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Ein Marxist wäre nicht zum Staatsphilosophen der rosa-grünen Ära der Bundesrepublik geworden. Peter Sloterdijk, stark verärgert. – Wieder einmal haben Sie aufmerksamkeitsökonomisch Vielversprechendes geäußert: Die progressive Einkommensteuer sei »ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung«, und insofern lebten wir gegenwärtig »nicht im Kapitalismus, wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik« neuerdings wieder suggeriere, sondern, »cum grano salis« formuliert, im »steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus«, offiziell »schamhaft Soziale Marktwirtschaft« genannt. Sie wundern sich, daß angesichts dessen die »Leistungsträger« noch nicht zum »antifiskalischen Bürgerkrieg« übergehen. Wir vermuten, daß bei dieser Ihrer Theorie persönliche Betroffenheit mitspielt. Das Finanzamt kann starken Verdruß bereiten, auch einem Leistungsträger im philosophischen Diskurs. Franziska Drohsel, furchterregend. – Der Bundeskongreß der Jungsozialisten in der SPD hat Sie als Verbandsvorsitzende wiedergewählt, allerdings mit einer nicht mehr ganz so üppigen Mehrheit. Woher kamen die Bedenken etlicher Delegierter Ihnen gegenüber? Wir ahnen den Grund. Der Zeitung junge Welt hatten Sie zum Juso-Treffen ein Interview gegeben und darin über den möglichen Nutzen Ihrer Mutterpartei gesagt: »Wenn das System in die Knie gezwungen wird, ist es sicher nicht von Nachteil, wenn sich die Sozialdemokratie auf die richtige Seite der Barrikade schlägt.« Das mag einigen Ihrer Genossen denn doch zu viel Schaumschlägerei gewesen sein. Thomas Schmid, zu Flüchtigkeiten neigend. – In der Welt am Sonntag machen Sie sich Sorgen um die SPD. Diese Partei müsse sich endlich selbstbewußt zu ihrer Abkehr von sozialistischen Träumen bekennen, zu den »klugen Wendemanövern« in ihrer Geschichte, besonders zu »Godesberg 1959«, als die Sozialdemokratie »von geistigen Traditionslasten, etwa der Forderung nach Verstaatlichung der Produktionsmittel,« Abschied genommen habe. Doch ganz so wendig, wie Sie, der Oberredakteur der Sparte Anspruchsvolles im Springer-Konzern, meinen, war das Godesberger Programm nicht; in den Zeiten Ihrer Sozialistika-Lektüre werden Sie als »revolutionärer Kämpfer« solche revisionistischen Texte nur flüchtig gelesen haben. Immerhin wurde in Godesberg beschlossen: »Wo das Großunternehmen vorherrscht, gibt es keinen freien Wettbewerb« Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluß auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht ... Gemeineigentum ist eine legitime Form der öffentlichen Kontrolle.« Was würden Sie schreiben, wenn Frank-Walter Steinmeier solche Sätze in sein Programm übernähme? Helmut Schmidt, altkanzlernd. – Beim »Tag des Wirtschaftsjournalismus« in Köln haben Sie, nach Ihrer Lektüre-Empfehlung gefragt, zwei Bücher genannt, die zukünftige Schreiber ökonomischer Beiträge unbedingt lesen sollten: »General Theory« von John Maynard Keynes aus dem Jahre 1936 und »Das Finanzkapital« von Rudolf Hilferding, 1910 erschienen. Ein bedenkenswerter Ratschlag. Keynes ist ja noch einigermaßen bekannt; was Hilferding betrifft, könnten Sie nachhelfen. Wie wäre es mit einem Fortsetzungsabdruck in der von Ihnen mitherausgegebenen Zeit? Und lassen Sie dann bitte das letzte Kapitel nicht aus, »Das Proletariat und der Imperialismus«, nach Hilferding sachnotwendig mit dem Nachdenken über das Finanzkapital verbunden. Wolfgang Huber, immer im Dienst. – Nach Ihrem Waterloo mit der »Pro-Reli«-Armee haben Sie – noch Bischof der Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), aber nicht mehr lange – für Ihren Ruhestand ein Kommando übernommen, das Ihnen in unserer Militärgesellschaft Erfolg verspricht: den Vorsitz des Kuratoriums für den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche, Symbol des preußischen Militarismus. Ihre Einführung in Ihr neues Amt fand in der dortigen Nikolaikirche statt, am selben Ort, wo Ihr bischöflicher Vorvorvorgänger, Otto Dibelius, dem Sie lt. Evangelischer Pressedienst »dankbar für seine Gestaltungskraft« verbunden sind, vor 76 Jahren, am »Tag von Potsdam«, die Naziführung zur Gewaltanwendung »mit Gott« ermunterte: »Wenn es um Leben und Sterben der Nation geht, dann muß die staatliche Macht kraftvoll und durchgreifend eingesetzt werden, sei es nach außen oder nach innen.