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Das eigene Interesse, so die Leserschaft, beschränke sich keineswegs auf Verkaufszahlen und Börsenkurse. Man pflege »dezidiert kulturelle Präferenzen«. Ohne allerdings nähere Angaben zu machen. Die Bums-Redaktion gab dem Drängen ihrer anspruchsvollen Kundschaft nach. Der neue Kulturteil trägt den Namen »ViViVi« (Vino Vidi Vici). Man ahnt den erweiterten Kulturbegriff, der hier vertreten wird: die Hohe Schule des Carpaccio und Prosecco. Mit wöchentlichen Trendmeldungen aus den Hauptstädten der Bewegung, Baiersbronn und Bergisch Gladbach, wo die Gaumensegler zu Hause sind und in den Hotelzimmern der Gault Millau das Neue Testament ersetzt. Aber unsere Ahnungen sind naiv. Sie bleiben weit hinter dem dynamischen Countdown-Untertitel von »ViViVi« zurück: »Aufleben! Ausgeben! Abheben!« Ja, hier geht die Post ab. Shoppen und koksen, das ist Kultur, und zwar, wie man in diesen Kreisen mit einem originellen Endreim zu sagen pflegt: pur! Behindertengerecht Wer einige Zeit in der Kleinstadt lebte, kannte ihn. Ein Mann mittleren Alters, immer gut gekleidet, der scheinbar ziellos durch die Straßen lief und vor sich hin redete, nicht laut, nicht leise, immer deutlich vernehmbar. Nach allem, was man hören und sehen konnte: ein Unzufriedener, der es gerne anders auf der Welt hätte. Seit kurzem besitzt der Sonderling ein Handy. Wenn er jetzt durch die Straßen läuft und palavert, hat er das Gerät stets am Ohr. Plötzlich ist nichts Sonderbares mehr an ihm. Die ihn nicht kennen, halten ihn für einen tüchtigen Business-Mann, dem kaum eine freie Minute vergönnt ist. Die Sonntagsfrage »Wenn nächste Woche Sonntag wäre, was würden Sie dann wählen?« Der Meinungsforscher vom Institut »Mehr Demoskopie wagen« hatte die Frage schon so oft gestellt, daß es gar nicht mehr er selbst war, der da sprach, die Wörter purzelten irgendwie automatisch aus seinem Empirikermaul heraus. Darum bemerkte er den Unsinn nicht, den er redete. Ähnlich abwesend reagierte die befragte Dame. Sie hatte die Frage bereits so oft gehört, daß sie, noch bevor der Forscher ausgeredet hatte ihre Antwort gab: »CDU.« Kaputtmacher mit Perspektive Lauter kolossale Männer mit schwerem Gerät. Pulsierende Bizeps und die schaffende Lust der Zerstörung prägen das Bild. Die Abbruchfirma ist gut im Geschäft. Doch kaum hat man mit mächtigen Prankenhieben das alte Mehrfamilienhaus dem Erdboden gleich gemacht, steht wie aus dem Ei gepellt ein funkelnder Bürokomplex da. Nicht ohne Hintersinn hat Firmenchef Nobby, einst Spartakusmitglied und darum stellungslos gebliebener Gymnasiallehrer, sein Unternehmen »Demontagen Sisyphos« genannt. Jetzt plant er mit Eva zusammenzugehen. Eva (Ex-KPD/ML) betreibt das »Trendbureau Kassandra«. Warum die Fusion, wenn nicht aus Liebe? »Der Synergieeffekte wegen«, sagt Nobby. Privat geht vor Katastrophe Wer glaubt, am 11. September 2001 habe es in New York nur ein Thema gegeben, der kennt den Dienstboten Jonathan nicht. Seine Wut über eine 20minütige Zugverspätung in der Bronx war so groß, daß er die allgegenwärtigen Bilder vom Einsturz der beiden Türme des World Trade Centers wie eine ärgerliche Ablenkung von der Hauptsache ignorierte. Man mag Dienstboten, zumal wenn man selbst keiner ist, für schlicht gestrickt und gefühlsarm halten. Aber was ist mit Kafka, bekanntlich kein Dienstbote? Was