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Doch im letzten Moment stellte ich fest, daß es sich um ein Druckerzeugnis der besonderen Art, um eine Ausgabe mit einem 48seitigen »Extraheft in Heftmitte« handelt, das in Zusammenarbeit mit der nicht unbekannten »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« entstand und den vielversprechenden Titel »20 Jahre nach dem Mauerfall – Was wir wirklich erreicht haben« trägt. So ließ ich denn von meinem Sofort-Recycling-Vorhaben ab, um mich mit dem vertraut zu machen, was die in Ostdeutschland mit rund 500.000 verkauften Exemplaren meistverbreitete Zeitschrift, die laut Umfragen von etwa drei Millionen Ostdeutschen gelesen wird, im Gedenkjahr 2009 zum genannten Thema zu bieten hat. Ich habe es nicht bereut. Mein Blick auf die zurückliegenden zwei Jahrzehnte wurde geweitet, und selbst mir schwoll die Brust vor Stolz über das von meinen ostdeutschen Landsleuten Geleistete. Glanzpapier, prächtige Farbfotos ohne Ende und tolle Jubelbeiträge von Hans-Dietrich Genscher, Arnold Vaatz, Dagmar Schipanski, Matthias Platzeck und anderen versetzen unvoreingenommene Leser wie mich in Hoch- und mit Blick auf den 9. November in vorzeitige Festtagsstimmung. Allein schon das Titelblatt läßt mit beeindruckendem Bildmaterial und einer phantastischen Vorschau auf die im »Heft im Heft« gezogene sachliche, grundehrliche 20-Jahresbilanz das Herz höher schlagen: »Familie: Die Schulzes aus Grimma – Ein Beispiel für so viele, die in der Einheit ihr Glück gefunden haben; Wirtschaft: Vorfahrt für moderne Autoindustrie; Bildung: Ost-Universitäten sind weltweit Spitze; Wiederaufbau: Unsere Heimat im neuen Glanz ...« Die Fotos und Texte, basierend auf zwei Studien von Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin, und Joachim Ragwitz, Geschäftsführer der Dresdner Filiale des Institutes für Wirtschaftsforschung, garantieren, daß die Herzschlagfrequenz am äußersten Limit bleibt. Dafür sorgt allein schon Schroeder, der nachweist, »daß die Fakten zur Einheit viel besser sind als die Stimmung«, der »Einheitsprozeß« eine »Erfolgsstory« ist, »gigantische Leistungen in den letzten 20 Jahren vollbracht wurden«. Sein Fazit: »Uns fehlt es an Stolz auf die eigene Leistung. Wir können – trotz einzelner Probleme und Defizite – auf das Erreichte ... mit Recht stolz sein.« Die nicht unbekannte These, daß die Lage besser sei als die Stimmung, ist die Leitlinie für die Bilanz. Vorgegeben ist sie vom wahren Kenner des Ostens, dem bayerischen SUPERillu-Chefredakteur Jochen Wolff, nach dessen Worten die Studien zeigen, »daß wir auf einem guten Weg sind und vor allem: Daß wir besser sind, als wir glauben«. Bewiesen wird das unter anderem mit beeindruckenden Angaben über den Anstieg der Bruttolöhne, die im Durchschnitt im Jahr nur noch um 6.000 Euro unter denen im Westen des Vaterlandes liegen, sowie über die Entwicklung des Bruttoinlandproduktes im Osten, das von 1991 bis 2007 um mehr als das Zweieinhalbfache gewachsen ist. Ein wahre Augenweide bietet das farblich wunderbar gestaltete Arrangement der »Ostprodukte, die florieren«. Was es da nicht alles gibt: Vita-Cola, Rügen-Fisch, Filinchen, Spreewald Gurken, Fit, Florena Creme, Bautz’ner Senf, Hasseröder Pilsner, Altenburger Spielkarten und noch manches mehr. Allein schon diese Zusammenstellung zeigt, daß die angebliche Deindustrialisierung Ostdeutschlands ein böswilliges Gerücht ist. Eine kleine Einschränkung allerdings ist nötig. Warum nur haben die »Heft-im Heft«-Macher den wunderschönen Bildern von Ostprodukten, Ost-Unternehmen, freudestrahlenden