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Goethe hatte sich vor dem Hintergrund der soeben (1813/14) zu Ende gegangenen Befreiungskriege und der bedrohlichen Anfänge einer deutsch-nationalistischen Bewegung die altpersische Lyrik und Dichtung – insbesondere die des Hafis (1325–1389) – in freien Nachdichtungen anverwandelt und sie, versehen mit ausführlichen »Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis«, in Form eines preiswerten Taschenbuches »meinem Volke an den Busen« gelegt: ein zartes Gegenprogramm zum fremden-(franzosen)feindlichen Zeitgeist. Aber kaum jemand wollte davon etwas wissen. Die Gedichtsammlung wurde eine Ladenhüter und erst in unserer Zeit entdeckt und gewürdigt – und auch das mehr von der Philologie als von der literarischen und kulturellen Bildungsöffentlichkeit. Man kann und darf darüber spekulieren, wie anders die deutsche Geschichte verlaufen wäre, hätte man damals Goethes subtile Botschaft verstanden und ernst genommen ... Für Barenboim/Said waren dieser Goethesche »Divan« und der Ort Weimar eine geradezu ideale Projektionsfläche für ihr interkulturelles west-östliches Musikprojekt: Hier sollten Musiker aus Israel und den arabischen Ländern (zusammen mit einigen deutschen und später spanischen Instrumentalisten) gemeinsam ein Stück Musik erarbeiten. Ein junger Syrer, der noch nie zuvor einen Israeli kennengelernt hatte, fand sich plötzlich, wie Barenboim berichtete, »mit einem israelischen Cellisten am selben Pult. Sie versuchten, dieselbe Note zu spielen, mit derselben Dynamik, demselben Bogenstrich, demselben Klang, demselben Ausdruck. Sie versuchten, etwas gemeinsam zu tun, etwas, das ihnen beiden etwas bedeutete, das sie leidenschaftlich etwas anging. Wenn sie aber diese eine Note geschafft haben, dann können sie einander nicht mehr mit denselben Augen ansehn wie vorher, weil sie eine gemeinsame Erfahrung gemacht haben – das war für mich das Bedeutende an diesem Zusammentreffen ...« Und Barenboims politische Schlußfolgerung: »Es ist und bleibt eine Tatsache, daß Konflikte, wenn sie eines Tages gelöst werden sollen, nur durch den Kontakt zwischen den streitenden Parteien gelöst werden können. Im Mittleren Osten, einer kleinen Region, sind die Berührungen unvermeidlich, und es sind nicht Dollars oder politisch vereinbarte Grenzen, an denen es sich entscheidet, ob eine friedliche Lösung Bestand hat. Der eigentliche Test besteht in der langfristigen Produktivität dieser Berührungen. Wenn wir auf der Ebene der Kultur – in der Literatur und besser noch der Musik, weil sie es nicht mit expliziten Begriffen zu tun hat – diese Art Kontakte fördern, kann das mit helfen, daß Menschen sich einander näher kommen. Das ist alles.« Dasselbe Vertrauen auf die pädagogische Kraft der Musik motivierte Barenboim auch zur Einrichtung von exemplarischen Musik-Kindergärten in Ramallah und Berlin. 2002 verlegte das Orchester seinen Sitz von Weimar nach Sevilla: Weimar und das Land Thüringen waren finanziell überfordert, Andalusien (mit dem besonders aufgeschlossenen Ministerpräsidenten Zapatero im Hintergrund) bot bessere Konditionen. Aber es gab da auch einen gewichtigen historischen Grund. Sevilla war nach der Eroberung Spaniens durch die Araber für mehr als fünfhundert Jahre ein Zentrum muslimisch-christlich-jüdischen Kulturaustauschs gewesen, eine Brücke zwischen Orient und Okzident, zwischen der arabischen und der europäischen Welt, über die nicht zuletzt das von den Arabern gepflegte und bewahrte philosophische Erbe der griechisch-hellenistischen Antike transportiert wurde; auf diese Weise hatte auch, Jahrhunderte später, ein