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Freiwillig geben die nicht her, was sie haben, eher möge die Welt zugrunde gehen. Rolf Becker InkognitoAuf dem Haupt eine Melone, unter einem teuren Mantel ein gutgeschnittener Anzug, in der einen Hand einen Regenschirm, bei gutem Wetter gerollt, unter dem anderen Arm eine kostbare Ledermappe – so ging noch bis vor wenigen Jahren ernsten Blicks und forschen Schrittes der britische und amerikanische Bankier durch die Straßen Londons oder New Yorks. Vornehmheit samt Seriosität zeichneten ihn aus. Und nicht nur ihn, sondern auch die Kollegen in Zürich, Genf und anderen Börsenstädten. In Deutschland zum Beispiel mußten die Bankangestellten auch im Hochsommer Jackett und Schlips tragen – es ist noch nicht lange her. Ein Banker mußte eben das Bild der Ehrbarkeit bieten. Inzwischen hat sich das geändert. Die weltweite Finanzkrise hat es mit sich gebracht, daß die Geldhändler es vermeiden, sich aus der Masse schon durch ihr Aussehen und ihre Kleidung hervorzuheben, vor allem, wenn sie für ihre Institute im Ausland tätig sind. Die große Schweizer UBS hat sogar ein Reiseverbot für 1000 Mitarbeiter erlassen, die Kunden im Ausland betreuen. Einen Service für US-Bürger mit Geheimkonten soll es nicht mehr geben. Andere Banken in der Schweiz haben ähnliche Auslandsreisebeschränkungen erlassen. Eine Westschweizer Privatbank hat ihre Mitarbeiter angewiesen, wenn sie denn doch einmal ausländische Kunden besuchen müssen, inkognito zu reisen, denn: »Man muß nicht jedem ansehen, daß er ein Banker ist.« Daraus nun zu schließen, daß die Kapitalisten sich dem »Durchschnittsbürger« annähern und gar etwas von ihrer Macht abgeben wollten, wäre verfrühter Optimismus. Vielmehr sprechen sie nur angesichts der ernsten Wirtschaftskrise wieder einmal von Gemeinsamkeiten mit den Arbeitnehmern und ihren Vertretern. Und so vernimmt man nach vielen Jahren plötzlich vom Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, erneut die beschwörenden Worte: »Es ist wichtig, daß Banken, Gewerkschaften und Unternehmer eine gemeinsame Lösung finden, die uns aus der Krise führt. Wir sitzen in einem Boot!« Über Steuerleute und Ruderer sagte er nichts. Werner Rene Schwab Sanitätsdienste in ZeitarbeitDie Frankfurter Allgemeine, hierzulande führend in der publizistischen Vertretung großbürgerlicher Interessen, sentimentaler Gefühle für die Gewerkschaften völlig unverdächtig, äußert sich neuerdings gern respektvoll über das Agieren der hiesigen Arbeitnehmerorganisationen. »Seit die Finanzkrise den Globus in Atem hält, ist es vorbei mit dem Blick von oben herab auf die Gewerkschaften«, schreibt das Blatt, das sich damit auf die »Finanz- und Wirtschaftselite« bezieht und vielleicht auch sich selbst meint. Anerkennend zitiert es Hans-Joachim Schabedoth (Grundsatzexperte beim DGB-Bundesvorstand): »Wir werden jetzt von der Politik ernster genommen und finden ein offeneres Ohr ... Die Verantwortung lastet so schwer auf der Regierung, daß ideologische Barrieren beiseitegeschoben werden.« Erstaunlich ist es nicht, daß unter den gegenwärtigen Umständen Wirtschaftseliten und regierende Politiker die Nähe zu den Gewerkschaftsführungen suchen. Bei Kurzarbeit, Entlassungen, Lohnkürzungen und anderen Grausamkeiten sind gewerkschaftliche »Co-Manager« nützlich, sie dämpfen den Unmut der Betroffenen. Die »Last der Verantwortung« wird umverteilt, sozialpartnerschaftlich sozusagen. Unter Gewerkschaftern und Sozialdemokraten in der alten Arbeiterbewegung war die Rolle als »Arzt am Krankenbett des Kapitalismus« ein vieldiskutiertes Thema. Aber so miserabel ist die aktuelle Befindlichkeit des Wirtschaftssystems nicht, daß lebensrettende ärztliche Hilfe gefragt wäre. Damit die derzeitigen Blessuren nicht gefährlich werden, sind die Gewerkschaften als