem Konzept folgt, macht ein Vergleich mit pädagogischen Anleitungen und Schulbüchern aus DDR-Zeit deutlich, sofern man deren Autoren nicht eine Überforderung ihrer Schüler unterstellen will: Die Unterrichtshilfe für Klasse 9, 1987 herausgegeben, empfahl den Lehrern zur Auswahl teilweise die gleichen Texte, die das westdeutsche Angebot enthält, setzte auf die ersten Plätze aber »Der Graben« und die »Fragen an eine Arbeiterfrau« und schlug vor, die beiden in Ostdeutschland populärsten Tucholsky-Interpreten, Gisela May und Ernst Busch, mit ihren Vorträgen in den Unterricht einzubeziehen. In der vom DDR-Schulbuchverlag Volk und Wissen herausgegebenen Reihe »Aus deutscher Dichtung« (1968) findet sich »Jemand besucht etwas mit seinem Kind«, jene Geschichte des französischen Vaters, der mit seinem Sohn an den Ort zurückkehrt, an dem er als Soldat zwischen den Gräben seinen besten Freund tagelang hat sterben hören, ein Text, der zu den großen Friedensbekenntnissen deutscher Literatur gehört. Das mag ins klischierte DDR-Bild von den im Kindergarten beständig NVA-Soldaten malenden Kindern und in andere Klischees nicht passen. Jedenfalls wurde hier die Arbeit eines Mannes bezeugt, der einmal auf die Frage, wen oder was er liebe, geantwortet hat: »Jeden tapferen Friedenssoldaten.« Es gibt keine sicherere Antwort auf die Frage, was ein Schriftsteller in einem Staat gilt, wie er gesehen und geachtet wird, als ein Blick in seine Schulbücher. Übrigens: Jahr für Jahr kann gefahrlos darauf gewettet werden, daß in den dicken Sonderausgaben deutscher Tageszeitungen zu den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt am Main keine einzige Besprechung von Schulbüchern zu finden ist. Was also hätte Tucholsky mit seinen Schulbuch-Kritiken anfangen können? Der Historiker Kurt Pätzold sprach auf der Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft im Oktober in Berlin. Den diesjährigen Tucholsky-Preis erhielt der FAZ-Redakteur Volker Weidermann für sein »Buch der verbrannten Bücher«, das unbedingt in den Schulunterricht gehört.
Erschienen in Ossietzky 23/2009 |
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