aus Andalusien stammendes Exemplar des Koran über einen napoleonischen Soldaten seinen Weg nach Weimar in die Hände Goethes gefunden, den es im Zusammenhang mit seiner Hafis-Entdeckung zu arabischen Schriftübungen inspirierte. Aber Andalusien markiert auch mit dem Fall von Granada 1492 und dem Sieg der christlichen Reconquista den brutalen Abbruch dieser Brücke und die Vertreibung des Judentums. Said und Barenboim haben auf die Bedeutung dieser die Jahrhunderte dunkel miteinander verknüpfende Beziehung zu Deutschland und Weimar/Buchenwald für ihr musikalisch-politisches Projekt ausdrücklich hingewiesen. 2009 wollte das Divan-Orchester sein zehnjähriges Bestehen mit einer Konzerttournee begehen, die es auch in zwei arabische Staaten führen sollte. Aber Quatar und Kairo sagten in letzter Minute ab, weil sie die Sicherheit der Musiker nicht garantieren konnten – denn inzwischen hatte die massive israelische Besetzung von Gaza die Situation in der Region dramatisch verändert. Während dort die gegenseitige Aggressivität politisch und vor allem militärisch eskalierte und die möglichen Konfliktlösungen in immer weitere Fernen rückte, hielt das Orchester – 32 Musiker aus Israel, 19 aus Spanien, 34 aus Palästina, Syrien, Ägypten, Jordanien und der Türkei – solidarisch zusammen, ohne daß die einzelnen Musiker ihre Identitäten aufgaben. Sie hatten das gelernt, was die in ihrer traditionellen Logik der Macht und in der Sprache der Gewalt gefangenen Politiker beider Seiten nicht vermögen, nämlich andere Möglichkeiten der Kommunikation zu erschließen. Vom gemeinsamen Musizieren als Methode zu lernen, hieße an etwas Drittem arbeiten, hier der Gestaltung musikalischer Werke für eine Öffentlichkeit, die sich ihrerseits darauf einläßt, eine andere Sprache zu hören. Weder von arabischer noch von israelischer Seite erhält das Orchester für seine transpolitische gemeinschaftstiftende Modellarbeit staatliche Unterstützung – so wenig wie die zahlreichen der Öffentlichkeit kaum bekannten palästinensisch-israelischen Basis-Initiativen: Der Politik gelten sie als blauäugig und realitätsfern. Die professionellen Protagonisten der Politik ziehen es vor, das ihnen geläufige Spiel der Macht weiterzuspielen – und Macht macht dumm. Die Konzerte des Divan-Orchesters haben zwei Dimensionen: eine politische und eine musikalische, wobei die musikalische Dimension politisch und die politische musikalisch ist. Letztere besteht in der absichtsvollen Einzigartigkeit der Zusammensetzung des Orchesters: daß hier Angehörige komplex verfeindeter Kulturen wenigstens für die Dauer ihres Projektes friedlich und kooperativ zusammenarbeiten. Barenboim: »Die Musik läßt einen beständigen Dialog entstehen, sie stiftet das einende Rahmenwerk – eine abstrakte Sprache der Harmonie im Unterschied zu den unterschiedlichen realen Sprachen, die von den Orchestermitgliedern gesprochen werden – und macht es möglich, das, was man mit Worten nur schwer formulieren kann oder möglicherweise auch nicht aussprechen darf, auszudrücken. In der Musik ist nichts völlig unabhängig von etwas anderem. Sie erfordert eine perfekte Ausgewogenheit von Intellekt, Emotion und Temperament ... Mit Hilfe der Musik ist es möglich, sich ein alternatives soziales Modell vorzustellen, eine Gesellschaft, in der utopische Vorstellungen und Pragmatismus sich verbinden ... Dieses Modell erlaubt es uns, Einblick in die Art und Weise zu nehmen, in der die Welt funktionieren könnte und sollte – und es manchmal auch tut.