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Als das Offizielle vorbei war, kam ein älterer Herr auf mich zu und fragte: »Wie lange sind Sie denn in der DDR geblieben?« Meine Antwort »Bis zum bitteren Ende« erstaunte ihn. »Wie konnten Sie es da so lange aushalten?« Er selber, ein Sozialdemokrat, sei von der Stasi lange eingesperrt gewesen und danach in den Westen gezogen. Unser Gespräch konnte nur kurz sein. Hinterher dachte ich jedoch lange darüber nach – nicht zum ersten Male. Ich konnte seine Gefühle, auch den Haß, nur allzu gut verstehen. Ohne die Hintergründe seines Falls zu kennen, versicherte ich meine Trauer über die Brutalität in politischen Fällen. Damals in der DDR, auch ohne viele Fakten und Schicksale zu kennen, war ich immer wieder zusammengezuckt und hatte mich als ausländischen Kommunisten gefragt, ob solche Methoden die für mich heilige Sache wirklich schützten oder ihr eher gründlich schadeten. Die Antwort, die später einschlug, war eindeutig und bitter. Allerdings wäre damals die Frage des Besuchers für mich sehr leicht zu beantworten gewesen. Wäre ich von der DDR westlich weggewandert – was mir als Ausländer stets erlaubt war –, hätten mich nicht nur die fünf Jahre Haft bedroht, vor denen ich aus der US Army in »den Osten« geflüchtet war, sondern lange zusätzliche Haftjahre wegen meiner Desertion. So war ich lieber in der Berliner Karl-Marx-Allee geblieben. Erst 1994 durfte ich, wohl weil keine Gefahr mehr von mir ausging, nach 42 Jahren die Heimat wiedersehen. Doch ich mußte eine bessere Antwort finden. Nun, im Willy-Brandt-Haus hingen Fotos der Ruinen von Madrid, der in Panik flüchtenden Mütter, der toten Kinder. Hoch oben damals, wußte ich, gratulierten sich die Piloten in ihren Messerschmitts, Junkers und Heinkels, etwa Oberleutnant Johannes Trautloft, einer der ersten Nazi-Flieger, der nach dem Madrid-Einsatz begeistert ins Tagebuch schrieb: »Alles ... was dort im Umkreis kreucht und fleucht und nicht erschlagen wird«, müsse »in panischem Entsetzen davonjagen«. Es hingen auch Fotos von den Resten der kleinen Baskenstadt Gernica. Binnen weniger Stunden hatten die deutschen Bomber sie ausradiert, die flüchtenden Zivilisten im Tiefflug beschossen. Staffelkapitän Heinz Trettner und die anderen Helden flogen dann befriedigt zurück in ihre Legion-Condor-Stützpunkte. Kaum 20 Jahre später, nachdem sie Kreta, Rotterdam, Smolensk und andere Orte in ganz Europa auf ähnliche Art verwüstet hatten, wurde Trautloft zum General der Luftwaffe ernannt, Trettner sogar zum Generalinspektor der gesamten Bundeswehr, und seine Ziele waren die »Grenzen von 1939«: Schlesien, Danzig, Ostpreußen. Trettners Vorgänger als Generalinspektor war General Heusinger aus Hitlers Generalstab und dann General Förtsch, der in der Sowjetunion wegen der Zerstörung der uralten Kulturstädte Pskov und Novgorod sowie des Palais Petershof als Kriegsverbrecher verurteilt worden war. Nach Trettner kam General de Maizière, ebenfalls aus Hitlers Generalstab, der wochenlang nach Kriegsende dem Nazireich noch treu gedient hatte. Ihre Wehrmacht hatte auch meinen Cousin Jerry, weil er jüdisch war, bestial getötet! Nein, dorthin, zu denen, hätte ich nicht gehen können! Und in der Volksarmee der DDR? Ich liebte nicht den Stil ihres Chefs, General Heinz Hoffmann; mich ärgerte vieles an der NVA, und nicht nur an ihr. Doch hatte Hoffmann nicht für Hitler, sondern gegen ihn gekämpft! Sein Nachfolger Heinz Keßler war während des Kriegs aus der Wehrmacht desertiert, um nicht für Hitler zu kämpfen. Vergebens hätte man in der DDR Kasernen gesucht, die nach Männern wie Werner Mölders genannt wären, der ebenfalls in Spanien und anderswo Mütter und Kinder mordete, wofür er vom Hitler das Ritterkreuz mit Schwertern und Brillanten bekam. Erst 2005 änderte man murrend den Kasernennamen. Vieles von dieser Art kam hinzu, dachte ich. Nicht nur Generäle waren es, die dem Nazi-Reich bis zuletzt gedient und nie merklich bereut hatten, sondern scharenweise Polizeichefs, Richter, Professoren, Botschafter (fast alle), Staatssekretäre wie Vialon und Globke, sogar Minister wie Oberländer, Kanzler Kiesinger, Präsident Lübke. Bei Beginn des Spanienkrieges hatten die westlichen Demokratien, geführt vom britischen Prime Minister Neville Chamberlain und sogar vom französischen Sozialisten Leon Blum, beschlossen: Die Faschisten sind nicht nett, es sind keine Gentlemen, doch allemal besser als der Pöbel einer spanischen Volksfront, die den Reichtum bedrohen könnte. Ihre Fehlentscheidung hatte furchtbare Folgen. Der Verrat an der Demokratie verhinderte einen durchaus möglichen Sieg über Franco, Hitler und Mussolini. Die Fotos in Willy-Brandt-Haus zeigten auch triumphierende Faschisten. Nun umringten sie Frankreich, dessen Regierung gekauft und korrumpiert war, und Hitler konnte schon sechs Monate später wagen, seinen Krieg zu beginnen, Frankreich zu besetzen, England zu bombardieren, Leningrad zu belagern, die Vernichtungslager Auschwitz, Sobibor, Treblinka zu errichten. Hat man aus der spanischen Tragik gelernt? Oder kann es heute noch oder wieder Politiker geben, die Bündnisse lieber mit den Rechten als mit den Linken suchen? Und Unternehmer, die solche Bündnisse fördern? Und liberale Medien, die lieber Koch als Ypsilanti propagieren? Meinem unbekannten Gesprächspartner in Gedanken antwortete ich: Ja, Schlimmes und Ungerechtes gab es in der DDR – wie leider auch in meiner US-amerikanischen Heimat, die mich damals zur Flucht bewog. Allein, die oft unfähigen, harten, verzweifelten und am Ende verfehlten Methoden, mit denen die DDR das Gute und Hoffnungsvolle vor dem ungeheuren Druck von draußen zu schützen versuchte, riefen in mir besondere Trauer hervor. Denn es galt, wie damals in Spanien, ein Land ohne Arbeitslose und Obdachlose zu schaffen, mit Bildung und Medizin ohne Preiszettel. Und nicht wenige Rechte für Frauen, für Kinder waren schon erreicht. Der Preis für das Verlieren 1939 enthielt blutige Tragik. Der Preis für 1989, unblutig, hat auch seine Tragik. Für mich jedoch, ganz abgesehen von den möglichen persönlichen Konsequenzen eines Abwanderns, war es damals wie heute nicht denkbar, zu den Trettners und Trautlofts – oder wie sie heute heißen – überzulaufen.
Erschienen in Ossietzky 7/2009 |
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