von Wilfried Gaum
Das Thema dieses von Heiko Geiling herausgegebenen Sammelbandes ist der Erosionsprozess der SPD, der nicht mit der Schröder-Fischer-Regierung begann, aber durch sie signifikant beschleunigt worden ist. Wichtige Beiträge beziehen sich auf die Entwicklung der hessischen Sozialdemokratie und besonders auf den zweifach gescheiterten Versuch des linken Flügels, ein inhaltliches Projekt einer „Sozialen Moderne“ mit Hilfe der linkssozialdemokratischen Partei „Die Linke“ an die Regierung zu bringen. Besonders lesenswert sind die Aufsätze, deren Autoren sich dem Forschungsansatz der agis-Gruppe um Michael Vester verpflichtet fühlen und diesen für die Analyse und Bewertung der aktuellen Entwicklung der SPD nutzen.
Vester et.al. gehen davon aus, dass sich die gesellschaftlichen Milieus nicht, wie von postmodernen und liberalen Soziologen behauptet, auflösen, sondern sich modernisieren. Der politische Hauptkonflikt spielt sich zwischen dem Anspruch der modernen Arbeitnehmer - und weiterer avantgardistischer bzw. auf Eigenverantwortlichkeit orientierter Milieus nach Selbstbestimmung und Partizipation und den hierarchisch orientierten und autoritären Milieus ab.
Die SPD ist in diesem Band nicht nur Gegenstand der Analyse, sondern auch Adressat der Aufforderung, sich in dem Konflikt zwischen „autoritärer und partizipatorischer Demokratie“ auf die Seite derjenigen Arbeitnehmerschichten zu stellen, die berufliche Fachkompetenz, solidarisches Handeln und den Wunsch nach Beteiligung und Selbstbestimmung miteinander verbinden. Am Beispiel der Ereignisse in Hessen 2008/09 werden Chancen, Risiken, Versäumnisse und schließlich das Scheitern der hessischen SPD diskutiert, der autoritär-neoliberalen Politik eines Roland Koch als Gegenmodell eine „Soziale Moderne“ entgegenzusetzen.
Damit wird aber implizit unterstellt, dass die SPD auch nach 11 Jahren Schröder-Steinmeier-Steinbrück überhaupt noch kongruenter Ausdruck für die parteipolitischen Ansprüche der modernen Arbeitnehmermilieus ist. Dies scheint mir nach der Herausbildung und Etablierung einer linkssozialdemokratischen Parteialternative mit der Partei „Die Linke“ bei gleichzeitiger Erosion des Systems der Repräsentanz durch Volksparteien zweifelhaft. Die SPD dürfte ein Stadium erreicht haben, in dem sie weder von den emanzipatorisch orientierten Milieus noch von den herrschenden Eliten wirklich gebraucht wird noch gebraucht werden kann. Zu vermuten steht, dass sich dies erst ändern wird, wenn die oft zitierten, aber noch nirgendwo in Deutschland stattfindenden „sozialen Unruhen“ den Gebrauchswert der Parteiform SPD wieder steigen lassen. Dieser Zustand ist aber noch nicht erreicht. Angesichts des angsterfüllten Schweigens der überwiegenden Mehrheit der Arbeitnehmerschaft zu den Zumutungen der herrschenden Politik ist die Wahrscheinlichkeit dafür denkbar gering.
Mit der Zentrierung der Beiträge auf die Frage, ob die SPD in dieser oder jener Variante als politische Repräsentanz der modernen Arbeitnehmermilieus taugt, ist, so spannend und interessant auch aufbereitet, zugleich mein Problem mit diesem Sammelband beschrieben. Adressat der Beiträge ist die real existierende Sozialdemokratie, steht im Hintergrund die Hoffnung eines Teils der Autoren, man könne mit einer geschickten Mobilisierungspolitik und der Durchsetzung eines innerparteilich richtigen politischen Kurses in der SPD das Projekt einer sozialen Moderne auf parlamentarischem Weg durchsetzen.
