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Deutschland dürfe sich energiepolitisch nicht isolieren, hieß es allenthalben. Doch wie steht es derzeit wirklich um die Ausbreitung der Nuklearenergie? Erstmals seit 42 Jahren wurde im Jahr 2008 weltweit kein einziges neues Atomkraftwerk in Betrieb genommen. Der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Energieversorgung ist auf unter 2,5 Prozent gesunken. Während seit Jahren von interessierter Seite eine Renaissance der Atomenergie behauptet wird, zeigt die Statistik der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), daß dies nur Propaganda ist – in der Absicht, die Akzeptanz für Atomkraftanlagen zu erhöhen. Mit der Abschaltung eines Atomkraftwerkes in der Slowakei sank 2008 die Zahl der offiziell in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke auf 438. 1999 waren weltweit 440 AKW am Netz gewesen. Im Jahr 2008 wurde mit dem Bau von zehn neuen AKW begonnen. Insgesamt waren 48 in Bau. Zum Vergleich: 1993 waren 70 in Bau, 1999 waren es 36. Auch im abgelaufenen Jahr wurde der Bau neuer AKW fast nur in Planwirtschaftsländern oder aber mit staatlichen Subventionen begonnen: zwei in Rußland, zwei in Südkorea und sechs in China. Das verweist schon auf ein Problem: Ohne Subventionen, ohne staatliche Hilfe findet sich kein Investor. Zurück nach Deutschland. Die CDU/CSU macht sich trotz des Krümmel-Desasters für eine Laufzeitverlängerung der 17 verbliebenen Atomkraftwerke stark. Mit der Forderung nach unbegrenzten Laufzeiten für »sichere Atomkraftwerke« heizt der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) die Debatte über die Zukunft der Atomkraft weiter an. »Für alle Kernkraftwerke, die dem Stand der Technik entsprechen, werden wir die Laufzeitbeschränkung aufheben«, sagte der CDU-Politiker dem Hamburger Abendblatt. Die Reaktoren müßten in Betrieb bleiben, solange sie zuverlässig Strom lieferten. Damit ging Oettinger über das Wahlprogramm der Union hinaus, das der Atomkraft als einer »Brückentechnologie« längere, aber nicht unbegrenzte Laufzeiten verspricht. Atomkraft kommt teuer, das spricht sich herum. Nehmen wir das Vorzeigeobjekt, das finnische Atomkraftwerk Olkiluoto. Zum Festpreis von 3,2 Milliarden Euro wollten Siemens und Framatome das erste Kraftwerk der »neuen Reaktorgeneration« errichten. Start der Stromproduktion sollte das Jahr 2009 sein. Jetzt werden Mehrkosten von 1,5 Milliarden Euro fällig. Und das Kraftwerk wird nicht vor 2012 fertig werden. Der Strompreis an der Leipziger Energiebörse betrug im 1. Quartal 2009 für die Grundlast 4,7 Cent pro Kilowattstunde gegenüber 5,64 Cent im Jahr zuvor, für die Spitzenlast in den Abendstunden 6,1 Cent. Die Stromkonzerne beziffern die Produktionskosten für Atomstrom mit 3 bis 4 Cent. Da scheint die Atomkraft kostengünstig. Kostengünstig? Nicht für die Verbraucher. Der Preisrückgang wurde nicht an sie weitergegeben. Der Börsenpreis wird nach den Produktionskosten des teuersten Kraftwerks ermittelt, das am Netz ist. Wenn das profitabel ist, dann sind es die abgeschriebenen Atomkraftwerke erst recht. Jedes spült den Konzernen einen Extragewinn von 200 bis 300 Millionen Euro jährlich in die Kasse. Strom aus den Altreaktoren ist also in der Tat billiger als Strom aus Kohle, Gas oder Wind. Die deutschen Energiekonzerne könnten durch eine Laufzeitverlängerung für ihre Atomkraftwerke möglicherweise dreistellige Milliardengewinne erwirtschaften. Einer nichtöffentlichen Studie der Landesbank Baden-Württemberg zufolge, über die die Berliner