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Kürzlich noch scheuten sich Minister Jung und andere Koalitionspolitiker wie auch die tonangebenden Medien, das, was in Afghanistan geschieht, Krieg zu nennen. Wörter wie töten und fallen wurden vermieden. Aber seit US-Präsident Obama die Ausweitung und Verstärkung des Afghanistan-Krieges verkündet hat, schwinden alle Hemmungen. Der Rüstungsetat wird erhöht (teilweise aus Mitteln des Programms zur Belebung der Konjunktur, logisch), die Truppen werden verstärkt und die teuersten Waffen an den Hindukusch geschickt (auch Awacs-Aufklärungsmaschinen, damit die Aggressoren wirksamer bombardieren können), das Kriegsgebiet wird ausgeweitet, nicht nur gegen »Terroristen«, sondern auch gegen »Piraten« (die Bundesmarine darf jetzt bis zu den Seychellen vorstoßen). Die US-Luftoffensive gegen die Paschtunen im nordwestlichen Pakistan hat schon zwei Millionen Menschen vertrieben – aber darüber spricht man nicht. Auch die Todesopfer der Völker »da unten« sind kein Thema, schon gar nicht die vielen Verkrüppelten, Vergifteten, wahnsinnig Gewordenen. Und es ist unerwünscht, daß wir über die Gefangenen und Gefolterten mehr erfahren, als bisher durchgesickert ist. In Bombenkriegen gegen militärisch weit unterlegene Staaten wie 1999 gegen Serbien kann kaum einer der Aggressoren zu Tode kommen. Aus Höhen, in denen sie unerreichbar sind, laden sie den Tod für die Menschen »da unten« ab und sind im Nu davongeflogen. In Afghanistan aber, wohin Rot-Grün und Schwarz-Rot deutsche Bodentruppen entsandt haben – warum eigentlich? was trieb die Bundeswehr in eins der ärmsten Länder der Welt? wer erinnert sich noch? es hatte etwas mit »uneingeschränkter Solidarität« für die größte Militärmacht der Welt zu tun und später angeblich mit Selbstverteidigung – sind nun auch schon etliche deutsche Soldaten ums Leben gekommen. Für die ersten veranstaltete man Trauerfeiern, die im Fernsehen übertragen wurden. Je mehr Soldaten als Leichen zurückkehren, desto geringer wird das Interesse an ihnen. Zur Pauschalehrung läßt Minister Jung in Berlin ein Denkmal errichten. Außerdem gibt es endlich wieder Tapferkeitsorden. Was Jungs Vorgänger Struck über die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch sagte, scheint allmählich ein Körnchen Wahrheit zu bekommen. Als die Bundeswehr es übernahm, in und um Kundus für Sicherheit zu sorgen, erfuhren wir deutschen Medienkonsumenten, dort sei es ruhig, gefahrlos für die deutschen Soldaten. Mir leuchtete das nie ein. Warum sollte die Bundeswehr gerade in einer Gegend militärischen Beistand leisten, wo es gar nicht nötig war? Inzwischen, so lauten die neueren Nachrichten, ist es dort immer unsicherer geworden. Vielleich gerade deshalb, weil dort jetzt Soldaten aus dem fernen Europa stehen, Besatzungssoldaten, gegen die sich die Selbstachtung und der Selbstbestimmungswille der Bevölkerung richtet? Eines der ersten Opfer aus Deutschland – zum Glück blieb er am Leben – war im »Krieg gegen den Terror« der Bremer Murat Kurnaz, der, ohne daß die geringste Beschuldigung gegen ihn erhoben worden wäre, fünf Jahre in US-Haft saß, die meiste Zeit in einem Käfig in Guantanamo. In den Akten mit dem Stempel »Geheim«, die inzwischen bekanntgeworden sind, las ich in einer Notiz des Bundesnachrichtendienstes, daß Kurnaz »zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war«. An diesen Worten blieb mein Blick hängen. Ich hatte sie schon einmal gelesen, aber in anderem Zusammenhang. Ich erinnere mich: Sie standen in einem Schriftsatz, mit dem die Bundesregierung Entschädigungsansprüche von Opfern des NATO-Bombardements in der serbischen Kleinstadt Varvarin abwies. Am Mittag des Pfingstsonntags 1999 – vor zehn Jahren – waren zehn Menschen getötet und viele weitere verletzt worden, die sich gerade auf der Brücke über die Morawa oder in der Nähe befanden, unter ihnen drei Mädchen, die von einem pfingstlichen Volksfest kamen und zum Mittagessen nach Hause auf die andere Seite des Flusses gehen wollten, sowie ein Priester und mehrere andere Männer, die ihnen nach dem ersten Bombeneinschlag zu Hilfe eilten. Die Bundesregierung argumentierte, Brücken und Straßen könnten militärisch genutzt werden. Die Opfer des Angriffs hätten sich »zur falschen Zeit am falschen Ort« befunden. Die Bürgerinnen und Bürger von Varvarin waren in ihrer eigenen Stadt am falschen Ort, weil die NATO sich zum Herren des ganzen Landes aufgeschwungen hatte. Und Murat Kurnaz hätte nicht zu religiösen Studien in Pakistan unterwegs sein sollen, jedenfalls nicht zu einer Zeit, als die USA dort 3000 Dollar Kopfgeld für »Terroristen« ausgesetzt hatten. 