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Vielleicht war der Hauptgrund, daß das politische Personal in diesem unseren schönen Land mit seinem Ideenreichtum, seiner Wandlungsfähigkeit und Selbstverleugnung immer aufs neue für Amüsement sorgte und dadurch immer wieder vorübergehend von Wirtschaftskrise, drohender Klimakatastrophe, Terrorgefahr, Kriegs- und Armutsberichten sowie Schweinegrippe ablenkte. Da ist selbstverständlich an erster Stelle unsere Kanzlerin zu nennen, die »mächtigste Frau der Welt« (ernannt vom US-Magazin Forbes). Angela Merkel hatte weder Zeit noch Lust, die das Kanzleramt belagernden Milchbäuerinnen zu einem Gespräch zu empfangen. Diese protestierten gegen die drastisch fallenden, für sie ruinösen Milchpreise, sie baten und bettelten um Hilfe, sie hungerten und sangen immer wieder: »Steh auf, wenn Du ein Bauer bist ...« Dann standen sie auf und kehrten unverrichteter Dinge heim zu ihren Familien und Defizite produzierenden Kühen. Die Kanzlerin ließ sich nicht erweichen, hatte aber Muße für ein Gespräch mit Sandra Maischberger, um den ARD-Zuschauern eine Freude zu bereiten und die Bundesrepublik über den grünen Klee zu loben. In ihrer ungezwungenen Art hatte sie auf jede Frage eine Antwort. Besonders gelungen, kurz und vielsagend war die nach ihrer FDJ-Arbeit als Sekretärin für Agitation und Propaganda: »Man sollte nichts verschweigen, aber auch nicht diese Schwarz-Weiß-Diskussionen führen, die uns allen nicht weiterhelfen.« Sprach’s und malte anschließend die DDR, die auf Unrecht aufgebaut gewesen sei, ganz in Schwarz. Sylvia-Yvonne Kaufmann, die Alt-Linke und Neu-Sozialdemokratin erhielt im Mai schöne fette Schlagzeilen: »Frühere Vizechefin der Linken wechselt zur SPD« (Die Welt), »Kaufmann nun in SPD – auf Jobsuche« (Neues Deutschland), »Münteferings Neue« (Frankurter Rundschau). Da Kaufmann auf dem Essener Europaparteitag der Linken keinen Listenplatz für eine Wiederwahl in das Parlament in Brüssel bekommen hat, will sie nun, wie sie in Anwesenheit des freudestrahlenden Franz Müntefering der Öffentlichkeit kundtat, für die konkurrierende SPD Wahlkampf machen. Und schon im ersten Statement warf sie sich für den SPD-Spitzenkandidaten Frank-Walter Steinmeier, einen bewährten Weichensteller für einen antisozialen neoliberalen Kurs und für sich ausweitende Auslandseinsätze der Bundeswehr, in die Bresche, indem sie in ihm urplötzlich einen »sehr erfahrenen Politiker und Garanten für Abrüstungspolitik« erkannte. Freudentränen ob der Aufnahme in die SPD standen ihr nicht im Auge, aber die Tränen, die sie einst vergoß, als der PDS-Parteitag in Münster sich um ein Haar für Blauhelm-Einsätze der UNO aussprach, sind längst getrocknet. Die Zeit heilt Wunden, bewirkt Wunder, und so streitet die frühere PDS-Politikerin also ab jetzt für eine Politik, die sie bisher strikt abgelehnt, ja entschieden bekämpft hatte. Noch beeindruckender als ein politischer Seitenwechsel allerdings ist es, gegen die eigene Politik und deren Folgen entschlossen, kampfesmutig und möglichst im Blickfeld der Kameras zu demonstrieren. Auch diese selbstlose Heldentat war im Mai zu bewundern. Als hundertausend Frauen und Männer, einem Aufruf der Gewerkschaften folgend, in Berlin gegen Neoliberalismus und Kapitalismus, gegen Stellen- und Sozialabbau protestierten und zur Großkundgebung an die Siegessäule zogen, waren die Mitverantwortlichen für die Agenda 2010, für Hartz IV, für Niedriglohnarbeit, für Renten-Null-Runden, Rente mit 67 und andere soziale Untaten eifrig dabei: die grünen Spitzenleute Renate Künast und Cem Özdimir in der ersten Reihe und Franz Müntefering bescheiden, aber gut sichtbar inmitten der verwunderten Demonstranten. Vergessen ist die Zeit, als der Sozialdemokrat noch gegen eine geringfügige Verlängerung des Arbeitslosengeldes I auftrat und den Bettel hinschmiß. Jetzt ist er wieder Vorsitzender der SPD, Wahlen stehen an, und es ist eine Freude, ihn kämpferisch an der Seite des protestierenden Proletariates zu sehen. Nur ein selbstbewußter Wahlkämpfer ist zu solcher Selbstverleugnung fähig. Bravo, weiter so! Demnächst wird die Partei Münteferings und Steinmeiers unter der Losung »Hartz IV ist Armut per Gesetz« zur eigenen Protestkundgebung gegen die Agenda 2010 aufrufen. Von anderem Schrot und Korn ist unser Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU). In einem Interview für Neues Deutschland zeigte er Haltung und Beharrungsvermögen. Ruhmredig pries er die »friedliche Revolution«, die »Herstellung der Einheit« und das Zusammenwachsen von Ost und West, »bei dem wir gut vorangekommen sind«. Gleichermaßen würdigte der Autor des Einigungsvertrages den gefügigen, dann mit einem Ministerposten belohnten und später wegen Betruges verurteilten DDR-»Verhandlungsführer« Günther Krause, der ein »gleichberechtigter, kompetenter Partner« gewesen sei. Die einst hochgerühmte Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley lobte er nicht, denn immerhin hatte diese, und Schäuble zitierte sie leicht tadelnd, erklärt: »Wir haben Gerechtigkeit erhofft und haben den Rechtsstaat bekommen.« Unerwähnt blieb in dem Interview ihr kürzlicher Rückblick auf das Jahr 1989: »Wenn ich an mich denke, dann setzte ich alles daran, eine andere Gesellschaft zu erreichen, und ich merke heute: Das ist ja alles noch viel schlimmer, perspektivloser, ressourcenvergeudender und unsozialer als damals.« Diese Erklärung der ehemaligen, in der Bundesrepublik 1989 meistzitierten Hohepriesterin des Neuen Forums gegenüber der Gewerkschaftszeitung Kunst und Kultur war in Ossietzky aufgegriffen worden, anderswo nicht – was kein Zufall ist. Die traurige Bilanz der Heldin der »friedlichen Revolution« paßt einfach nicht in das Jubelgedenkjahr, und in so manchen Redaktionsstuben der systemtreuen Medien richten die Nachrichtenchefs insgeheim Stoßgebete gen Himmel: Allmächtiger, behüte uns vor solch schrecklichen Urteilen der Freiheitskämpfer gegen den Unrechtsstaat DDR. Möglicherweise kommt auch ihnen dabei das wunderbare Volkslied »Kein schöner Land ....« in den Sinn, allerdings der letzte Vers: »Nun Brüder eine gute Nacht, der Herr im hohen Himmel wacht. In seiner Güten uns zu behüten, ist er bedacht.« Na denn gute Nacht, Deutschland!
Erschienen in Ossietzky 12/2009 |
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