Sanitäter erwünscht, zeitweilig. Eine Dauerbeschäftigung wird ihnen daraus nicht erwachsen. Wenn die »Last der Verantwortung« nicht mehr so drückt, können sie wieder aus diesen Diensten entlassen werden. Marja Winken Absage ans KaffeekränzchenSchon seit Tucholsky kennt man die SPD als die Partei, in der Familien Kaffee kochen können. Satire? Nein. Für Bestätigung sorgt die Stuttgarter SPD, die sich die Kampagne »Der Stuttgarter Osten ist rot« ausgedacht hat. Unter diesem Motto möchte sie einen Dialog führen. Sie will, daß man sie zu sich nach Hause einlädt und für sie Kaffee (oder wahlweise Tee) kocht. Dafür bringt sie Kuchen mit. Da die SPD nichts Wählbares mehr zu bieten hat, will sie die Meinung der Bürger erfahren. Außer bei Kaffee und Kuchen kann man ihr seine Meinung auch auf einer vorgefertigten Postkarte oder auf dem online-Formular ihrer Homepage übermitteln. Nun gut, was wir ihr mitzuteilen haben, ist kurz: Die Zeit, als der Osten rot war, ist lange vorbei, und die SPD hat alles getan, damit die Farbe Rot ihre politische Bedeutung verliert. Die Partei ist schwarz geworden und hat es sich längst abgewöhnt, »dem Morgenrot entgegen« zu gehen, wie sie einst in einem ihrer Lieder sang, die sie vergessen hat. Mit der Partei, die für »Hartz IV« verantwortlich ist, für eine extrem antisoziale Politik, und die Deutschland wieder in imperialistische Kriege geführt hat, möchte ich keinen Kaffee trinken. Und wer sie zum Kaffee einladen sollte, darf nicht mit meiner Teilnahme am parlamentarischen Kaffeekränzchen rechnen. Wolfgang Haible Gelähmt – oder gefangen?Über die »Lähmung der Linken« schreibt in den Blättern für deutsche und internationale Politik Albert Scharenberg, einer der Redakteure der Zeitschrift. Weshalb stagniert die Linkspartei, obwohl doch der Neoliberalismus an Kredit verloren hat? Hat die SPD mit ihrem propagandistischen Schwenk zum Sozialstaatlichen (der einem, so Scharenberg, »die Sprache verschlagen kann«) die linke Opposition um ihre Antriebe gebracht? Daran allein könne es nicht liegen, daß linksparteilich Stillstand herrsche, meint Scharenberg; vielmehr sei diese Partei programmatisch steril. Sie verlasse sich zu sehr auf altbekannte links-keynesianische Weisheiten, von denen jetzt aber auch die »Volksparteien« notgedrungen Gebrauch machten. Die Linke müsse darüber hinausdenken, müsse Ideen zum »Charakter des wirtschaftlichen Neuanfangs« jenseits neoliberaler Gewohnheiten entwickeln: »Gefragt sind konzeptionelle Vorschläge für ein neues gesellschaftliches Regulationsmodell.« Ja und aber: Würde das hinreichen? Ist die gesellschaftliche Entwicklung ein Markt der Möglichkeiten, in dem eine Partei mit einem innovativen Modellangebot genug Zuspruch finden kann, um ihren Entwurf zur Regierungssache zu machen? Scharenberg setzt offenbar Vertrauen in das parteipolitisch-parlamentarische Marktgeschehen. Aber kann es nicht sein, daß die Linkspartei gerade deshalb unbeweglich ist und gesellschaftliche Bewegung nicht anzuregen vermag, weil sie sich ideell und praktisch in die Gefangenschaft der herrschenden politischen »Marktordnung« begeben hat? Weil sie sich dazu vergattern ließ, den Begriff von Demokratie zu verengen auf die Parteienkonkurrenz um Koalitionschancen und Regierungsämter? Arno Klönne Ethik für alle, auch für ChristenMit viel Geld und vielen unwahren, heuchlerischen und diffamierenden Behauptungen werben derzeit in Berlin die Kirchen, die CDU und auch die FDP für die Abschaffung des gemeinschaftlichen Ethik-Unterrichts an den Schulen. Mit einem Volksbegehren wollen sie am 26. April erreichen, daß die Schülerinnen und Schüler sich künftig zwischen Ethik- und Religionsunterricht entscheiden müssen. Wer Religion wählt, scheidet dann aus dem Ethik-Unterricht aus. Ein früherer Vorstoß gegen das Pflichtfach Ethik war 2007 am Bundesverfassungsgericht gescheitert. Bei der Abweisung der Klage stellte das Gericht fest: »Die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog ist eine Grundvoraussetzung nicht nur für die spätere Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozeß, sondern auch für ein gedeihliches Zusammenleben und wechselseitigen Respekt vor der Glaubensüberzeugung und Weltanschauung anderer.