Zeitung berichtete, würden e.on, RWE, Vattenfall und EnBW Zusatzerlöse in Milliarden-Höhe erzielen, falls die Kraftwerke 25 Jahre länger laufen dürfen und die Strompreise steigen. In einem konservativeren Szenario gehen die Autoren der Studie davon aus, daß die Laufzeiten um zehn Jahre verlängert werden und der Strompreis niedrig bleibt. In diesem Fall beliefen sich die Zusatzgewinne auf insgesamt 38 Milliarden Euro. Sollte es nach der Bundestagswahl zu einer schwarz-gelben Koalition kommen, gilt eine Laufzeitverlängerung für die 17 deutschen Meiler um zumindest acht Jahre als wahrscheinlich. Doch Atomstrom ist nicht billig. So verweist Lutz Mez von der Freien Universität Berlin darauf, daß bei den Reaktorneubauten – siehe Finnland und Frankreich – die Produktionskosten einer Kilowattstunde bei 10 Cent liegen, wenn man realistische 6,3 Milliarden Euro Investitionskosten annimmt. Bei einem modernen Gaskraftwerk beläuft sich der Produktionspreis nur noch auf 3,5 Cent. Auch die Produktionskosten für Windenergie im Inland liegen nur noch bei 6 bis 10 Cent, Strom aus Wasserkraft kostet zwischen 3 und 10 Cent. Vermeintliche Kostenvorteile gelten ohnehin nur, weil implizite Begünstigungen nicht mitgerechnet werden. So profitieren die AKW-Betreiber seit Jahrzehnten davon, daß fossile Brennstoffe besteuert werden, während Kernbrennstoffe befreit sind. Niemand hat bislang den Versuch unternommen, diesen Kostenvorteil zu berechnen. Zudem durften die Konzerne knapp 30 Milliarden Euro für den Rückbau von Atomanlagen und die Endlagerung zurückstellen. Auf diese Teile ihres Gewinns mußten sie niemals Steuern zahlen. Andere Begünstigungen sind in Haushaltstiteln verschiedener Ressorts versteckt. Der Staat läßt immer noch stattliche Summen in die Forschung fließen. 3,1 Milliarden Euro sind es zwischen 2007 und 2011 für Euratom. Für den Bau von Forschungsreaktoren zahlten die Steuerzahler in (West-)Deutschland etwa 20 Milliarden Euro; der öffentliche Finanzierungsanteil an gescheiterten Projekten wie dem Schnellen Brüter Kalkar, der Wiederaufbereitungsanlage (WAA) Wackersdorf, der WAA Karlsruhe oder dem Kugelhaufenreaktor in Hamm-Uentrop beläuft sich auf rund neun Milliarden Euro. Die Sanierung des Uranabbaugebiets Wismut AG kostete 6,2 Milliarden Euro. Mit 0,5 Milliarden Euro fällt der Abriß des Versuchsreaktors Jülich noch bescheiden aus. Die Summe derartiger direkt berechenbarer Begünstigungen für den Zeitraum 1956 bis 2006 beträgt nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 45,2 Milliarden Euro. Zählt man die Forschungsausgaben der Bundesländer und der EU hinzu, so lagen die öffentlichen Ausgaben für die Atomenergie in diesem Zeitraum bei etwa 50 Milliarden Euro. Das DIW hat die öffentlichen Ausgaben – bezogen auf eine kumulierte atomare Stromerzeugung von rund 4.100 Terrawattstunden bis Ende 2006 – auf eine Kilowattstunde Atomstrom umgerechnet: Dann ergibt sich ein Subventionsbetrag von 1,2 Cent pro Kilowattstunde. Atomkraft hat zudem einen ökologischen Preis. Atomabfälle müssen eine Million Jahre sicher von der Biosphäre abgeschlossen werden. Das ist nicht möglich. Schon innerhalb einer Generation havarierten die beiden Atommülldeponien auf deutschem Boden, die Asse II (West) und Morsleben (Ost). In der Asse II bei Wolfenbüttel wurden in den 1960er Jahren von der Gesellschaft für Strahlenforschung 124.494 Fässer mit schwachaktivem und 1.293 Fässer mit mittelaktivem Müll gestapelt und in Bergwerken eingelagert. Diese Deponie galt als Versuchsfeld, als Pilotanlage für