Mittlerweile liegen wohl begründete aktuelle Studien und Arbeiten vor, die nahe legen, dass das System der Volksparteien selbst erodiert und für emanzipatorische Politik nicht mehr nutzbar ist. Franz Walter stellt zu Recht die Frage, ob die Parteien noch Vermittler zwischen den Lebenswelten unten und der parlamentarisch-gouvernementalen Arena oben sind. Colin Crouch analysiert die Leistungen der Parteiapparate unter dem Stichwort „Postdemokratie“. Auch von rechts wird diese Frage gestellt: neoliberale Meinungsbildner wie Hans Olaf Henkel, Gabor Steingart und Hans Herbert von Arnim schlagen plebiszitäre Volten gegen die Parteienmacht an, entwickeln wieder Vorstellungen von Präsidialsystemen mit plebiszitärer Basis wie in der Weimarer Republik. Der vorliegende Band zur Krise der SPD bleibt insoweit dabei stehen, die akute Inkongruenz zwischen Parteipolitik und den Ansprüchen moderner Arbeitnehmermilieus zu beschreiben. Die Frage danach, welche Möglichkeiten der politischen Aktion sich für die modernen Arbeitnehmermilieus (auch außerhalb) der offensichtlich gescheiterten Politik der SPD-Linken ergeben könnten, ist mit einem Verweis auf Erwerb und Verspielen von sozialem Kapital nur sehr bedingt beantwortet (vgl. Vester/Geiling, S. 42-46). Dennoch lässt sich der Band mit großem Gewinn lesen, weil er den Verfallsprozess einer Volkspartei exemplarisch nachvollziehbar und deutlich werden lässt.
Der oben grob skizzierte milieutheoretische Ansatz wird in dem Aufsatz „Soziales Kapital und Wählerverhalten – Die Krise einer Volks- und Mitgliederpartei“ durch Vester/Geiling (S. 25-52) auf ein trauriges Kapitel sozialdemokratischer Politik unter und nach Schröder angewendet. Die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes im Anschluss an die Feldstudien von Pierre Bourdieu zeigt sich in der akribisch durchgeführten Analyse der Wählerbewegungen und Mobilisierungsstrategien in Hessen und besonders in Kassel durch den ehemaligen Bundestagsabgeordneten und SPD-Linken Horst Peter und Mathias Lomb an späterer Stelle (S. 197-230).
Reinhardt gibt eine informativen Darstellung der „Parteiflügelkämpfe seit der Bundestagswahl 2002 – der Kampf um die Macht in der SPD“ (S. 53- 101). Nach einer im Großen und Ganzen faktenreichen und kritischen Analyse der Entwicklung in der SPD nach dem Rücktritt von Lafontaine 1999 kommt er zu der verblüffenden These, die SPD könne „ihr Profil als Partei des ‚Demokratischen Sozialismus’ zurückgewinnen (...) und die Partei Die Linke wieder als technokratisch-kommunistische Partei“ entlarven, wenn sie einige ihrer früheren Funktionäre und die gewerkschaftsorientierten Wähler zurückgewinne (S.100). Auch danach geht es mit Attacken gegen Die Linke weiter, um dann - mit taktischen Begründungen - Bündnisse mit eben dieser Partei ins Visier zu nehmen, „da die SPD dann wieder Reformpolitik für die Menschen gestalten könnte.“ (S.101). Vielleicht ist es ja gerade diese Form von Taktik, vermittelt in einer Form von „Neusprech“, die den von Vester und Geiling beschriebenen Milieus mittlerweile gehörig auf die Nerven geht und ihrem Bedürfnis nach Transparenz und Demokratie nicht gerecht wird. Demgegenüber legt die Dokumentation der Basisarbeit zur Gewinnung von Unterstützung des „Politikangebotes“ von Ypsilanti durch Peter und Lomb einen Weg nahe, wie die SPD gewinnen kann, ohne dass dies zu einem Nullsummenspiel für die Parteien der parlamentarischen Linken werden muss.
Auch der Beitrag von Schroeder „Die hessische SPD: Zwischen Machtanspruch und innerparteilicher Zerrissenheit“ (S.159-195) ist ambivalent. Schroeder zeichnet zunächst kenntnisreich und überzeugend den Weg der SPD als einer mit komfortablen parlamentarischen Mehrheiten ausgestatteten „Hessenpartei“ mit Ambitionen, sich als Gegenmodell zur autoritären Adenauerrepublik zu präsentieren, zum regional und politisch zerstrittenen und regierungsunfähigen Regionalverband ohne bundespolitische Ausstrahlung nach. Interessant und als gegen rechte Mythenbildung zu notierende Tatsache: die Mitgliederverluste der hessischen SPD begannen unter dem rechten Betonfacharbeiter Holger Börner und erreichten ihre größte Dynamik unter dem rechten Hans Eichel, der – wie Klimmt, Clement, Gabriel und Steinbrück – von Schröder für seine Wahlniederlage mit einem Posten im Bundeskabinett belohnt wurde.
