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Tatort ist der Südosten der Türkei, genauer: das Tal des Tigris mitsamt dessen Zuflüssen in Südanatolien, etwa 60 Kilometer von den Grenzen zu Syrien und Irak entfernt. Das Tatwerkzeug: ein Damm, der das Wasser des Tigris stauen soll, so daß es in einem Gebiet von mehr als 300 Quadratkilometern fast hundert Ortschaften und ein Ökosystem auf einer Flußstrecke von 400 Kilometern zerstören wird. Die potentiellen Täter sind gut organisiert: die türkische Regierung sowie die Regierungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, außerdem internationale Banken und Unternehmen wie die Deka-Bank oder der Baukonzern Züblin – ein staatlich abgesichertes Konsortium von Exportfirmen, Banken und Exportkreditversicherungen. Als Tatbeginn ist 2009/10 angepeilt, als Tatdauer acht Jahre. Das international umstrittene Ilisu-Staudammprojekt, um das es hier geht, ist trotz seiner fortgeschrittenen Planung nicht unausweichlich: Der Widerstand dagegen wird immer stärker – nicht nur in der Türkei, sondern auch in der Schweiz, in Österreich und Deutschland. Der oppositionelle Plan einer internationalen Rettungskampagne sieht vor, die zehntausend Jahre alte Stadt Hasankeyf am Tigris und das Tigristal vor der drohenden Überflutung dadurch zu retten, daß diese Region unter den Schutz der Vereinten Nationen gestellt und als UNESCO-Weltkultur- und -Naturerbe anerkannt wird. So fordert es eine aktuelle Petition von Nichtregierungs- und Umweltorganisationen, die in diesen Wochen unterzeichnet werden kann (). Auf dem Weg zur Bremer Innenstadt, in der Bischofsnadel-Passage, betreibt der kurdische Schneider Zafer Alkoyun sein Geschäft. Er ist in der Stadt Urfa geboren, die in einem vom Staudammprojekt betroffenen Gebiet liegt. Jeden Tag laufen an seinem Schaufenster Hunderte von Menschen vorbei – und bleiben immer häufiger stehen, seit er mit Stelltafeln über »Ilisu« informiert. Auf diese Weise hat Zafer Alkoyun schon Tausende von Unterschriften für die Petition gesammelt. Auch zahlreiche Prominente unterstützen die »Stop-Ilisu«-Kampagne türkei- und europaweit, unter ihnen der türkische Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, der türkische Popstar Tarkan und der deutsch-türkische Filmemacher Fatih Akin, aber auch die Bremer Ex-Bürgermeister Henning Scherf und Hans Koschnik sowie viele Kulturschaffende, Menschenrechtler und Umweltschützer. Die Petition ist an den türkischen Premier Tayyip Erdogan gerichtet, der schon mal Staudamm-Gegner als Terroristen bezeichnet hat. Er ist formal für einen Antrag an die UNESCO zuständig. Darüber hinaus richtet sich die Petition aber auch an die Regierungschefs in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die darin aufgefordert werden, aus dem Projekt auszusteigen und so den Weg zum Welterbe freizumachen. Eine wissenschaftliche Überprüfung hat ergeben, daß Hasankeyf und das noch intakte Tigris-Tal eine der wertvollsten Kultur- und Naturlandschaften der Welt sind. Demnach erfüllt das Gebiet neun von zehn möglichen Kriterien der Vereinten Nationen. Zum Vergleich: Venedig mit seinen Lagunen erfüllt sechs, die Pyramiden in Ägypten vier, die Salzburger Innenstadt drei, das Dresdner Elbetal vier Kriterien und die Altstadt von Bern ein Kriterium. Mesopotamien, die »Wiege der menschlichen Zivilisation«, birgt unwiederbringliche Spuren von mehr als zwanzig Kulturen, darunter der Assyrer, Perser, Römer und Byzantiner. Hier im Zweistromland lag der biblische Garten Eden. Hunderte unerforschter archäologischer Stätten würden ebenso für immer versinken wie das zehntausendjährige Hasankeyf. In der etwa 400 Kilometer langen bedrohten Flußlandschaft leben viele Pflanzen- und Tierarten, die anderswo kaum noch vorkommen. Hier wurde einst der Ackerbau entwickelt; viele Nutzpflanzen wie Gerste, Raps, Spinat, Kichererbse und Weinrebe stammen aus dieser Region. Den Tigris aufzustauen, hieße auch, dem angrenzenden Irak das Wasser zu entziehen und eines der wichtigsten Ökosysteme der Welt zu gefährden: die Mesopotamischen Sümpfe. Da die Nachbarländer nicht