Zur normalen Fassung

Viktor Agartz – eine Persönlichkeit der historischen Arbeiterbewegung

Rezension: Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten/Peeter Raane (Hrsg.); Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik; 242 Seiten; VSA-Verlag Hamburg 2008

von Stefan Janson



In dem Band werden Originalaufsätze von Viktor Agartz aus den Jahren 1945 bis 1954 sowie Arbeiten verschiedener Autoren über seine Aktualität versammelt. Die Verlagsankündigung auf der Buchrückseite weckt hohe Erwartungen:

„Die Krise des neoliberalen Gesellschaftsprojekts schafft wieder Raum für alternative Gesellschaftsentwürfe und macht entsprechende historische Fundstellen interessant. Für den Revitalisierungsprozess der Gewerkschaften unerlässlich sind hierbei die lohn- und wirtschaftspolitischen Überlegungen des einstigen DGB-Cheftheoretikers' Viktor Agartz, die mit diesem Band breiter zugänglich und in aktuelle Zusammenhänge eingeordnet werden.“ (Hervorhebungen durch den Autor, S. J.)

Um es vorweg zu nehmen: Diese Erwartungen werden ganz überwiegend enttäuscht. Schon der Ausgangspunkt, dass „die Krise Raum für alternative Gesellschaftsentwürfe schaffe“, erscheint mir zweifelhaft. Nicht erst die Krise, die ganze Periode der Durchsetzung einer neoliberalen Regulation des Kapitalismus seit Anfang der 70er-Jahre zeigte nicht nur die Notwendigkeit, über eine alternative Gesellschaft nachzudenken, sondern brachte auch Bewegungen und ihre Theorien hervor, wie eine weltweite, auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Gesellschaft der Freien und Gleichen aussehen könnte – denken wir nur an die lateinamerikanischen Bewegungen der Landlosen, Indigenen, Arbeiterorganisationen. Selbst in den finstersten Zeit nach der autoritären Inauguration des Neoliberalismus in Chile 1973 oder nach dem Zusammenbruch der staatskapitalistischen Systeme östlich der Elbe war also immer Raum für alternative Gesellschaftsentwürfe und dieser wurde auch genutzt. Das dies nicht für den Großteil der etatistisch orientierten sozialdemokratischen, parteikommunistischen und auch gewerkschaftlichen Linken zutraf, sagt eher etwas über die Haltlosigkeit ihrer Hoffnungen als die Fähigkeit der dissidenten Linken, demokratische und sozialistische Alternativen zu denken.

Und nicht erst die Finanzmarktkrise ist es, die dies erforderlich macht: wir sind zudem am Beginn einer umfassenden Periode der krisenhaften Entwicklung unserer Umweltbeziehungen, der krisenhaften Entwicklung der Primärenergie- und Nahrungsmittelproduktion, der krisenhaften Entwicklung der kapitalistischen Produktion selbst und der menschlichen Entwicklung (Gentechnologie, Biomacht etc.). Dahinter kann kein Projekt mehr zurückfallen, ohne zugleich die Voraussetzungen für einen neuerlichen Krisenzyklus zu schaffen.

Dem können die Arbeiten von Agartz aus den Jahren 1946 bis 1954 natürlich nicht gerecht werden. Sie sind in den 50er-Jahren entstanden und haben diesen Problemhorizont nicht. Selbst der Koreakrieg 1950 bis 1953, der neben einem Bürgerkrieg einer zwischen „Ost und West“, aber auch „Nord und Süd“ war, wird lediglich unter dem Aspekt seines Einflusses auf die Konjunkturentwicklung in Westdeutschland behandelt. Zu Recht finden sich bei Agartz auch keine Spekulationen über umfassendere Krisen der kapitalistischen Ökonomien. Agartz' ökonomischer Analyseboden ist die sich endültig durchsetzende Regulationsweise des Fordismus. Es wäre also zuviel verlangt, hier Antworten auf die Fragen nach der Zukunft der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu suchen.