ist mit Thomas Mann, auch kein Dienstbote? Als Deutschland am 1. August 1914 Rußland den Krieg erklärte, hielt Franz Kafka in seinem Tagebuch den Besuch des nachmittäglichen Schwimmunterrichts fest. Bei Thomas Mann findet sich am Tag des Abwurfes der ersten Atombombe eine Notiz über den Kauf von zwei Oberhemden. »Privat geht vor Katastrophe«, hieß es in der DDR, wenn man die eigenen Interessen über die seines volkseigenen Betriebes stellte. »Privat geht vor Katastrophe« scheint aber mehr als nur DDR-Folklore zu sein. »Privat geht vor Katastrophe« ist die Maxime für das Überleben in einer Welt, die sich einbildet, Hiroshima sei nicht überall. Verstaubt, vergilbt und rissig Gottfried, der Büchernarr, blickt zurück. Als junger Mann habe er die Bücher nur benutzt, um sie zu lesen. Ein Fühlloser sei er gewesen, ein Rohling. War er am Ende eines Buches angekommen, landete es bei den anderen Leichen in der Ecke, wo sie zusammen Schimmel ansetzten. Mit dem Älterwerden sei er spezieller geworden, meint Gottfried. Heute möchte er, daß die Bücher einfach nur da sind und es sich im Regal bequem machen. Er möchte sie einfach nur um sich haben, in großer Zahl, wie Lebensgefährten und Freunde. Bücher nur zu lesen, erwecke in ihm heute das ungute Gefühl der einseitigen Auspressung. Oft reiche es schon, ein handwerklich gut gemachtes Buch in der Hand zu wiegen, es in der Mitte aufzuschlagen, dabei das leise Knacken zu vernehmen, als hätte es Ge- lenkrheumatismus, und mit den Fingerkuppen über die Fadenheftung zu streichen – er sagt: »mit nackten Händen in den Schritt zu greifen«. Unsere 18jährigen können das nicht verstehen. »Bücher sind out«, sagt Till, »die Zukunft gehört dem Laptop.« »In den Bibliotheken stinkt es nach altem Papier«, meint Kathi. »Wer guckt denn heute noch im Brockhaus nach«, fragt John, »im Netz kommst du schneller an deine Infos.« Cilly jammert, sie finde sich in Bibliotheken überhaupt nicht zurecht: »Die sind so wirr geordnet. Warum stehen Psychologie-Bücher unter dem Buchstaben »D«, obwohl das Wort Psychologie in allen Weltsprachen mit »P« beginnt?« Hört Gottfried die Einwände der Jungen, spürt er, wie sehr er von den Druckwerken geprägt ist, ein Kind des Gutenberg-Zeitalters, ein Print-Kind durch und durch. Zu einer aussterbenden Spezies zu gehören, und dazu zählt er, ist vielleicht noch erträglich. Unerträglich aber findet es Gottfried, daß die Idioten, die zum Googlen verdammt sind, weil unsere Bibliotheken ihr verkümmertes Abstraktionsvermögen überfordern, jetzt den Ton angeben und die Richtung bestimmen. Es gibt noch Hoffnung Ein erfreuliches Lebenszeichen des gesunden Menschenverstandes wird aus Sachsen-Anhalt gemeldet. In der Turnhalle der Alexander-Kluge-Realschule in Halberstadt fand der Wahlkampfauftritt eines ranghohen Landespolitikers ein unerwartetes Ende. 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung wagte der Mann die »erfreulich positive Prognose«, wie er, ohne rot zu werden, betonte, »dass es keinem hier im Saale in Zukunft schlechter gehen wird als früher in der DDR.« Daraufhin bildete sich ohne erkennbare Anführerschaft eine energiegeladene Spontanmasse, die den Politiker rückwärts durch die Schwingtür ins Freie beförderte, wo neue Herausforderungen auf ihn warteten.
Erschienen in Ossietzky 16/2009 |
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