Gorleben, und sie säuft jetzt ab. Die Kosten für die Sanierung der Asse II, sollte das überhaupt noch möglich sein, gibt das Bundesumweltministerium heute mit bis zu vier Milliarden Euro an. Das zweite atomare Endlager, die Kaligrube Morsleben, drohte ebenfalls einzustürzen und wurde eilig dichtgemacht. Das Bundesamt für Strahlenschutz schätzt, daß sich die Kosten für die Stabilisierung der Grube auf 1,2 Milliarden Euro belaufen. Die ökologischen Folgen – das Ausbreiten von Strahlung über die Wasserpfade – lassen sich pekuniär nicht fassen. Die verheerendsten externen Kosten, nämlich die volkswirtschaftlichen Kosten für einen Super-GAU (Kernschmelze, Bersten des Reaktorschutzbehälters, Freisetzung der Radioaktivität), liegen nach Berechnungen des Bundeswirtschaftsministeriums bei 5.000 Milliarden Euro. Krasser kann der Widerspruch zwischen ökonomischen Interessen und ökologischem Desaster nicht ausfallen. 2001 wurde die Deckungsvorsorge für Reaktorunfälle auf nur 2,5 Milliarden Euro erhöht. Würde hingegen das volle Risiko versichert, würde sich der Preis für eine Kilowattstunde Atomstrom um fünf Cent erhöhen. Wolfgang Irrek vom Wuppertal Institut sieht vor allem in der Haftpflicht einen entscheidenden Hebel zur Herstellung von Kostengerechtigkeit. Mit der Gewinnung von Uranerz für die Brennelementfertigung geht ein handfester ökologischer Skandal einher. Ich komme noch einmal auf das Sanierungsgebiet der Wismut AG zurück: Um 30 Tonnen Kernbrennstoff zu gewinnen, müssen bei einem Urangehalt von circa 0,1 Prozent 30.000 Tonnen Erz gefördert werden. Für die Beladung eines Reaktorkerns benötigt man rund 90 bis 100 Tonnen Schwermetall. Mit anderen Worten: Volumenmäßig wurden zuvor 100.000 Tonnen Erz bewegt. Um an das Erz heranzukommen, wird beim Tagebau Deckgestein in einer Menge bis zum Zehnfachen der Erzmenge entfernt. Dieser Abraum wird auf riesigen Halden gelagert und ist schwach radioaktiv (Radongas). Bei der Uranerz-Aufarbeitung wird aus dem uranhaltigen Gestein das Uran herausgelöst. Dazu wird das Erz erst gemahlen und dann meist mit Schwefelsäure gelaugt. Bei diesem Verarbeitungsschritt wird nicht nur Uran herausgelöst, sondern auch Molybdän, Vanadium, Eisen, Blei, Arsen ... Von diesen Stoffen muß Uran in einer ganzen Reihe von Prozessen unter Zugabe von Chemikalien getrennt werden, bis es in Form von Yellow Cake (= U3O8) vorliegt. In den Rückständen (Schlämmen) sind immer noch 85 Prozent der ursprünglichen Radioaktivität enthalten, darunter langlebige Strahler wie Thorium 230 und Radium 226. Die belastete Fläche der Wismut AG in Sachsen und Thüringen war annähernd so groß wie das Saarland. Allein 1.200 ehemalige Bergarbeiter sind an Lungenkrebs erkrankt, der eindeutig berufliche Ursachen hat (Frankfurter Rundschau 10.12.96). Heute trifft der Uranerzabbau in erster Linie indigene Völker (Afrika, Australien, USA, Kanada). Die Verseuchung und Verwüstung weiter Landstriche durch den Tagebau, die Kontamination des Trinkwassers und Krebserkrankungen sind Folgen dieses Nuklearkolonialismus. Wer kann sie beziffern? Klar ist: Atomkraft beschert den Konzernen Extraprofite, der Allgemeinheit Extrakosten. Wolfgang Ehmke, Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, gehört zu den Organisatoren des Anti-Atom-Trecks nach Berlin, wo die Schlußkundgebung unter dem Motto »Mal richtig abschalten!« am 5. September um 13 Uhr am Hauptbahnhof stattfinden wird (Näheres unter www.anti-atom-treck.de).
Erschienen in Ossietzky 15/2009 |
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