Arbeitsplatzbesitzern, renovierten Stadtzentren nicht wenigstens ein paar Fotos von Arbeits- und Obdachlosen, Industrieruinen, verödeten Landschaften gegenübergestellt? Chefredakteur Wolff hat für den Verzicht eine einfache Erklärung, denn »anläßlich des Jubiläums 20 Jahre Mauerfall wollten wir uns einmal ausschließlich um die vielen glücklichen Entwicklungen seit der Wiedervereinigung kümmern«. Gut gemeint, aber hätten Fotos, vielleicht in Schwarz-Weiß, von diesen und anderen kleinen Mißständen nicht einen schönen Kontrast zu denen in leuchtenden Farben gebildet, um deren Überzeugungskraft noch zu steigern? Ganz anders verhält es sich mit dem Umstand, daß bei den Angaben über die rasante Wirtschaftsentwicklung im Osten das Jahr 1991 zum Ausgangspunkt aller Vergleiche genommen wird. Das ist super gemacht. Hätte sich die SUPERillu formal an ihre 20-Jahr-Bilanz seit dem Mauerfall gehalten, dann hätten die Wirtschaftsleistungen der DDR von 1989 zum Vergleich herangezogen werden müssen. Diese aber waren dummerweise ein wenig höher, denn erst als Folge der Währungsunion und des Wirkens der Treuhand stürzte die Industrieproduktion ab und erreichte Ende 1991 nur noch ein Drittel des Standes vor der »friedlichen Revolution«. Die SUPERillu-Redakteure wären doch blöde gewesen, wenn sie, vom Chefredakteur beauftragt, ausschließlich glückliche Entwicklungen zu zeigen, statt der Wirtschaftsdaten von 1991 die von 1989 zum Vergleich herangezogen hätten. Stattdessen arbeiteten sie erfolgreich nach der Methode, die in den 1950er Jahren im sozialistischen Lager intern die »albanische« genannt wurde. Das äußerst rückständige Albanien hatte zu dieser Zeit die höchsten Wachstumsraten. Wurde zum Beispiel die Jahresproduktion von Fahrrädern von 50 auf 100 Stück gesteigert, so ergab das ein Wachstum um 100 Prozent, und wenn die Zementproduktion von 1.000 auf 3.000 Sack stieg, konnte Albanien sogar ein Wachstum um 300 Prozent vermelden. Je niedriger die Ausgangsposition, desto höher der prozentuale Zuwachs. Die SUPERillu macht nichts anderes als die Bundesregierungen seit Kohls Zeiten. Auch diese bedienen sich der »albanischen Methode« und hüten sich, die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland mit der von 1989/90 zu vergleichen – die haben sie aus der Statistik verbannt. Vergleichsjahr ist und bleibt 1991. Wolff und seine Leute haben sich diszipliniert daran gehalten. Summa summarum: Die SUPERillu-Bilanz »20 Jahre nach dem Mauerfall« ist dazu angetan, auch den letzten Zweifler an der »Erfolgsgeschichte« des Aufbaus Ost zu überzeugen. Auch ich bin begeistert und dem unbekannten Spender zutiefst dankbar, auch wenn er möglicherweise nicht aus eigenem vaterländischen Antrieb gehandelt und sich nur an die richtungsweisenden Worte des Chefredakteurs gehalten hat: »Dieses Heft ist ein Heft zum Aufbewahren, Rückerinnern und immer wieder mal Reingucken. Geben Sie es auch Ihren Kindern, den Nachbarn ... oder Ihren Verwandten und Freunden in Westdeutschland. Die Entwicklung in Ostdeutschland ist ein gemeinsames Werk von den Deutschen in Ost und West. Darauf können wir gemeinsam stolz sein. Seien wir es einfach!« Auch ich bin es einfach und stehe allerdings vor der Frage, ob ich das Heft zum »Rückerinnern und immer wieder mal Reingucken« aufbewahren oder lieber doch an die Obdachlosen weitergeben soll, die tagtäglich vor dem Berliner Ostbahnhof den strassenfeger anbieten, damit auch sie erkennen, »was wir wirklich erreicht haben«.
Erschienen in Ossietzky 19/2009 |
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