« Auch in Berlin, wo kaum 30 Prozent der Bevölkerung Christen sind, findet an den Schulen Religionsunterricht statt. Für diesen Bekenntnisunterricht zahlt das Land Berlin jährlich rund 50 Millionen Euro, die von allen Steuerzahlern, unabhängig von ihrem Bekenntnis, aufgebracht werden. Aber das genügt dem Machtanspruch der Kirchen nicht mehr. Flugblätter mit »10 Gründen gegen kirchliche Sonderrechte in Berlin« sind bei der Humanistischen Union (Haus der Demokratie und Menschenrechte, Fon 20 45 02 56) zu beziehen. Red. Fritz Bauerwar ein aufrechter, leidenschaftlicher, energischer und furchtloser Mann, eine vulkanische Seele, ein willensstarke Persönlichkeit, ein rastloser Kämpfer für Humanität und Gerechtigkeit, ein Glücksfall für die bundesdeutsche Justiz. Von den Nazis 1933 ins KZ gesperrt und hernach widerrechtlich aus seiner Position als Amtsrichter in Stuttgart entfernt, floh der Sozialdemokrat jüdischer Herkunft ins Ausland, zunächst nach Dänemark, dann nach Schweden. Er war ein Freund Willy Brandts. Erst 1949 kehrte er in sein Heimatland zurück, um zunächst in der einstigen NS-Hochburg Braunschweig das Amt des Generalstaatsanwalts zu übernehmen. Hier vollbrachte er seine erste Meisterleistung, die ihn über die Grenzen des Landes hinaus bekannt machte. Der Altnazi Ernst Otto Remer, Generalmajor a. D., hatte den führenden Kopf des Attentats vom 20. Juli 1944, Wolf Schenk Graf von Stauffenberg, öffentlich als einen vom Ausland bezahlten Landesverräter diffamiert, wohl wissend, wie viel Beifall er damit bei den Legionen Ewiggestriger finden würde. Bauer nahm einen juristischen Großkampf auf. Er legte sich mit jenen Tausenden von Juristen an, die – wie der bekannte ehemalige Marinerichter aus Baden-Württemberg – nach 1945 nicht aufhörten, uneinsichtig und unbußfertig zu behaupten: »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.« Bauer stellte klar, daß es sich beim NS-Staat von Anfang an nicht um einen Rechtsstaat gehandelt habe, sondern einen Unrechtsstaat, in dem grundlegende ewig gültige Menschenrechte systematisch mißachtet worden seien: das Recht auf Leben, auf physische Freiheit und auf Gleichheit aller. An die Stelle des Rechts seien Unterdrückung, Verfolgung und Vernichtungsgewalt getreten. Die NS-Juristen hätten »gesetzliches Unrecht« ausgeführt, statt Zivilcourage zu zeigen und Nein zu sagen. Widerstand gegen diesen Unrechtsstaat war nach Bauers Überzeugung nicht nur politisch und moralisch legitim, sondern ein zwingendes Erfordernis. Er goß diese Erkenntnis in die klassische Formulierung: »Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig.« Die Verurteilung Remers im März 1952 wegen Verunglimpfung des Widerstandes war ein großer Sieg des Anklägers Fritz Bauer. Das Urteil brachte zugleich die erstmalige juristische Rehabilitierung der Männer und Frauen des 20. Juli 1944. Für die deutsche Öffentlichkeit stellte das Urteil eine historische Zäsur in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit dar. 1956 holte der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn (SPD) Fritz Bauer in sein Bundesland, wo bereits herausragende intellektuelle Querköpfe wie Martin Niemöller, Theodor Adorno, Wolfgang Abendroth und Otto Brenner wirkten. Als hessischem Generalstaatsanwalt waren Fritz Bauer nunmehr 199 Staatsanwälte und Assessoren unterstellt, wodurch sich sein justizpolitischer Gestaltungsraum erweiterte. In