3000 Dollar sind in Pakistan viel Geld. Dafür kann man schon mal einen reisenden Muslim aus Deutschland verdächtigen, ein »Terrorist« zu sein. Die Varvariner setzen mit Hilfe einiger Aktiver aus der deutschen Friedensbewegung ihre juristischen Bemühungen fort; das kostet immer mehr Geld, das sie nicht haben, aber die Bundesregierung zeigt nicht die geringste Bereitschaft zum Nachgeben. Sie weigert sich ja auch, die Überlebenden von Massakern deutscher Truppen in Griechenland und Italien zu entschädigen. Wenn es in diesem von unseren Politikern vielgerühmten Rechtsstaat gerecht zuginge, müßte Kurnaz mindestens für die vier Jahre seiner Haft entschädigt werden, die der damalige Kanzleramts- und heutige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier verschuldet hat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst überzeugten sich damals bald, daß von Kurnaz, den sie auch selber befragten, keine Gefahr ausging, daß er keinerlei Verbindung zu Taliban oder Al Kaida hatte und daß die USA bereit waren, ihn kurzfristig aus Guantanamo zu entlassen. Aber Steinmeier log, von Kurnaz gehe Gefahr aus und es gebe kein Angebot der USA. Auch der damalige Außenminister Joseph Fischer tat nichts für Kurnaz, der in der Folterhölle gefangen blieb, bis nach der Wahlniederlage von Rot-Grün der Bremer Rechtsanwalt Bernhard Docke die neue Kanzlerin Angela Merkel anschrieb, die innerhalb von drei Tagen reagierte und mit US-Präsident Bush II. sprach, so daß Kurnaz endlich zu seiner Familie in Bremen zurückkehren konnte, mit der er in den Jahren zuvor keinen Kontakt haben durfte. Dieser Tage traf ich Kurnaz und seinen Anwalt. Docked sagte: »Es ist beschämend, daß der damals für die Geheimdienste zuständige Minister Steinmeier, dessen Entscheidungen für Murat Kurnaz schicksalhaft waren, es bis heute nicht einmal geschafft hat, sich an meinen Mandanten zu wenden. Wir hatten eigentlich eine Entschuldigung von ihm erwartet. Aber ihm fehlt die Souveränität, einen Fehler zuzugeben. Stattdessen hat er noch in Richtung des Opfers nachgetreten. Er hat immer so getan, als hätte er sich nichts vorzuwerfen, und gegenüber der Presse sogar gesagt, er würde wieder so handeln. Eiskalt. Durch seinen Umgang mit den Menschenrechten, mit dem Parlament und der Öffentlichkeit hat er sich nicht für das höchste Regierungsamt empfohlen.« Bei Anne Will hat sich Steinmeier kürzlich als »verläßlich« und »glaubwürdig« angepriesen. Gerade diese Attribute wären mir für ihn nie und nimmer eingefallen. Man denke an den BND-Untersuchungsausschuß des Bundestags, an Steinmeiers Auftritte dort, an die Verweigerung der Schlüsseldokumente, die der Ausschuß einsehen wollte, an die fatale Unterstützung des BND für das US-Militär im Irak unter Steinmeiers Verantwortung – während die Bundesregierung so tat, als hielte sie sich von diesem Krieg fern. In Ossietzky 5/09 schrieb ich an den Bundestagsabgeordneten des Wahkreises, in dem ich wohne, Wolfgang Thierse: Er habe vor zehn Jahren für den Krieg gegen Serbien gestimmt – sicher guten Gewissens aufgrund der ihm vorgelegten Informationen. Inzwischen sei aber erwiesen, daß die regierungsamtlichen Informationen im großen und ganzen falsch waren. Öffentlichkeit und Parlament seien irregeführt worden. Die Schuld am Krieg und dessen Folgen dürften nicht länger verdrängt, sie müßten aufgearbeitet werden. Ich bat Thierse, zu einem ehrlichen Umgang mit diesem Stück Geschichte beizutragen. – Jetzt hatten wir ein Gespräch, in dem er mir sagte, wichtiger als die von mir gewünschte Aufklärung sei doch, daß Rot-Grün aus dem »Kosovo-Krieg« die Lehre gezogen habe, sich nicht am Krieg gegen den Irak zu beteiligen. Wie sich herausstellte, ist meinem Wahlkreisabgeordneten, der eine Zeitlang stellvertretender Vorsitzender der SPD war, bis heute nicht bewußt, was Minister Scharping und NATO-Sprecher Shea damals alles zusammengelogen haben. Er sollte sich die Zeit nehmen, mit dem Regionalexpreß nach Senftenberg zu fahren. Dort im äußersten Osten des Landes gibt es noch ein Theater, das politische Probleme aufgreift. Und jetzt das Stück »Die Brücke von Varvarin« spielt. Auch »Zur falschen Zeit am falschen Ort« wäre ein geeigneter Titel, der zum Nachdenken darüber anregen könnte, wer wo am falschen Platz ist. Zum Beispiel die Bundeswehr in Afghanistan. Und manche deutsche Politiker in Ämtern.
Erschienen in Ossietzky 13/2009 |
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