« Anschließend begab er sich zur militärstaatskirchlichen Weihestunde mit Hindenburg und Hitler in die Garnisonkirche. Schon drei Jahre zuvor hatte Dibelius, wegweisend für die militärtheologische Lehre der Kirche, dargelegt, wie »der Christ in den Krieg geht«: »Wenn es das Vaterland fordert, wird er in diese Welt des Grauens freudig und getrost hineingehen. Er wird seinen Mann stehen und keinen Dienst verweigern, der ihm befohlen wird. Er steht im Dienst seines Gottes, wenn er für das Vaterland kämpft... Das ist der Weg der Kirche.« Ihr Stellvertreter im Kuratoriumsvorsitz, General a. D. Jörg Schönbohm, wird Sie im gleichen Sinne zackig unterstützen. Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin. – In einem Moment, in dem der Fall Kurras wieder allgemeines Interesse findet, haben Sie die Akteneinsicht gesperrt und Ermittlungen wegen eines »Anfangsverdachts« aufgenommen. Die Hoffnung, Benno Ohnesorgs Erschießung nachträglich als Auftragsmord des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit erklären zu können, erinnert allerdings – auch wenn man Geheimdiensten gleich welcher Couleur alles und jedes zutrauen kann – eher an Konrad Adenauers Versuche Anfang der 1960er Jahre, die damalige Welle neonazistischer Schmieraktionen und Friedhofsschändungen als kommunistisch gesteuerte Aktion zur Diskreditierung der BRD darzustellen. Aber wenn Sie schon eine neue Untersuchung des Falls planen, sollten Sie in die Ermittlungen unbedingt auch einige andere Verdächtige einbeziehen. Wie konnte sich der SED-Mann mit dem autoritären Charakter und dem Waffentick so reibungslos in eine lupenrein demokratische Westberliner Polizei integrieren? Wer lenkte die brutalen »Jubelperser«, die mit ihrer von der Polizeiführung liebevoll geduldeten Prügelorgie die Situation erst herbeiführten, in der Kurras sich den Schießbefehl geben konnte? In wessen Sold stand diese Polizeiführung, die in die Menge hineinzustechen befahl wie in eine Wurst, die platzen soll? Wer brachte Senat und Medien dazu, eine Pogromstimmung gegen friedliche Demonstranten zu schüren? Müssen die, die einen Todesschützen bezahlten, nicht auch da die Fäden gezogen haben? Und wieso wurde Kurras nicht wegen Totschlags verurteilt, wie es, anders als im Unrechtsstaat, in einem Rechtsstaat bekanntermaßen üblich ist? Wieso fand er mehrmals Richter, die über die absurdesten Widersprüche in seinen Aussagen hinwegsahen und ihm entgegen der Beweislage eine gefühlte Notwehrsituation zubilligten? Über Richter, die eine Hinrichtung durch Schuß in den Hinterkopf als Akt der Selbstverteidigung interpretierten, werden Sie bei Ihren Ermittlungen gewiß nicht hinwegsehen können. Es war doch gerade der Freispruch des Todesschützen, der damals das Faß zum Überlaufen brachte. Drängt sich da nicht der Verdacht auf, daß die Richter ihre Urteile ebenfalls im Auftrag des MfS gesprochen haben – um die Westberliner Klassenjustiz bloßzustellen? Die Antwort auf all diese Fragen liegt nahe: Mielkes Männer und Frauen waren eben überall. Und auch der V-Mann der Verfassungsschutzbehörde, der den zum Terrorismus abdriftenden Anwalt Horst Mahler mit Waffen und Munition versorgte, muß aus Ostberlin ferngesteuert gewesen sein. Von der Schlagkraft und Allgegenwart des Stasi-Systems hatten wir noch immer ein zu harmloses Bild. Jetzt endlich können wir seine ganze Leistungsstärke bewundern. Mit so viel Organisationstalent und Effizienz müßte jede Weltwirtschaftskrise zu meistern sein. – Jedenfalls kann man Ihnen nicht nachsagen, daß Sie in den mehr als 40 Jahren seit Benno Ohnesorgs gewaltsamem Tod gar keinen Verfolgungseifer gezeigt hätten: Auf Ihr Betreiben hin wurde der Verleger Klaus Wagenbach 1975 zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, weil er Kurras’ Tat als »Mord« bezeichnet hatte. Wagenbach heute: »Niemand außer mir ist jemals für den Mord verurteilt worden.«
Erschienen in Ossietzky 13/2009 |
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