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Das monumentale Werk von Simon Sebag Montefiore berichtet über den Jungpolitiker und Parteimann Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, über den Abenteurer und Bolschewisten, Bankeinbrecher und Liebhaber, Poeten und Mäzen (der Künstler wie Isaak Babel ermorden ließ oder wie Michail Bulgakow behinderte oder in bedrohlich-förderlichem Dialog mit ihnen stand wie mit Schostakowitsch); über den Verschwörer und Mörder, Parteiführer, Feldherrn und Staatsmann, Visionär und Volksvernichter, wobei der Autor zahlreiche Zeitzeugen-Quellen ausschöpft. Diese Darstellung liest sich wie ein russischer Roman mit manchmal Dostojewskischen, manchmal Gorkischen Zügen. Es fehlt nur etwas Entscheidendes: Politik. Montefiore liefert politische Zerrbilder, Einblicke in Hinterzimmer der Konspiration, er verrät manches aus Kabinettsräumen und Bunkern, aber er gibt keinen Tiefblick in die Historie. Beim Lesen in diesen dicken Bänden erinnerte ich mich an einen besonderen Tisch, an dem ich früher gelegentlich gesessen habe. An diesem Tisch in einem kleinen Hotel mit Gaststätte in Wien, nahe dem Schloß Schönbrunn, hatten einst Stalin, noch eher Dschugaschwili, und der letzte Otto von Habsburg gesessen, freilich nicht zur gleichen Zeit. Beider Aufenthalte sind durch Täfelchen vermerkt. Dschugaschwili-Stalin war oft im riesigen Rußland unterwegs, auch im damals zu Rußland gehörenden Polen, weniger im westlichen Ausland. In Wien war er 1913. Ich suche nach dieser Episode im Buch, sie wird auf den Seiten ab 350 erzählt. Und mehr als das: In der Nähe wohnten der gescheiterte Maler Adolf Schicklgruber, der sich Hitler nannte, auch Bronstein-Trotzki, Bucharin und Broz-Tito – später blutig verfeindet. Ein wichtiges Werk des Georgiers, »Marxismus und nationale Frage«, entstand an diesem Ort, folgenreich für den späteren Vielvölkerstaat UdSSR, in dem viele Nationen in halbwegs geordneten Verhältnissen zusammenleben sollten. Seine Auslassungen gegen den »Austromarxismus« sind eher unbefriedigend, völlig unbrauchbar seine Thesen zur »jüdischen Frage« – der Antisemit läßt sich erkennen. Fragwürdig seine spätere Sprachphilosophie. Als eine der bedeutendsten Gestalten aus der Sowjetzeit tritt Shukow hervor. Der zweifellos begabteste Heerführer, der eigentliche Stratege der Roten Armee, Sieger von Berlin und vieler Schlachten, war mit Sicherheit kein Demokrat. Der Vorwurf Bonapartist trifft zu, wie auf Stalin selbst. Auch Shukow bereicherte sich. Vor dem scheußlichen Abakumow hatte er die schöne Schauspielerin Olga Tschechowa als Geliebte – er war der glanzvolle Sieger, solche Damen lieben Solche. Doch Montefiores Darstellung verdeckt die wirkliche Größe dieses Mannes. Als Sieger verhinderte er die schlimmsten, für Sieger üblichen Ausschreitungen kampf- und leiderfüllter Sowjettruppen, milderte die drohenden Hungersnöte im besiegten Teil Deutschlands, den er zu verwalten hatte (die Rote Armee, deren Heimatland verwüstet war, verfügte nicht über die Reserven einer US-Army), und er ließ seine hervorragenden Kulturoffiziere wie die Professoren Tulpanow und Dymschitz viel Gutes für die Regeneration einer zerstörten deutschen Kultur und Kunst tun. Er hatte die neidischen Querelen Stalins dank eigener Sicherheitskräfte überstanden, mit Hilfe Budjonnys, des alten Revolutionsgenerals. Unter Chruschtschow wurde er Verteidigungsminister, rückte in höchste politische Formationen auf. 1974 starb er 78jährig im Ruhestand. Montefiore geht auf die alten Revolutionäre ein, Lenin vor allem, Kamenew und Sinowjew, Bucharin und Kirow, auf Dsherschinskij, Jagoda, Jeschow und Berija, die Geheimdienstchefs, auf Parteiführer wie Chruschtschow, Gromyko, Kaganowitsch, Kalinin, Malenkow, Mikojan, Molotow, Wyschinski, auf Marschälle wie Blücher, Bulganin, Konew, Rokossowski, Tuchatschewski, Woroschilow, von denen viele auch hohe Staatsämter bekleideten und viele ermordet wurden, schließlich auf Schriftsteller wie Ehrenburg, Gorki, Grossman, und er wertet nicht nur deren Schriften aus, sondern meist auch die von Familien, Frauen, Töchtern, Brüdern, deren Clans. Diese Arbeit, noch dazu in fremder Sprache, ist bewundernswürdig. Doch bei all den mörderischen Grabenkämpfen aus subjektiver Machtlust bleibt viel zu oft offen, worum es eigentlich geht. Was wollten diese Revolutionäre? Was Stalin? Was für Programme hatten sie? Der 18. Parteitag der KPdSU wird erwähnt. Was geschah da, was wurde beschlossen? Er fand im März 1939 statt, vier Jahre nach dem 17. – erst 13 Jahre später, also 1952, kam es zum 19., dem letzten mit Stalin. Auf dem 18. ging es vor allem um Außenpolitik, die Rolle der UdSSR im Vorfeld des zweiten großen Weltkrieges angesichts der Appeasement-Politik der Westmächte, die Hitler-Deutschlands Ansprüche befriedigten, um den Krieg mit ihm zu vermeiden und es auf Sowjetrußland zu hetzen, ihres alten Ziels wegen, Revolution und Sozialismus zu verhindern. Doch der NS-Faschismus paßte ihnen auch nicht, Churchill, der Chamberlain abgelöst hatte, und der noch ferne Roosevelt waren schließlich Antifaschisten, nicht nur Antikommunisten. Zwischen alledem lavierte Stalin mit seiner Grundsatzrede auf dem 18. Parteitag. Sie erklärt, warum es zu den Nichtangriffspakten in Europa kam, auch zu dem zwischen den ungleichen Brüdern Hitler und Stalin und später zum Bruch. Nichts davon bei Montefiore. Da muß man dann doch wieder zu Robert Conquest und Isaac Deutscher, den älteren Stalin-Biografen, greifen. Montefiore zeigt Figuren auch als Menschen mit ihren Fähigkeiten, Liederlichkeiten und kriminellen Leidenschaften, bei Deutscher geht es stets um Weltpolitik, Weltrevolution und Weltgeschichte. Und um solche Fragen: Lassen sich Fortschritt, Humanität, gar Schönheit aufklärerisch-klassisch, reformerisch oder revolutionär durchsetzen? Um welchen Preis, vor allem an Leben? Figuren der Art Alexanders, Dschingis Khans, Cromwells, Robespierres oder eben Stalins sind zu großen Veränderungen fähig – was können Humanisten? Vorhang zu und viele Fragen offen. Simon Sebag Montefiore: »Der junge Stalin«, 540 Seiten, Hardcover 35 €, »Am Hofe des Roten Zaren«, 875 Seiten, Paperback 31 €, beide Bände sind im S. Fischer Verlag erschienen
Erschienen in Ossietzky 9/2009 |
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