Schroeder macht für das Debakel der SPD bei den Landtagswahlen 2009 im Wesentlichen drei Ursachen aus: die mangelnde Synchronisation mit der Politik der Bundes-SPD, indem die Hessen gegen die Agenda-Politik kämpfte, in dem „Wortbruch“ Ypsilantis, sich entgegen den Aussagen vor der Wahl von der Linken tolerieren zu lassen und drittens wegen des „fast putschistisch anmutenden Versuch, mit einem von außen eingeflogenen Kandidaten (Hermann Scheer) die Partei an der ökologischen Frage derart stark auszurichten, dass die handelnden Akteure vor Ort unzureichende Optionen besaßen, sich damit im Kontext ihrer eigenen Möglichkeiten zu arrangieren“ (S.194) – was immer das heißen mag. Die Analyse richtet sich mehr oder minder deutlich gegen den Kurs von Andrea Ypsilanti und deutet auf eine Neigung des Autors zum derzeit hegemonialen Flügel der Schröder-Steinmeier-Steinbrück-SPD hin, die in den dubiosen Gestalten um Jürgen Walter ihr hessisches Pendant gefunden haben.
Um was ging es in den Wahlkämpfen in Hessen 2008 und 2009: Peter und Lomb stellen überzeugend dar, dass sich Ypsilanti gegen den neoliberal-karrieristischen Flügel um Walter deshalb durchsetzen konnte, weil sie ein überzeugendes politisches Programm nicht nur verkündete, sondern auch durch Personen präsentierte. Die „Soziale Moderne“ bedeutete: „Gerechtigkeit sozial und ökologisch verstanden, Bildung als Herausforderung an die Gesellschaft, kein Kind mit seinen Talenten zurückzulassen, und Wirtschaft als nachhaltige Entwicklung, bei der Hessen Vorreiter für erneuerbare Energien als Grundlage allen Wirtschaftens werden soll“ (S. 201). Um auch hier Mythen anzukratzen: die schlimmsten Wahlniederlagen fuhr die Hessen-SPD vor 2009 mit den Parteirechten Krollmann, Eichel und Bökel ein. Ypsilanti stand für einen Anti-Agenda 2010-Kurs, Rainer Domisch als Bildungsgexperte aus Finnland für einen inklusiven Schulkurs und Hermann Scheer als langjähriger und glaubwürdiger Vertreter regenerativer Energien zur Wahl.
Diese Zusammensetzung musste alle Kräfte auf den Plan rufen, die den Kurs der Agenda-SPD, der sozialen Auslese und Klassenspaltung sowie der großen Energiekonzerne für alternativlos halten. Ypsilanti durfte nicht gewinnen und sie gewann auch nicht. Sie stand für eine innersozialdemokratische Politikvariante, die alle Eliten in Berlin zum Schwitzen gebracht hätte. Denn jenseits von wirklichen Systemalternativen hätte sie den Beweis dafür erbringen können, dass das „rot-grüne Projekt“ als innerkapitalistischer Modernisierungspfad nicht endgültig tot ist. Die Abgeordnete Metzger war nur eine dagegen vorgeschobene Figur, die sich mittlerweile nicht zu schade ist, der real existierenden SPD der Agenda 2010-Freunde quasi-linke Neigungen zu unterstellen.
Der Sammelband ist insgesamt auch deshalb spannend zu lesen, weil er im Februar 2009 abgeschlossen wurde und somit einen starken Aktualitätsbezug hat. Für Anhänger eines rot-rot-grünen parlamentarischen Projektes bietet sich Anschauungsmaterial in Hülle und Fülle, mit welchen Fallstricken und Widerständen dabei zu rechnen ist. Eine Chance hat ein solches Projekt der sozialen Moderne nach alledem nur, wenn sich eine Dynamik zwischen sozialen Bewegungen und parlamentarischer Repräsentanz entwickelt und eine Regierungsmehrheit als Ausdruck und Antwort auf die „sozialen Unruhen“ entsteht, deren Ausbleiben wir bislang konstatieren müssen.
Heiko Geiling (Hrsg.), „Die Krise der SPD – Autoritäre oder partizipatorische Demokratie“; Lit Verlag Dr. W. Hopf, Berlin 2009; 352 Seiten.
https://sopos.org/aufsaetze/4ab93ed2361fd/1.phtml
sopos 9/2009