Insoweit haben Agartz' Aufsätze heute allein historischen Wert, worauf auch die Herausgeber in ihrem Aufsatz zur expansiven Lohnpolitik hinweisen. Dieser ist nicht gering zu schätzen, zeigt Agartz doch in seinen brilliant formulierten Reden vor den SPD-Parteitagsdelegierten 1946 und später vor Gewerkschaftsaktivisten immer wieder auf, dass die Gesellschaft Westdeutschlands eine Klassengesellschaft ist, dass mit der Währungsreform die Eliten einseitig begünstigt wurden, dass sie ihr Personal aus den notdürftig gesäuberten faschistischen Spitzengruppen rekrutiert, dass die politische Demokratie unter Vorbehalt steht. Mythos und Realität der angeblich von Ludwig Erhard geschaffenen „sozialen Marktwirtschaft“ werden durch die Arbeiten hart konfrontiert und soweit ein wertvolles, auch empirisch gesättigtes Anschauungsmaterial zur Klassenrealität im Westen Deutschlands präsentiert.

Auch hier sollen die Desiderata genannt werden, zu denen ich mir Ausführungen oder Aufsätze von Agartz abgedruckt gewünscht hätte: Für jemanden, der eine „eigenständige, autonome, auch vor radikalen Konsequenzen nicht zurückschreckenden Arbeiterbewegung“ (Christoph Jühnke, S. 19) anstrebte, ist es unerlässlich, nicht nur eine – damals – mögliche Form der Wirtschaftsdemokratie zu beschreiben, sondern auch den politischen Weg dorthin. In seiner Rede auf dem SPD-Parteitag 1946 führt Agartz aus: „Über den Umfang, über die Richtung und über die Verteilung der Produktion darf zukünftig nur noch der demokratische Rechtsstaat entscheiden.“ (S. 117) Das scheint mir doch schon für den damals verfügbaren Stand der Debatte etwas reichlich einfach und „naiv“ gedacht zu sein. Eine materialistische Analyse hätte bedeutet, sich über die Geeignetheit des restaurierten autoritären Staates der 50er Jahre und damit über eine Strategie zur Durchsetzung der politischen Vorstellungen unter den Bedingungen einer geteilten Nation und unter einem Besatzungsstatut Gedanken zu machen: ich habe dazu nichts gefunden. Oder sollte Agartz angenommen haben, die Westalliierten hätten der Etablierung einer sozialistischen Alternative an der „Systemgrenze“ tatenlos zugesehen? Nachdem bereits die mit großen politischen Mehrheiten angenommenen Sozialisierungsartikel in den Länderverfassungen NRW und Hessens von eben diesen suspendiert worden waren? Hat er ernsthaft geglaubt, das angesichts dessen eine bloße Stimmzettelmehrheit für die Sozialdemokratie als Basis dafür ausgereicht hätte? Diese Fragen bleiben in den Texten unbeantwortet.

Weiterhin konnten Sozialisten nach der „Bolschewisierung“ der SED ab 1949 zu deren Zwangspraktiken nicht schweigen. Dazu findet sich in den abgedruckten Aufsätzen Agartz' nicht viel. Zur Politik und Realität der DDR und der KPD/SED finde ich bis auf einige wenige berechtigte polemische Attacken auf die Stalinisten nichts Analytisches. Angesichts der antikommunistischen Mobilisierbarkeit auch der westdeutschen Arbeiterschaft ist es nicht nachvollziehbar, das Agartz sich in dieser auch damals schon akuten zentralen Frage von Demokratie und Sozialismus verschwiegen haben sollte – z. B. war das schandhafte Bündnis Stalins mit Hitler 1939 mindestens den deutschen Sozialisten noch sehr deutlich in Erinnerung. Ein Desiderat auch angesichts des Menetekel des Arbeiteraufstandes 1953. Eine Positionierung zur Vereinbarkeit von Stalinismus und autonomer Arbeiterbewegung, bzw. der Duldung selbständiger und demokratischer Klassenstrukturen, konnte auch in einer restaurativen Westrepublik nicht unterbleiben. Zu dieser Existenzfrage der Emanzipationsbewegung findet sich im Band nichts. Es bleibt somit eine Erklärungslücke. Oder ist diese der Textauswahl durch die Herausgeber geschuldet?