in die Planungen einbezogen wurden, verletzt das Projekt das Völkerrecht und könnte den brüchigen Frieden im Nahen Osten unter noch stärkeren Druck setzen. Denn die Türkei wäre im Kampf ums Wasser, der sich künftig noch verschärfen wird, in der Lage, die Wassermengen zu kontrollieren, die nach Syrien und in den Irak fließen; Millionen von Menschen, die auf dieses Wasser angewiesen sind, wären davon betroffen. Rund 60.000 Menschen in fast hundert Ortschaften leben im unmittelbaren Einzugsbereich des Stauprojektes, überwiegend Kurdinnen und Kurden. Sie würden enteignet – womit schon begonnen wurde –, aus ihren Dorfgemeinschaften gerissen und zwangsumgesiedelt. Sie würden ihrer Lebensgrundlagen beraubt, denn ihnen stünden weder fruchtbares Ersatzland für Obstgärten und Schafweiden noch realistische andere Erwerbsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Umsiedlungsopfer würden verarmen und noch mehr in ihren Menschenrechten verletzt, die für Kurden in der Türkei ohnehin nur eingeschränkt gelten. Eine weitere Verschärfung des türkisch-kurdischen Konflikts könnte in der ohnehin schon angespannten politischen Situation die Folge sein. Angesichts dieser Szenarien verblassen die Begründungen der Projekt-Befürworter. Sie behaupten, die ganze Region werde durch verbesserte Wasser- und Stromversorgung und neue Arbeitsplätze wirtschaftlich aufblühen, was dann auch den Vertriebenen zugute käme. Jeder Gedanke an andere Ressourcen, wie etwa Wind- oder Sonnenenergie, wird dabei ausgeblendet. Das Ilisu-Speicherkraftwerk, das gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt werden soll, ist nicht allein ein türkisches, sondern ein europäisches Projekt. Exportkreditagenturen, Unternehmen und Banken aus fünf Ländern der Europäischen Union stellen Finanzierung und Ausrüstung bereit. Mit ihren Kreditgarantien für die beteiligten Exportunternehmen verstrickte sich auch die Bundesrepublik in das geplante Zerstörungswerk – daran können auch die rund 150 Auflagen nicht viel ändern, mit denen Deutschland, Österreich und die Schweiz ihre Bürgschaften verknüpften und deren Einhaltung von einem Expertengremium überwacht werden soll. Denn diese Auflagen liegen weit unterhalb der internationalen Standards der Weltbank und sind deshalb nicht geeignet, Kultur, Natur und betroffene Menschen ausreichend zu schützen. Schon im März 2008 hatte das Expertengremium einen Prüfbericht vorgelegt und festgestellt, daß so gut wie keine der Auflagen erfüllt worden sei. So gebe es keine Umweltverträglichkeitsprüfung hinsichtlich der Auswirkungen auf Mensch, Fauna, Flora, Wasser, Luft und Böden – von realistischen Umsiedlungsplänen und einem tragfähigen Rettungsplan für die antike Stadt Hasankeyf ganz zu schweigen. Weil die Türkei – trotz wiederholter Mahnungen – die Auflagen weitgehend ignorierte, legten die Kreditgeber im Dezember 2008 ihre Bürgschaften kurzzeitig auf Eis und stellten an die Türkei ein Ultimatum. Vorbereitende Baumaßnahmen und weitere Enteignungen mußten daraufhin ausgesetzt werden. Am 6. Juli 2009 läuft das Ultimatum ab. Spätestens dann müssen die drei EU-Staaten entscheiden, ob sie wegen nicht erfüllter Auflagen zum Schutz der Anwohner und der Natur- und Kulturgüter entgültig aus dem Projekt aussteigen oder ob sie es weiterhin unterstützen. Die Petition, die auf Anerkennung der Tigris-Region als Weltkulturerbe abzielt, kommt also zur rechten Zeit, um die angekündigte Katastrophe verhindern zu helfen. Wenn für die betroffenen Menschen endlich das Damoklesschwert des Ilisu-Staudamms verschwindet und ihrer geschichtsträchtigen Heimat internationale Anerkennung zuteil wird statt Vernichtung, dann wird sich diese einmalige Natur- und Kulturregion auch wirtschaftlich weiter entwickeln können. Und die dort mit ungewisser Zukunft lebenden Menschen können wieder Mut fassen. Weitere Informationen: www.m-h-s.org (Manfred-Hermsen-Stiftung). Filmclip in Neue Rheinische Zeitung (http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=12775) vom 20. 8. 2008
Erschienen in Ossietzky 12/2009 |
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