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Warum ich Pirat bin

von Oliver Heins (sopos)

Karl Korsch schrieb 1935 einen Aufsatz mit dem Titel »Warum ich Marxist bin« (KoGA Bd. 5, S. 681–693; engl. Übersetzung). In Folge der in den 1960er Jahren entstandenen Neuen Linken gab Fritz J. Raddatz 1978 einen Sammelband unter diesem Titel heraus, in dem u. a. Wolf Biermann, Rudi Dutschke, Robert Havemann, Ernest Mandel und Oskar Negt begründen, warum sie Marxisten sind.

Was bei den späteren Autoren zu einer biographischen Erläuterung ihres intellektuellen Werdegangs geriet, war bei Korsch noch eine theoretische Erläuterung des Marxismus und der materialistischen Geschichtsauffassung. So gibt es nach Korsch keinen »Marxismus im Allgemeinen«, genausowenig wie es es die »Diktatur« im Allgemeinen oder die »Demokratie« im Allgemeinen gebe. Es gebe nur bestimmte bürgerliche Staaten auf einer je bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe. Diese Methode der historischen Konkretisierung müsse auch für den Marxismus Anwendung finden, unter dessen Namen verschiedenste theoretische Systeme und Bewegungsformen firmierten. Korsch weigert sich folglich, die verschiedenen theoretischen Prinzipien und praktischen Erfahrungsregeln des Marxismus in seiner historischen Entwicklung mit systematischer Vollständigkeit zu behandeln und stellt sich stattdessen »rücksichtslos auf den Boden der gegenwärtigen praktischen Brauchbarkeit«. Er erörtert, »welche bestimmten marxistischen Gedanken, Einstellungen, Verhaltensweisen heute hier unter den gegebenen Verhältnissen (...) als Richtschnur des Denkens und Handelns« dienen können. Als die in diesem Sinne »starken Seiten« des Marxismus macht er vier Punkte aus:

»1. Der Marxismus ist nicht allgemein, sondern spezifisch.
2. Er ist nicht positiv, sondern kritisch.
3. Sein Gegenstand ist nicht die bestehende und in ihrer Beständigkeit bestätigte, sondern die untergehende und als untergehend bewiesene kapitalistische Gesellschaft.
4. Sein Zweck ist nicht die Anschauung und der Genuss der bestehenden Welt, sondern ihre praktische Umwälzung

Weil ich mich diesen Thesen anschließen kann, also gerade weil ich Marxist bin, bin ich Pirat! Ich möchte dies kurz erläutern, indem ich mich Korschs Text ebenfalls utilitaristisch nähere:

1. Der Marxismus ist nicht allgemein, sondern spezifisch.

Die materialistische Geschichtsauffassung stellt keine abstrakt-metaphysischen Entwicklungsgesetze auf. Vielmehr bezieht sich diese immer auf spezifische, historisch bestimmte Gegenstände. Dass viele Marxisten stattdessen eine »Allgemeingültigkeit der Grundlehren« behaupten, widerspricht diesem Grundgedanken der materialistischen Geschichtsauffassung. Theoretiker wie Eduard Bernstein, die dem Marxismus einer historischen Revision unterwerfen, stehen Marx viel näher als die ihn bloß nachplappernde Orthodoxie.

Derzeit ist eine Revolution in der Entwicklung der Produktivkräfte zu beobachten, die unter den Stichworten »Informations-« oder »Wissensgesellschaft« abgehandelt wird. Das Vordringen digitaler Computer in jeden Lebensbereich, die Digitalisierung der Medien, die allgegenwärtige Vernetzung und die dadurch erfolgte Revolutionierung der Kommunikation, die Biotechnologie haben die Welt in einer Weise verändert, die noch vor fünfzig Jahren undenkbar gewesen wäre. Nicht nur die alltägliche Lebenswelt der Menschen wurde durch diese Revolution verändert, auch die Produktionsprozesse. Wissen ist längst zur wichtigsten Produktivkraft geworden. (Vgl. auch Sechs Thesen zur Piratenpartei.)

Dieser Wandel wird von den etablierten Parteien nicht in seiner vollen Dimension wahrgenommen. Auch die linken Parteien (SPD, GRÜNE, DIE LINKE) sind immer noch der alten Welt verhaftet, und die Kämpfe, die derzeit um das sogenannte »Geistige Eigentum« und die Einschränkung der Bürgerrechte geführt werden, bleiben in ihrer Tragweite unbegriffen. »Meinungs- und Pressefreiheit« gelten als Rechte, die im Kern auf der Straße (als Demonstrationsfreiheit) sowie durch zentralisierte Medien (als Pressefreiheit) durchgesetzt werden; und Klassenkampf findet primär in den Betrieben, im Kampf um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten (oder in den entsprechenden Abwehrkämpfen) statt. Die gegenwärtige Tendenz zur Einhegung von Wissen, die de facto eine neue Form von ursprünglicher Akkumulation ist, wird allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen.

2. Der Marxismus ist nicht positiv, sondern kritisch.

Marx hat die bürgerliche Gesellschaft und ihre Ökonomie nicht bloß beschrieben. Seine »Theorie ist weder positive materialistische Philosophie noch positive Wissenschaft«, sondern vor allem Kritik. Sein Hauptwerk »Kapital« steht nicht einfach in Tradition der bürgerlichen Nationalökonomie, sondern ist eine »Kritik der politischen Ökonomie«, wie sein Untertitel lautet. Dieser kritische Impetus wurde von späteren Marxisten gegenüber dem wissenschaftlichen Prinzip vernachlässigt, wonach die Entwicklung zum Sozialismus mit »naturgegebener Notwendigkeit« vor sich gehen müsse – gleichsam ohne tätigen Eingriff der Menschen.

