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Aus Protest gegen die Verlagerung ihres Betriebes in ein Billiglohnland ziehen Arbeiter und Arbeiterinnen auch in kleinen, früher als verschlafen geltenden Städten durch die Straßen. Die abhängig Beschäftigten wollen nicht mehr tatenlos zusehen, wie ihr Lohn sinkt und wie ihre Beschäftigungsperspektiven und erst recht die ihrer Kinder sich verschlechtern, während die Gewinne der Großaktionäre steigen und die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Der Klassenkampf von oben nach unten fordert die Gewerkschaften geradezu heraus, die Macht des Kapitals zu beschränken und im letzten Vierteljahrhundert verlorenes Terrain zurückzuerobern. Doch viele unserer führenden Gewerkschafter verhalten sich überraschend zahm und zurückhaltend. Das Wort Klassenkampf will nicht über ihre Lippen; im Gegenteil, trotz mancher verbaler Attacken gegen das Finanz- und Bankenkapital sind sie sogar zu dessen Unterstützung bereit. Ein bezeichnendes Beispiel liefert der Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, der jüngst Sanierungsbeiträge der Beschäftigten für »ihre« Firmen vorschlug. Dazu könnten längere Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, Abbau von Errungenschaften wie Urlaubs- oder Jahresgeld, Verzicht auf tariflich vereinbarte Gehaltssteigerung und so weiter gehören. Die Unternehmer sollten diese Gaben mit Aktien ausgleichen. »Arbeitnehmer sind gute und geduldige Aktionäre, die dem Kapital zur langfristigen Stabilisierung der Firmen beitragen«, wirbt Huber im Editorial der Mitgliederzeitschrift metall. So eindeutig hatten das unsere führenden Arbeitnehmervertreter in aller Öffentlichkeit zuvor noch nicht ausgesprochen. Aber viele der oberen Funktionäre lassen seit langem erkennen, daß sie für einen angeblich geläuterten Kapitalismus eintreten, dem sie in Übereinstimmung mit den Herren über Geld und Produktionsmittel und deren hilfreichen Politikern den schönen Namen »Soziale Marktwirtschaft« gegeben haben. Das klingt besser als Privatwirtschaft oder Kapitalismus, wenn es auch im Grunde das gleiche ist. Wolfgang Schröder, wissenschaftlicher Zuarbeiter des Gewerkschaftsvorstandes, erläutert: »Die IG Metall will einen zukunftssicheren Ausbau des rheinischen Kapitalismusmodells, um die Prinzipien der Kooperation und Koordination zu stärken. Das rheinische Kapitalismusmodell beruht im Gegensatz zum Neoliberalismus auf der sozialen Marktwirtschaft«. Mit dem »rheinischen Kapitalismusmodell« ist, kurz gesagt, das der Adenauer-Jahre gemeint: Pferdmenges, Abs, Flick, Restauration und Wiederaufrüstung sowie ein paar Aufsichtsratssitze für Gewerkschafter. In diese Richtung denkt offenbar auch die stellvertretende Vorsitzende jener Partei, die sich einst als die politische Organisation der Benachteiligten anpries. Andrea Nahles proklamiert: »Der SPD geht es um Grundsätzliches: Soziale Marktwirtschaft versus Kapitalismus.« Sogleich gibt sich der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle als hilfreicher Verbündeter zu erkennen. Im Namen seiner Partei der Besser- und Gutverdienenden tönt er: »Viele Bürger sind dankbar, daß wir auch in der Wirtschafts- und Finanzkrise die Fahne der sozialen Marktwirtschaft hochgehalten haben.« Und die Kapitalisten selber sind auch längst zur Stelle. Als sich vor einiger Zeit die Krise des Neoliberalismus andeutete, gründeten die Arbeitgeberverbände Metall und Elektroindustrie flugs die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« und kämpfen seither mit dieser Parole – die Fahne muß nicht blau-gelb sein – für ihre Interessen. Zu den Aufgaben der INSM gehört die Propaganda für Privatisierungen. Der Staat macht wacker mit, So verlangt der Vorstand der Bundespost zur Erleichterung ihres vorgesehenen Börsengangs trotz eines Halbjahresgewinns von 557 Millionen Euro eine längere Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich und Verzicht auf die zum 1. Dezember vereinbarte Lohnerhöhung. Die Bundesbahn will aus dem gleichen Grund 7000 Beschäftigte feuern. In Frankreich haben es die Beschäftigten fertiggebracht, durch ihren Arbeitskampf die Privatisierung der Eisenbahn, der Metro und anderer öffentlicher Einrichtungen zu verhindern, Angriffe auf das Rentenalter und das Lohnniveau abzuwehren. Oskar Lafontaine von der Linkspartei gibt den Ratschlag: »Wir müssen französisch lernen. Wir brauchen den politischen Streik, um falsche Gesetze wieder wegzubekommen.« Aber die Gefahr ist groß, daß die Anhänger jener Organisationen, deren Chefs das Wort Klassenkampf nicht mehr kennen, wieder einmal fassungslos und besiegt dastehen werden.
Erschienen in Ossietzky 19/2009 |
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