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Die Debatte über den MassenstreikGisela Notz Gewerkschafter sehen in der aktuellen Krisensituation die Gefahr, daß »die Belegschaften geradezu in antisolidarische Bündnisse mit ihren Arbeitgebern« getrieben werden. »Deswegen sollten wir auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene Arbeitszeitverkürzung neben Mindestlöhnen und Konjunkturprogrammen auf die Tagesordnung setzen und alles dafür tun, diese Forderung schnell umsetzbar zu machen,« schreibt Werner Sauerborn, baden-württembergischer Referent der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft, im Gewerkschaftsorgan ver.di publik. 100 Jahre nach der Massenstreikdebatte wird in SPD und Gewerkschaften verstärkt über das umstrittene Kampfmittel des politischen Streiks diskutiert. Den Einwand, in Deutschland sei den Gewerkschaften der politische Streik untersagt, nennt Sauerborn »einen alten Zopf aus den Zeiten des deutschen Nachkriegskapitalismus«. Gewerkschaften unterscheiden zwischen ökonomischem Streik (Arbeitskampf) und politischem Massenstreik. Lange bevor Arbeitsbeziehungen durch Tarifverträge geregelt wurden, war der ökonomische Streik das einzige Mittel zur Durchsetzung von Interessen der ArbeitnehmerInnen. Die Frage, ob politischer Massenstreik ein geeignetes Mittel zur Mobilisierung der Arbeitermassen für eine grundsätzliche Neugestaltung der Gesellschaft sei, erhitzte in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer wieder die Gemüter. Denn beim politischen Streik sind nicht die Unternehmer der Adressat, sondern die Regierung, die daran gehindert werden soll, die Situation der abhängig Beschäftigten zu verschlechtern oder einen Krieg anzuzetteln. Nach dem Verständnis seiner Verfechter sollte der politische Streik eine Waffe im proletarischen Emanzipationskampf gegen den bürgerlichen Staat sein. 1894 erschien in der SPD-Zeitung Neue Zeit ein Aufsatz Eduard Bernsteins über den Streik als politisches Kampfmittel. Er enthielt im wesentlichen die Argumentation, die die Parteispitze auch später in den Diskussionen vertrat: Wegen der möglichen gewaltigen Ausdehnung sei er als Waffe »nur selten, nur in bestimmten Ausnahmefällen anzuwenden«, wegen der technischen Überlegenheit des Militärs gegenüber den Arbeitern sei er »als Mittel, die Arbeiter auf die Barrikade zu führen, (...) ein Wahnsinn«. Zudem erfordere der politische Streik »das Vorhandensein guter Arbeiterorganisationen«. Möglichst sollte der Massenstreik bloße Idee bleiben, eher ein Abschreckungs- als ein Kampfmittel im Bewußtsein der Arbeiter. Die Massenstreikdebatte, die 1905 in SPD und Gewerkschaften begann, fiel in eine Periode krasser politischer und wirtschaftlicher Spannungen: Streiks und Aussperrungen sowie die angedrohte Einschränkung des Wahlrechts bildeten den Hintergrund. Befürworter des Massenstreiks waren vor allem die »radikalen Linken«. Seit dem Ausbruch der Revolution in Rußland 1905 gehörte Rosa Luxemburg zu den aktivsten Verfechtern der Idee. Die Gewerkschaften hatten zuvor bei ihrem 5. Kongreß in Köln jede Form von Generalstreik als taktisches Mittel verworfen. »Generalstreik ist Generalunsinn« war ein beliebter Slogan bei sozialdemokratischen Reformisten, den auch Gewerkschafter gern übernahmen. Rosa Luxemburg begründete in ihrer Ende 1906 erschienenen Broschüre »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« ausführlich die besondere Bedeutung des Massenstreiks im proletarischen Klassenkampf. Dem Argument, die Gewerkschaften müßten erst genügend »Gefolgschaft« für einen Massenstreik organisieren, setzte sie – indem sie an den Zuwachs während des Sozialistengesetzes erinnerte – entgegen, daß eine breite Organisation gerade als ein Produkt des Kampfes entstehen kann. Stürmische politische Massenkämpfe könnten den befürchteten Untergang der Gewerkschaften umdrehen, hin zur Eröffnung »ungeahnter Perspektiven einer rapiden sprungweisen Erweiterung ihrer Machtsphäre«. Allerdings vertrat sie die Meinung, eine Aktion wie ein Massenstreik könne nicht generalstabsmäßig »auf Beschluß der höchsten Instanzen mit Plan und Umsicht« ausgeführt und auch nicht »mit dem Dirigentenstöckchen« gelenkt werden, sondern die Arbeiterbewegung müsse »sich die Waffen zu ihrer eigenen Befreiung schmieden«. Der Streik müsse eine Volksbewegung von Organisierten und Nichtorganisierten sein und »nicht nach einem fertigen, in einem Buch, in einer Theorie niedergelegten Schema« ablaufen. Von den Organisationen der Arbeiterbewegung erwartete sie gründliche Aufklärung über die Notwendigkeit des Streiks. Sie war von der Lebendigkeit des sozialen und politischen Widerstandes, der Unberechenbarkeit und Unkontrolliertheit der Aktion begeistert: »Er [der Streik] flutet bald wie eine Meereswoge über das Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz dünner Ströme. […] Alles das läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über. Es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen.« Auf dem Mannheimer Parteitag der SPD im September 1906 wurde ihre Idee heftig diskutiert und von den meisten Genossen abgelehnt. Luxemburg kritisierte vor allem die Politik der Gewerkschaftsführung, der »das Fühlen und Denken mit der Masse […] abhanden gekommen« sei. Auch an den Parteiführern vermißte sie »Entschlossenheit und Tatbereitschaft«. Von den Massen erwartete sie, »sich selbst im gegebenen Moment an die Spitze zu stellen«. Den führenden Genossen rief sie zu: »Die Massen drängen zur Aktion, sie wünschen den Kampf. Sorgen Sie dafür, daß das Feuer, welches die Massen jetzt ergriffen hat, kein Strohfeuer bleibt. Lassen Sie die Kampfeslust der Arbeiterschaft nicht einschlafen, es würde uns nachher schwer fallen, die Massen wieder aufzurütteln.« Für sie war der Massenstreik ein Gewaltmittel des Proletariats, das nur jemand verwerfen könne, der die tiefe Kluft zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden verleugnet. Im Juni 1914 erzielte sie im Vorfeld des Ersten Weltkrieges durch die Annahme ihres Antrags zum Massenstreik auf der Groß-Berliner Generalversammlung der SPD einen vorübergehenden Erfolg. Es kam jedoch weder zum Aufruf noch zur Durchführung des Generalstreiks. Die Gewerkschaften meinten, mit ihrem »Burgfriedensbeschluß« vom 2. August, der am 17. August 1914 durch den Verzicht auf jede Art von Lohnkämpfen bestärkt wurde, ihre Organisation über den Krieg retten zu können. Die SPD-Fraktion im Reichstag fällte am 3. August 1914 die Entscheidung, einen Tag später die Kriegskredite zu bewilligen. Durch die Auslösung des Ersten Weltkrieges brach die Debatte um den Massenstreik zunächst ab – bis Rosa Luxemburg und ihre politischen WeggenossInnen Massenaktionen zur Beendigung des Krieges und zur Einführung einer sozialistischen Demokratie propagierten. Am 1. Mai 1916 wurde Karl Liebknecht anläßlich einer Friedenskundgebung, zu der einige Tausend Personen erschienen waren, verhaftet und vor Gericht gestellt. Sowohl die Berliner Polizei als auch die SPD und Gewerkschaftsspitzen waren überrascht, daß zum ersten Gerichtstermin Liebknechts, am 28. Juni 1916, 55.000 ArbeiterInnen der Berliner Rüstungsbetriebe für einen Tag die Arbeit niederlegten. Der Historiker Ottokar Luban wertet das als »die erste große Arbeitsniederlegung in Deutschland mit einem eindeutigen Bekenntnis für eine Friedenspolitik und damit um