« Musik in dieser Dimension ist insofern politisch, als sie ihr Material in einer Weise präsentiert, die das in einem Werk angelegte Dialogische deutlich hörbar macht, das Zerlegen und Zusammenführen der Themen, das Antworten der Themen aufeinander, das Gespräch der Instrumente miteinander, damit zugleich auch die Gleichheit ihrer Stimmen, denn jede hat ihr eigenes Recht, ihre Existenzberechtigung und würde das Ganze und sich selbst zerstören, würde sie die Herrschaft über andere Stimmen vorlaut beanspruchen. Beethovens Leonore-Ouvertüre Nr. 3 und die mehr zitierte als genau gehörte fünfte, die sogenannte Schicksals-Symphonie – beide 2009 zum Tournee-Programm gehörend – machen das deutlich. Kein Komponist war sich so des gemeinschaftsstiftenden und humanistischen Potentials der Musik für ein großes, ein »Massenpublikum« bewußt wie Beethoven; kein Zufall ist es, daß die in besonderem Maße programmatische Neunte so populär und ihr Schlußchor »An die Freude« zur inoffiziellen Hymne eines vereinten Europas wurde – und sie entstand in zeitlicher Nachbarschaft zu Goethes Divan-Dichtung. Die Leonoren-Ouvertüre, von diesem Orchester unter der Leitung Barenboims gespielt, verliert jeden heroisch-triumphalistischen Charakter zugunsten einer in sehr langen Crescendi hörbaren optimistischen Zukunftsperspektive einer freieren Gesellschaft als Möglichkeit der politischen Gemeinschaftskunst, aber eben Kunst, nicht Macht, Überwältigung, Gewalt. Und der zweite Satz der 5. Symphonie macht durch seine Bläserlyrik eine Zartheit hörbar, die für die Miterlebenden ebenfalls eine politische Botschaft enthält: Dies ist keine, wie sie allzu oft präsentiert wird, tief raunende martialische Heldenmusik und keine an das Gefühl pochende Schicksalsmusik, sondern hier wird der Politik mit einem Finale der Freude und des Glücksgefühls der musikalisch formulierte Sieg der lyrischen Vernunft als Chance gezeigt. Von der Politik her gesehen sind das alles realitätsfremde Träume und Erwartungen. Sie hat es mit anderen Parametern, mit einer Wirklichkeit zu tun, in der die harte Sprache der Macht, der Ökonomie, auch des Geldes zählt und gesprochen wird, in der andere Spielregeln gelten als die, aus sechzig Musikern unterschiedlichster Herkunft ein Orchester zu bilden. Sie weiß – oder glaubt zu wissen –, daß Gewalt nur durch Gewalt gezähmt, wenn auch nicht auf Dauer überwunden werden kann, daß ihr Spiel nicht die Anerkennung unterschiedlicher Wahrheiten, sondern in einer Welt angesiedelt ist, in der zum Überleben List, Taktik, Erpressung nötig sind, ein Nullsummenspiel, in dem der Gewinn der Einen den Verlust der Anderen bedeutet. Für Große und Kleine gelten jeweils andere Regeln, andere Gerechtigkeiten und kein übergreifendes Weltrecht. Gehört wird da (um im Vergleich zu bleiben) derjenige, der am lautesten spielt und die anderen übertönt. Umgekehrt wehren sich die Schwachen, indem sie die von den Starken gespielten Töne durch regelwidriges Falschspielen zu Mißtönen machen. Das Ideal der Machtpolitik ist ein laut tönendes Unisono. Sie unterdrückt die kleinen und die Nebenstimmen, verschärft die nun einmal nicht aus der Welt zu schaffenden Konflikte zwischen Individuen, Gruppen, Ethnien, Staaten und Klassen, vergrößert sie und spitzt sie zu, bis nur noch die Gewalt eine Lösung verspricht. Die Kollateralschäden sind dann oft noch schlimmer als die Konflikte, die gelöst werden sollten. Die Dummheit der Politik – einer von politischen Funktionären, die in der Regel von kulturellen, historischen, ethnographischen, religiösen und anderen Zusammenhängen nichts wissen, betriebenen Politik – besteht darin, Zugänge zur möglichen Konfliktlösung jenseits oder außerhalb der Logik ihrer eigenen Parameter gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn sie auszuprobieren. Die militärischen Lösungen, sind immer die schnellsten, einfachsten, sicheren Erfolg versprechenden – und sind doch zugleich fast immer die kurzsichtigsten, kontraproduktivsten, am wenigsten dauerhaften. Von der Musik, vom sozio-psychologischen Mikrokosmos eines Orchesters so gut wie von der Sprache der Musik selbst wäre zu lernen, daß es häufig der scheinbare Um- oder Nebenweg ist, der die dauerhafteren, darum die besseren, in jedem Falle aber, wenn er nicht zum Ziele führt, die am wenigsten schädlichen Wirkungen hat. Am Beispiel des israelisch-palästinensischen Konflikts, aus dem das Experiment des West-Eastern Divan Orchestra hervorging, läßt sich das eindringlich demonstrieren: Er ist ein Musterbeispiel für das totale Versagen der klassischen politischen Logik, wie sie in den politologischen Fakultäten weltweit und kulturübergreifend gelehrt und journalistisch-publizistisch verbreitet wird – und zwar seitens beider jeweils tonangebender Parteien. Die eine besteht auf der Revision der Staatsgründung Israels 1948 und leugnet deren historische Berechtigung; die andere bestreitet ebenso rundweg die Existenz eines palästinensischen Volkes und seinen Anspruch auf eigene Staatlichkeit. Beide politische Führungen wollen subjektiv für ihre Völker ein Leben in Frieden und Sicherheit, beide wissen – aber wollen es, um ihre jeweilige Führungsqualifikation nicht zu kompromittieren, öffentlich nicht zugeben –, daß es, wie in der Musik, nur gemeinsam vereinbarte Lösungen geben kann, die die gegenseitige Anerkennung zur Voraussetzung haben. Das Publikum »Weltgesellschaft«, in sich alles andere als homogen, wird nur eine Symphonie aus allen Themen, allen Instrumenten, allen Stimmen akzeptieren – oder weiterhin die streitenden Parteien gegeneinander für seine eigenen Machtkämpfe instrumentalisieren. Es gibt derzeit kaum ein dramatischeres Beispiel für das völlige Versagen der Logik konventioneller politischer Strategien und Taktiken, für die Dummheit der Politik. Der Krieg im Gaza-Streifen 2009 hat, wie es Daniel Barenboim in der rücksichtslos unverstellten Sprache außerparteilichen gesunden Menschenverstandes auszusprechen den Mut hat, »das Niveau eines Kinderspiels. Du hast angefangen! Nein du! Nein du!« Es gibt aber auch derzeit keine radikalere Alternative, kein anderes gelebtes Beispiel für politische Klugheit im komplexen Kosmos des Politischen als eine Lösungsperspektive aus dem dialogischen Geist der Musik. Es ist nicht auszuschließen, daß Goethes Modellversuch eines durch die Dichtung vermittelten interkulturellen Dialogs heute, fast zweihundert Jahre später, von einer wachsenden Zahl von Menschen als methodisch fruchtbares Vorbild für islamisch-christlich-westliche Diskurse erkannt und fruchtbar gemacht wird; anläßlich der Einweihung eines Goethe-Hafis-Denkmals in Weimar am 12. Juli 2000 in Anwesenheit des iranischen Präsidenten Sayyed Mohammed Khatami und des Bundespräsidenten Johannes Rau erschien eine erste zweisprachig gedruckte Ausgabe der Gedichte des »West-östlichen Divan«; es war eine limitierte Privatausgabe, finanziert von der DaimlerChrysler AG. Daniel Barenboim sieht seine Zukunftsvision erfüllt, wenn sein »West-Eastern Divan Orchestra« in allen arabischen Staaten und Israel frei und ohne militärischen Schutz musizieren kann. In diesen Tagen erscheint Ekkehart Krippendorffs neues Buch »Die Kultur des Politischen – Wege aus den Diskursen der Macht« im Kulturverlag Kadmos Berlin 2009, 221 Seiten, 22,50 €
Erschienen in Ossietzky 22/2009 |
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