Christoph Jünke nimmt an, dass es Agartz um eine eigenständige und autonome Arbeiterbewegung gegangen sei (S. 19). Diese Frage war bereits 1946 sowohl im Osten als auch im Westen längst entschieden: die Betriebsräte- und Antifa-Komitee-Bewegung 1945/1946 gab es nicht mehr und nicht einmal die Kämpfe um eine das allgemeine politische Mandat der Gewerkschaften betreibende „Allgemeine Gewerkschaft“ waren erfolgreich. Der Agartz-Mitarbeiter Theo Pirker hat darauf schon sehr früh hingewiesen.

Damit waren die bedeutsamsten, wenn auch einzigen und schnell im Verbund von SPD-, KPD- und alten ADGB-Funktionären ausgebremsten und in Arbeitsteilung mit den Besatzungsorganen aller Zonen zerschlagenen autonomen, organisatorisch leistungsfähigen Klassenbewegungen beseitigt. Die Durchsetzung des Modells der „Allgemeinen Gewerkschaft“ hätte gerade die Plattform für eine Gewerkschaftspolitik im Sinne Agartz bilden können. Davon war spätestens 1949, parallel zu seinem Aufstieg zum „Cheftheoretiker“ der westdeutschen Gewerkschaften, schon keine Rede mehr. Die eigentliche Gegenrevolution hatte innerhalb der Arbeiterbewegung also schon zu einem Zeitpunkt gesiegt, als Agartz sich für ein weit reichendes politisches Mandat der – nunmehr gewendeten und entkernten – Gewerkschaftsbewegung einsetzte. Ich bin mir nicht sicher, ob Agartz sich somit nicht gleichsam in einem luftleeren Raum bewegte. Hätte damit nicht Agartz für die Gewerkschaften eine Rolle gespielt wie Bebel für die SPD vor 1914: „sozialistische Attitüde“ bei gleichzeitiger „negativer“ (und mehr und mehr auch positiver) Integration ins kapitalistische System? Diese Frage lässt sich nicht mehr klären, fiel Agartz doch vorher schon der antikommunistischen Hysterie einer noch weiter rechtsgewendeten SPD- und Gewerkschaftsführung zum Opfer.

Auch die lohnpolitischen Arbeiten halte ich für nicht mehr als von historischem Interesse. Schon den Zusammenhang von bewusster Verknüpfung der Produktivitätsentwicklung und Lohnhöhe halte ich für problematisch: „Durch die systematische Lohnpolitik der Gewerkschaften soll auch der Druck zur Modernisierung der deutschen Wirtschaft und damit zu einer größeren wirtschaftlichen Leistung intensiviert werden.“(S. 147). Heute käme es gerade darauf an, durch lineare Lohnerhöhungen die Einkommensspreizung zwischen den Lohnabhängigen nicht noch zu vergrößern (die letzte ver.di-Tarifrunde hat hier mit einem Sockelbetrag von 40 € zumindest ein kleines Pflänzchen hervorgebracht), Lohnpunkte gegen Neueinstellungen zu tauschen und die Produktivitätsentwicklung für Arbeitszeitverkürzungen zu nutzen. Ich denke, heute müßte man noch weitergehen und ein „Recht auf Existenz ohne Lohnarbeit“ propagieren. Angesichts der Überproduktion, Umweltzerstörung, Demokratie- und Bildungsabbau etc. ist „Nichtarbeiten“ möglich und wünschenswert. Auch der wirtschaftspolitische Ansatzpunkt Agartz' in den USA der 50er-Jahre verweist auf die durch und durch dem fordistischen Produktionsmodell verhafteten Vorstellungen dieser Schule (S.146, 154, 192). Damit soll nicht der historische Stellenwert der Arbeiten Agartz gemindert oder geleugnet werden, aber für heutiger Gewerkschaftspolitik ist daraus wenig bis nichts abzuleiten. Dies sehen, wenn auch mit anderer Begründung die Herausgeber Bispinck und Schulten ebenso (S. 62 ff.)