der Folgezeit sah er seine vordringliche Aufgabe darin, einen Prozeß über den Komplex Auschwitz vorzubereiten. Es ging ihm nicht nur darum, eine Reihe von Tätern aus dem zentralen Vernichtungslager endlich vor Gericht zu bringen. Sein vordringliches Anliegen war ein geschichtspolitisches: Er wollte die deutsche Öffentlichkeit, die damals noch wenig über den Holocaust wußte und wissen wollte, statt dessen aber ununterbrochen den Schlußstrich unter die NS-Vergangenheit einforderte, über das ganze Ausmaß der Massenverbrechen aufklären. Zahlreicher und einflußreicher als seine Bewunderer waren Bauers Gegner: die ehemaligen Nazis und Deutschnationalen in der öffentlichen Verwaltung der Bundesrepublik, besonders in der Justiz. Der hessische Generalstaatsanwalt wurde jahrelang beschimpft, verleumdet und bedroht. Die Vermutung liegt nahe, daß die vielen Anfeindungen zu seinem überraschenden frühen Tod im Jahre 1968 beigetragen haben. An den Maßstäben, die Fritz Bauer setzte, kann sich eine jüngere Juristengeneration orientieren. Die Historikerin Irmtrud Wojak, die in diesen Tagen zur Gründungsdirektorin des neuen NS-Dokumentationszentrums in München berufen wurde, hat Fritz Bauer mit ihrer grundlegenden, einfühlsamen, streckenweise auch erschütternden Biographie ein Denkmal gesetzt. Wolfram Wette Irmtrud Wojak: »Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie«, C. H. Beck 2009, 638 Seiten, 34 € Ruth Liepman (1909–2001)würde am 22. April 2009 hundert Jahre alt. Eine faszinierende Frau, die als Jüdin und Kommunistin im holländischen Exil nur mit viel Glück überlebt hat und zur wohl bedeutendsten Literaturagentin Europas wurde. Ich hatte das Glück, sie schon im Sommer 1965 kennenzulernen, als sie mich zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Heinz Liepman, wegen eines Buchprojekts über Kriegsdienstverweigerung aufsuchte. Bei dieser Gelegenheit entdeckte sie meine für den Familiengebrauch erfundenen Kindergeschichten (»Die kann man drucken!«). Das war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Wenn man ihr freundliches Gesicht sah und ihre Heiterkeit und mitmenschliche Herzensgüte erlebte, konnte man vergessen, welch schweres Lebensschicksal und welche schlimmen Erfahrungen mit ihren deutschen Landsleuten diese zierliche Frau hinter sich hatte. Aufgewachsen in Hamburg als Tochter eines sehr sozial eingestellten und beliebten Arztes lernte sie frühzeitig den antisemitischen Terror der Nazis kennen, die dem Vater die Existenzgrundlage und ihr selbst die Möglichkeit einer Universitätskarriere entzogen. Sie konnte noch ihr juristisches Studium beenden und den Doktortitel erwerben, mußte dann aber emigrieren, da sie wegen kommunistischer Aktivitäten mit Haftbefehl gesucht wurde. In den Niederlanden verhalf sie als Mitarbeiterin eines Anwalts vielen Juden zur Flucht ins Ausland, bis sie nach dem Einmarsch der Hitler-Wehrmacht selbst zum Untertauchen genötigt war. Bei einer Arbeiterfamilie in Beverwijk, die aus calvinistischer Glaubenshaltung die mit der Asylgewährung verbundene Gefahr bewußt auf sich nahm, wurde Ruth Liepman, als Kinderfrau und Haushaltshilfe getarnt, aufgenommen und erlebte dort schließlich die Befreiung. Was sie in der Zeit ihres Exils an menschlicher Größe, aber auch an tiefen Enttäuschungen erlebt hat, läßt sich nicht in Kurzfassung erzählen. Sie hat als 83-jährige, kurz bevor ihr Gedächtnis in Altersdemenz verdämmerte, einem aufmerksamen Zuhörer ihr Leben und ihre Erinnerungen an Menschen, denen sie begegnet ist, erzählt. Helge Malchow, damals noch Lektor bei Kiepenheuer & Witsch, hat den munteren Ton ihrer Erzählung getreulich festgehalten, so daß eine sehr lesenswerte, ungewöhnlich ehrliche Autobiografie entstanden ist (1993 erschienen, aber leider nur noch antiquarisch zu haben). Heinrich Hannover Ruth Liepman: »Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall«. Erinnerungen, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 253 Seiten Meister des Lakonischen»Einsteigen bitte, der Zug endet hier.