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Juni 1923 in die Kioske gekommen war. Es zeigte einen nach links blickenden, Hut tragenden, freundlich lächelnden Mann. Die Bildunterschrift besagte, daß es sich dabei um Upton Sinclair handele. Dieser sei »einer der meistgelesenen amerikanischen Schriftsteller, der durch seine antikapitalistischen Sensationsromane berühmt geworden ist und jetzt aus politischen Gründen verhaftet wurde«. Als die Berliner Illustrirte ihren Lesern diese Information gab, war Sinclair schon längst wieder auf freiem Fuß. In Haft genommen hatte ihn am 15. Mai in Los Angeles der städtische Polizeichef Plummer, nachdem Sinclair auf einer Solidaritätsveranstaltung für inhaftierte streikende Hafenarbeiter den ersten Zusatzartikel der US-Verfassung verlesen hatte. Der Regierung wird darin verboten, ein Gesetz zu erlassen, das »die Freiheit der Rede oder der Presse beschränkt oder das Recht des Volkes beeinträchtigt, sich friedlich zu versammeln«. Die Streikenden waren eingesperrt worden, weil sie – neben der Nationalflagge und Fahnen anderer Länder – die Flagge der UdSSR gehißt hatten. Damit, so lautete die Anschuldigung, sei aus dem Streik eine Revolution geworden. Die Nachricht von der Festnahme Sinclairs gelangte auch nach Europa, woraufhin das Auslandskomitee der Internationalen Arbeiterhilfe sogleich bei US-Präsident Harding protestierte und an Sinclair telegrafierte: »Vernehmen mit Entrüstung Verhaftung. Haben bei Harding protestiert. Brüderliche Grüße von uns allen.« Upton Sinclairs Antwort lautete kurz und knapp: »Nicht kümmern – ganz gewöhnlich in Amerika.« Doch zurück zum Bild mit dem falschen Sinclair. Wer meint, dieser Fauxpas der Agentur Atlantic-Phot sei eine im Orkus der Geschichte untergegangene einmalige Fehlleistung gewesen, der irrt. Das Foto geistert noch heute im Internet als Upton Sinclair herum; ein Klick bei Google und man hat es mehrfach auf dem Monitor. Doch es kommt noch schlimmer. Unter dem Titel »Writers who Changed the World« druckt seit einigen Jahren ein in Madison (Wisconsin) ansässiger Verlag Poster, die den Schulunterricht ergänzen sollen. In dieser Reihe fehlt auch Upton Sinclair nicht – nur: Die auf dem Poster abgebildete Person ist nicht der Autor; der Verlag verwendete wieder jenes fälschlich Sinclair zugeordnete Foto. Als Quelle nennen die Produzenten die Wisconsin Historical Society. Sucht jemand in deren Archiv nach einem Bild Sinclairs, dann bekommt er unter »Image ID 3274« nur dieses eine Motiv eines »unbekannten Urhebers« – »Creator Name: Unknow« – geboten. Wer will da auf die Idee kommen, daß das Bild nicht den Gesuchten zeigt? Bleibt die Frage: Wer ist denn die Person auf dem Bild? Die Antwort findet sich in Anthony Arthurs neuer Sinclair-Biographie »Radikal Innocent: Upton Sinclair«. Dort sind auf einer Bildtafel drei Personen abgebildet: in der Mitte Sinclairs zweite Frau Craig sowie an ihren Seiten zwei Bekannte ihres Mannes, die Schriftsteller George Sterling und Clement Wood. Aufgenommen wurde die Dreiergruppe 1914 während einer von Upton Sinclair organisierten Protestdemonstration vor dem Sitz der Standard Oil Company auf dem New Yorker Broadway. Anlaß für den Protest war das von der Miliz verursachte Massaker unter streikenden Bergarbeitern Colorados in Ludlow, das John D. Rockefeller jun. verantwortete. Dreißig Bergarbeiter sowie mehrere Frauen und Kinder fanden bei dem Gemetzel den Tod. Clement Wood, an der linken Seite von Craig, ist es, dessen herauskopierter Kopf seit über 80 Jahren als Upton Sinclair – für den Wood kurzfristig als Sekretär arbeitete – um die Welt geht. Wahrscheinlich brauchte die Atlantic Phot. nach der Verhaftung des weltweit bekannten Autors von »Dschungel«, »König Kohle« und »100 Prozent« dringend ein Porträt Sinclairs, fand jedoch im eigenen Archivs keines, nur jenes neun Jahre alte. »Wer anders als ihr Mann kann es sein«, hat wohl der zuständige Redakteur geschlußfolgert, »der da an Craigs linker Seite gehend zu ihr blickt?« Und so hat er den Hut-Mann herauskopiert und als Upton Sinclair in die Welt gesetzt. In seiner 1927 verfaßten Studie über die amerikanische Literatur »Money Writes« (die deutsche Ausgabe »Das Geld schreibt« erschien 1930 im Berliner Malik-Verlag) erwähnt Sinclair auch seinen ehemaligen Sekretär. »Warum«, so fragt er, »hat sein Werk nicht gehalten, was er im Anfang versprach? Ich denke, das hängt damit zusammen, daß er im Kern mehr Ehrgeiz als ernsten Willen hat. Wenn es auf die Probe ankam, wollte er den Tribut nicht entrichten, den große Kunst auferlegt. ... Ich erinnere also meinen Freund an Goethes ernste Mahnung, daß die himmlischen Mächte nur kennt, wer sein Brot mit Tränen aß.« Clement Wood (1888 bis 1950) ist heute ein Vergessener, selbst bei Wikipedia findet sich kein Eintrag über ihn. Nur das Foto, auf dem er zu sehen ist, wird wohl im Zeitalter des Internets überleben – als Upton Sinclair.
Erschienen in Ossietzky 8/2009 |
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