Warum die Arbeiten von Agartz vor diesem Hintergrund für den aktuell erforderlichen Revitalisierungsprozess der Gewerkschaften „unerlässlich“ sein sollen, bleibt daher das Geheimnis des Verlages.

Unbedingt verdienstvoll dagegen ist die Absicht, mit dem Sammelband „ein Stück unaufgearbeiteter Geschichte des Kalten Krieges“ aufzudecken (vgl. Beitrag von Franz Kersjes, S. 23–29). Wie im Verbund von innerparteilichen und -gewerkschaftlichen Widersachern, Geheimdiensten und Staatsschutzjustiz ein linker Sozialdemokrat mit Masseneinfluss in einem jahrelangen Kesseltreiben um „Namen und Ehre“ gebracht wurde, dass ist ein Skandal, der zu Lebzeiten Agartz' u. a. durch eine noble Arbeit von Günter Gaus (S.108 ff) und posthum durch eine Art Rehabilitierung der Gewerkschaft HBV 1998 nur ansatzweise aufgearbeitet worden ist. Darauf hinzuweisen, darin liegt eine der Hauptstärken des Sammelbandes.

Neben dieser Arbeit sind besonders die Aufsätze von Christoph Jünke und Michael R. Krätke hervorzuheben. Jünke gibt einen die Lektüre lohnenden interessanten biographischen Überblick über Herkunft, Ausbildung und Arbeit von Viktor Agartz (S. 9–17), bevor er sich der Frage widmet, was von Agartz bleibt (S. 17–21). Manchen seiner Befunde ist zu widersprechen: „Wie kein anderer seiner Zeit hat er sich in seinen leider kaum noch zugänglichen Schriften mit den Wandlungen der politischen Ökonomie des deutschen Nachkriegskapitalismus auseinandergesetzt.“ (S. 17)

Wer die Aufsätze Erich Gerlachs in der „Sozialistischen Politik“ aus dieser Zeit kennt weiß, dass dieser sich schon kritisch mit der Unterwerfung der Subjektivität der Arbeitenden unter die kapitalistische Maschinerie beschäftigte, als Agartz noch dem produktivistischen Ideal des Fordismus nachhing. Die Tragweite der Überlegungen Agartz für eine „Erneuerung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung“ (S.19) habe ich bereits weiter oben in Frage gestellt.

Den meines Erachtens interessantesten und aktuellsten Versuch, die Überlegungen Agartz' für heute fruchtbar zu machen, legt Michael R. Krätke in seinem Beitrag „Gelenkte Wirtschaft und Neue Wirtschaftsdemokratie – Viktor Agartz' Vorstellungen zur Neuordnung der Wirtschaft“ (S. 82–106) vor. Krätke greift auf Arbeiten Agartz' zur Wirtschaftsdemokratie außerhalb des Sammelbandes zurück und zeigt Notwendigkeit, Möglichkeit und organisatorische Grundstrukturen einer Wirtschaftsdemokratie auf, die nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Sie ist notwendig, „um die Emanzipation der Lohn- und Arbeitsmarktabhängigen zu gleichberechtigten, selbstbewussten, selbst entscheidenden und handelnden Wirtschaftsbürgern“ zu befördern (S. 89). Sie ist möglich, weil die beherrschte Klasse mit ihrem Produktions- und Organisationswissen, mit ihrer Selbsttätigkeit – wenn auch im Rahmen der bestehenden Restriktionen – u. a. in den Gewerkschaften und Betriebsräten bereits gelernt hat, subjektiv Fähigkeiten zur Selbstregierung auszubilden (S. 92 passim). Wenn sich auch Strukturen und Zusammensetzung der lohnabhängigen Klasse geändert haben, an diesem Grundrecht auf umfassende Demokratie in allen Lebensbereichen und durch Alle ist auch heute nichts abzustreichen. Das ist die eigentliche Aktualität von Viktor Agartz.

Zur normalen Fassung


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sopos 5/2009