« Ist das pure Wortspielerei? Oder Albernheit? Oder die zugespitzt formulierte Lebenserfahrung eines Skeptikers? Ich vermute, nicht einmal der Autor Lothar Kusche selber könnte das immer fein säuberlich auseinanderhalten. Jedenfalls ist man sofort fasziniert, wenn eine Geschichte mit den Worten beginnt: »Ich bin tot, und das kam so:«. In dieser Geschichte aus dem Jahre 1948, das sei hier verraten, verhungerte der Erzähler, nachdem sich schon andere mögliche Todesarten angekündigt hatten. Man empfindet es als tröstlich und erfreulich, daß er nach seinem Tod selber darüber berichten konnte und bis heute nicht aufgehört hat, Geschichten zu erzählen. 1962 entstand das »Minuten-Märchen«, das ich in Gänze wiedergebe: »Es war einmal ein richtiger alter Deutscher, der hatte, obwohl richtige alte Deutsche niemals Fehler machen, einen Fehler gemacht. Und nun, liebe Kinder, will ich euch erzählen, was er machte, nachdem er den Fehler gemacht hatte: Er gab den Fehler zu.« Weniger märchenhaft erscheint mir »Das vorläufig letzte Märchen« (1996). Der Anfang lautet: »Es war einmal ein reicher Bruder, der hatte seinen armen Bruder lange nicht besucht, ihm aber zu Weihnachten immer Kakao geschickt…«, das Ende: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann wachsen sie heute noch zusammen.« Wer schreibt so wunderbar lakonisch wie Lothar Kusche, der vor mehr als 60 Jahren seine ersten Beiträge für die Weltbühne lieferte und an Ossietzky seit dem ersten Heft mitarbeitet? Die zu seinem 80. Geburtstag Anfang Mai vorgelegte kleine Auswahl aus seinem Werk bereitet großes Lesevergnügen – vor allem wenn man es aufgibt, danach zu fragen, ob dieser oder jener Satz vielleicht Nonsens ist – wie so manches im Leben. Evelyn Enzian Lothar Kusche: »Ich bin tot, und das kam so…«, eingeleitet von Matthias Biskupek, Eulenspiegel Verlag, 128 Seiten, 5.90 € Press-KohlKarin Henkel, die sich nicht mit der Herstellung von Waschpulver beschäftigt, sondern mit der Einstudierung von Theaterspielen, hat das Deutsche Theater (Berlin) in diesem Jahr mit der szenischen Bearbeitung eines berühmten Briefromans wiedereröffnet: »Gefährliche Liebschaften«, verfaßt 1782 von Pierre-Ambroise François Choderlos de Laclos. 1905 interessierten sich auch Franz Blei und Heinrich Mann für diese »Liebschaften«; beide übersetzten und bearbeiten das Werk. Vor Film- und Bühnen-Adaptionen blieb es nicht verschont. Nun Frau Henkel. Und Dirk Pilz, der sich in der Berliner Zeitung den jüngsten Liebeleien am Deutschen Theater widmete. Der Ruf des Banalen, schreibt Pilz, sei »in Hochkulturkreisen denkbar schlecht. Entweder wird es unter Kitschverdacht gestellt oder aber der Plumpheit geziehen ... Dabei verdichtet sich im Banalen eine Menschheitserfahrung, die alles andere als kitschig, plump und lächerlich ist, weil es der Unterschlupf jener Alltäglichkeiten ist, durch die sich unser Denken, Fühlen und also Leben ausdrückt.« Nachbarin! Euer Fläschchen! Ich gehöre nicht zu jenen Hochkulturkreisen, welche sich auf manchen Redaktions-Tapeten wie Schimmelpilz ausbreiten, und weiß also nicht, ob dort der Ruf des Banalen denkbar schlecht ist. Oder ob das Banale von jenem Kölner Handelsmann, welcher die Berliner Zeitung gerade für ein paar banale Bananen gekauft hat, der Plumpheit geziehen wird. Doch konnte ich lernen, daß im Banalen jene Alltäglichkeiten Unterschlupf finden, mit denen man jetzt auf der Presse-Bühne am Alexanderplatz jongliert, die jetzt Herrn Neven DuMont gehört. Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 8/2009 |
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