Trotz dieser Positionierung darf freilich der wissenschaftliche Charakter nicht durch eine Unterscheidung in für das Proletariat »nützliche« oder »schädliche« Sätze aufgegeben werden; »in diesem Sinne (...) bleibt auch in der schärfsten Hervorkehrung des kritischen Prinzips in der materialistischen Revolutionstheorie des Marxismus die streng empirische und ›naturwissenschaftlich treue‹ Erkenntnis der ökonomischen Bewegungs- und Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft und des proletarischen Kampfes immer eingeschlossen.«

Obwohl sich die Piratenpartei nach eigener Auffassung dem traditionellen Links-Rechts-Schema entzieht und für »objektiv richtige« (= wissenschaftliche) Lösungen einsetzt, ist sie parteiisch. Sie ergreift Partei für die individuellen Bürger- und Menschenrechte, auch dort, wo diese mit den Verwertungsbedürfnissen der Industrie kollidieren. Sie ist die einzige Partei, die diese Rechte unbedingt und vorbehaltlos verteidigt und nicht bereit ist, sie aufgrund etwaiger »höherer Interessen« zu opfern.

3. Gegenstand des Marxismus ist nicht die bestehende und in ihrer Beständigkeit bestätigte, sondern die untergehende und als untergehend bewiesene kapitalistische Gesellschaft.

Aus dem Oben gesagten ergibt sich, dass der Marxismus ein »spezifisches Instrument geschichtlich gesellschaftlich praktischer Erkenntnis« ist. Sein Interesse richtet sich auf die heutige bürgerliche Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung, wobei er diese vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der inhärenten Unstimmigkeiten, mithin ihrer Krisenhaftigkeit, betrachtet.

Eine von Marx konstatierte grundlegende Krise ist die Akkumulationskrise, die aus der dem Kapital inhärenten Notwendigkeit hervorgeht, die lebendige Arbeit immer mehr durch Maschinen zu ersetzen, wo diese doch zugleich die einzige Quelle der Produktion von Mehrwert ist. Das Kapital schließt die unmittelbare Arbeit, die doch das einzige wertbestimmende Moment der Produktion ist, immer mehr aus dem Produktionsprozess aus. Die unmittelbare Arbeit wird immer abhängiger von der wissenschaftlichen Arbeit, der technologischen Anwendung der Naturwissenschaften, die nunmehr als erste Produktivkraft erscheint. Marx schrieb in den Grundrissen: »Das Kapital arbeitet so an seiner eignen Auflösung als die Produktion beherrschende Form.« (MEW 42, 596) Das Kapitalverhältnis wird so notwendig ab einem gewissen Punkt zur Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit, die es selbst doch unweigerlich forttreiben muß. Das Kapital wird zur bornierten Grundlage der Produktion und Marx erwartete, dass an diesem Punkt das Kapital an sein historisches Ende kommen und »als Fessel notwendig abgestreift« würde.

Dieser Punkt ist mittlerweile erreicht. Während die herrschenden Klassen die digitale Allmende aufzuteilen und einzuhegen suchen, verliert sich die Linke in Abwehrkämpfen in der alten Ökonomie. Die Piratenpartei ist die einzige Partei, die konsequent für das Internet und die digitale Allmende eintritt und diese verteidigt. Sie stellt damit objektiv eine revolutionäre und demokratische Kraft dar. Sollte dieser Kampf verloren gehen, wären die Folgen mehr als fatal: Lebendige Arbeit und Kapital, der eigentümliche Antagonismus der industriellen Epoche, sind ja bei aller Feindschaft zugleich notwendig aufeinander angewiesen – das Kapital vermag sein in Maschinen vergegenständlichtes Produktionswissen erst durch lebendige Arbeit produktiv zu realisieren, und die lebendige Arbeit ist durch die Eigentumsverhältnisse von den Produktionsmitteln und damit vom formalen Wissen getrennt. Dass es letztlich jedoch die lebendige Arbeit war, die die Welt produzierte, zeigte die Möglichkeit von Emanzipation in dieser Herr-Knecht-Dialektik auf: Die Arbeiter schienen zumindest potenziell fähig, sich das formale Wissen anzueignen und als lebendiges Produktionswissen zu integrieren.

Die kapitaleigene Utopie von der vollautomatischen Produktion würde das Ende dieser Dialektik bedeuten. Sie wäre nicht aufgehoben, sondern schlicht außer Kraft gesetzt – ersetzt durch Barbarei. In einer »post-industriellen« Gesellschaft wäre der Knecht vom vollautomatisierten Produktionsprozess ausgeschlossen. Er verfügte nicht mehr um produktionsrelevantes – und das heißt weltrelevantes – lebendiges Wissen. Relevant wäre einzig und allein das formale Steuerungswissen des Herrn. Der Knecht wäre zum bloßen Dienstleister degradiert, dem vom Herrn die notwendigen Lebensmittel gönnerhaft zugeteilt würden, mit deren Produktion er jedoch nichts mehr zu tun hätte. Damit wäre aber zugleich die gesellschaftliche Grundlage für die Demokratie – die formale Gleichheit der Marktteilnehmer – obsolet geworden und der Rückfall in die Barbarei unvermeidlich.

4. Zweck des Marxismus ist nicht die Anschauung und der Genuss der bestehenden Welt, sondern ihre praktische Umwälzung.

»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern Klarmachen zum Ändern!

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sopos 9/2009