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Schon als Berliner Finanzsenator (2002 bis 2009) hatte Sarrazin des öfteren mit Schmähsprüchen gegen Unterschichtler im allgemeinen und Hartz-IV-Empfänger im besonderen die Schlagzeilen der Boulevardpresse erobert. Als er im Mai dieses Jahres, berufen von Bundespräsident Horst Köhler, Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank wurde, bestand Hoffnung, er werde in dem hohen Amt mit 228.000 Euro Jahresgehalt bedachtsamer werden und als Repräsentant dieser für ehrwürdig angesehenen Institution sich öffentlich zurückhalten. Aber in seinem Interview in Lettre international war er wieder ganz der sozial-darwinistische und rassistische Volkstribun. Selbst Bild.de nannte ihn »das Grobmaul« und einen »Dauerprovokateur«, um anschließend mit Genuß einige seiner neuen Sprüche zu zitieren: »Je niedriger die Schicht, je höher die Geburtenrate.« Oder: »Die große Zahl der Türken und Araber in dieser Stadt (Berlin) hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel.« Für ihn gelte: »Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.« Die Bild-Zeitung brauchte den Provokateur Sarrazin für eine Kampagne, an der sich Leser und Prominente wie Hans Olaf Henkel, ehemals Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, mit zustimmenden Äußerungen beteiligten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland protestierte und stellte Sarrazin in die Nähe von Göring, Goebbels und Hitler – womit wieder mancher schlichte Antisemit bestätigt fand, daß da wohl einer gewagt habe, ein Tabu-Thema zu berühren und »die Wahrheit« auszusprechen. Reflexartig meldete sich Henryk M. Broder zu Wort, der seinen verqueren Ruhm als Berufsquerulant zu pflegen hat: Er lobte Sarrazin. Dessen Aufgabenbereich in der Bundesbank wurde um einige Zuständigkeiten beschnitten, aber der Bundespräsident berief ihn nicht ab. Wie Otto Köhler in der Zeitung junge Welt zeigte, ist der Präsident eng mit Sarrazin verbunden, seit sie gemeinsam den Treuhand-Ausverkauf der DDR betrieben haben. Die Meinungsführer und Meinungsmacher in den Medien reagierten verständnisvoll. Ihre Aufgabe ist es, den anwachsenden Frust und die bis in die Mittelschicht sich ausbreitende Angst vor sozialen Verwerfungen mal wieder auf »die Versager in der Unterschicht«, bevorzugt auf »Ausländer« und »Andersartige«, zu lenken, die angeblich gar nicht arbeiten wollen und »unseren Staat« nur abzocken, so daß die öffentlichen Kassen leer sind und »wir alle« die Lasten zu tragen haben. Das Establishment duldet diese Tendenzen mit wachsendem Wohlwollen. Befürchtungen um »unser deutsches Ansehen in der Welt« spielen kaum noch eine Rolle. Sozialdarwinistische und rassistische Stimmungen erhalten immer breitere Zustimmung. Die Bild-Zeitung bezog sich für ihre Kampagne auf eine Emnid-Umfrage vom Oktober, wonach über zwei Drittel der repräsentativ Befragten Sarrazins »Anstoß einer Debatte« begrüßten. 51 Prozent der Deutschen stimmten seinen Thesen ausdrücklich zu, nur 39 Prozent lehnten sie ab. Dafür waren 59 Prozent der CDU-Wähler, 55 Prozent der Partei Die Linke, 54 Prozent der FDP, 50 Prozent der SPD und 24 Prozent der Grünen. Erschrocken mußte man feststellen, daß hier offenbar wenig manipuliert worden war. In Gesprächen mit Nachbarn, selbst mit Mitgliedern der Linkspartei oder in Gewerkschaftskreisen überwog die Parteinahme für Sarrazin: Endlich einer, der die Wahrheit sagt! Da kannte fast jeder eine hier fremd gebliebene Ausländersippe, die nur wegen des üppigen deutschen Sozialsystems gekommen sei, oder wußte von einem faulen Hartz-IV-Empfänger. Sind alle nur Opfer der ihnen von den Medien oktroyierten Meinungen? Wohl kaum. Stimmungen, auch Überzeugungen können zwar durch Propaganda mit geformt und verstärkt werden, aber zuvor muß die Subjektivität eines Menschen dafür aufnahmebereit sein. Die Subjektivität hat sich im Laufe des Lebens in familiären, schulischen, sozialen und wirtschaftlichen Kontexten gebildet und dabei eine Denkungs- und Geistesart, eine »Mentalität«, entwickelt, mit der die Kräfte der Veränderung beurteilt, geformt und eingepaßt werden. So kündigte Bundeskanzler Gerhard Schröder im April 2003 den vor ihm in Berlin versammelten Gewerkschaftsführern die Umformung der Arbeitslosenunterstützung mit der Begründung an, daß nur ein Drittel der Arbeitslosen »arbeitswillig« sei, ein weiteres Drittel lasse sich immerhin »ziehen und locken«; das restliche Drittel aber müsse der Staat schieben. Bei diesen Menschen gelte es, »eine Mentalität zu brechen« (Der Spiegel, 7.4.03). Wir wissen inzwischen, was mit dem »Ziehen und Locken« und dem »Brechen der Mentalität« gemeint war: Millionen Menschen in Deutschland sind in Billigjobs, Minijobs oder Leiharbeit hinabgestoßen, auf Hartz-IV angewiesen; und viele sind sogar davon ausgeschlossen. Die Gewerkschaftsvorstände haben damals nicht zu Massenstreiks aufgerufen. Die Unternehmensvertreter freuten sich darüber, daß es insgesamt »wenig Proteste, keinen Volksaufstand« gab, wie der Chef des Zentralverbandes der Elektrotechnik und Elektroindustrie, Dietmar Hartig, konstatierte. Was bleibt angesichts derartiger Kräfte- und Herrschaftsverhältnisse dem Einzelnen übrig? Solange er allein bleibt, wird er seine »Mentalität«, also seine Geistes- und Denkungsart, entsprechend ausrichten – soweit nicht längst durch Anpassungsrituale in Elternhaus, Schule und Betrieb geschehen; sonst droht er schizophren zu werden. Bei den noch anstehenden Entlassungswellen infolge der Krise hat die Angst vor Arbeitsverlust und Verarmung fast alle erreicht. Jetzt scheint zu gelten: Rette sich, wer kann! Jeder suche für sich und seine Gruppe das geringere Übel. Also: Raus mit den Leiharbeitern, die keine langfristigen Verträge haben! Als Nächste vielleicht die Zugewanderten, die es bisher nicht zur deutschen Staatsbürgerschaft gebracht haben. Wieso sind die überhaupt hier und nehmen uns die Arbeitsplätze weg? Unterstützung für arbeitsscheue Leute? Besser soll Vater Staat mit niedrigeren Steuern und Sozialabgaben unserem Unternehmen im weltweiten Überlebenskampf helfen. Sarrazin spricht aus der Mitte dieser deutschen Gesellschaft, deren weiterer Weg in die soziale und ökologische Barbarei führen wird. Wer kann sich da noch Humanität und Sensibilität für fremdes Leid oder für das eigene moralische Elend leisten?
Erschienen in Ossietzky 23/2009 |
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