einen politischen Massenstreik«. Die Militärbehörden reagierten mit ungeheuren Repressionen. Erst die Novemberrevolution 1918 riß große Teile der deutschen Bevölkerung aus der politischen Passivität. Überall bildeten sich spontan Arbeiter- und Soldatenräte. Eine heftige Streikwelle ging durch Deutschland, die die im Dezember beschlossenen Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung mit rätedemokratischen Forderungen konfrontierte. Konservative Kräfte, vor allem Vertreter der Wirtschaft, kämpften gegen den Rätegedanken und unterstützten Gegenbewegungen. Die Mehrheit der Gewerkschafter lehnte die aus der Novemberrevolution entwickelte Rätekonzeption mit ihrem antikapitalistischen Charakter ab, sondern hielt an der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Unternehmen fest. Die SPD war bereits seit 1917 gespalten. Die Reichstagswahl am 19. Januar 1919 war für die Linken überschattet von der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, vier Tage zuvor. Damit waren sie ihrer besten Köpfe beraubt. Im März 1919 beschloß die Reichsregierung, gegen die Räte in ganz Deutschland vorzugehen und sie gewaltsam aufzulösen. Als die »Brigade Ehrhardt« am 13. März 1920 in Berlin einmarschierte und sich der ehemalige ostpreußische Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp zum Reichskanzler ausrufen ließ (Kapp-Putsch), mußte die rechtmäßig gewählte Regierung, von der Reichswehr in Stich gelassen, aus Berlin fliehen. Daraufhin entwickelte sich der erfolgreichste politische Streik, der in Deutschland jemals stattgefunden hat. Die Freien Gewerkschaften, die KPD, die Christlichen Gewerkschaften und der Deutschen Beamtenbund riefen zum Generalstreik auf und bildeten ein gemeinsames Streikkomitee. Nach fünf Tagen Generalstreik gaben die Putschisten am 17. März 1920 auf. Doch die Bildung einer Arbeiterregierung unter der Leitung des ADGB-Vorsitzenden Carl Legien scheiterte. Die Gewerkschaften hatten sich als stark genug erwiesen, dem Kapp-Putsch zu begegnen; Deutschland politisch neu aufzubauen, überstieg ihre Fähigkeiten. Angesicht der globalisierten Wirtschaft und der weltweiten Zunahme von Erwerbslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen wird deutlich, daß die Unterscheidung zwischen Arbeitskampf und politischem Streik heute wenig taugt – sofern sie überhaupt jemals sinnvoll war. In der Frauenpolitik hat sich ein »erweiterter Arbeitsbegriff« durchgesetzt, der unter Arbeit sowohl Produktions- und Verwaltungsarbeiten als auch Reproduktionsarbeiten versteht. Ein »erweiterter Streikbegriff« richtet sich auf die Verweigerung der »ganzen Arbeit«, im Haushalt, in der Fabrik, im Büro und anderswo. Für eine Neuauflage der Massenstreikdebatte hieße das, daß neben allen Erwerbstätigen auch »kleine Selbständige«, Menschen aus Schatten- und Alternativwirtschaft, lokaler Ökonomie wie auch Hauswirtschaft und bürgerschaftlichem Engagement und auch Erwerbslose in die Streikbewegung einbezogen werden müssen. Ohne Allianzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften wie Politik, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, sozialen Bewegungen werden Streikaufrufe keine Wirksamkeit haben. Freilich kann ein Massenstreik auch heute schwerlich »von oben« verordnet werden. Und selbstverständlich müssen die Streikforderungen verbunden werden mit konkreten Utopien für ein Leben ohne Unterdrückung von Menschen durch Menschen. Streik ist das »letzte und äußerste Mittel« im Kampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Es ist aber auch die radikalste und wirksamste Form der Verweigerung.
Erschienen in Ossietzky 19/2009 |
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