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Ihr Handikap besteht, wie Werbematerialien und Vorschauen zu entnehmen ist, darin, daß die Mehrzahl der Autoren brav der Kinkelschen Delegitimierungslinie folgt und bekannte Fakten wie auch Halbwahrheiten und Lügen wiederkäut. Da allein ihre Aufzählung ein eigenes Buch füllen würde, muß es an dieser Stelle genügen, einige der Stichwörter zu nennen, die vom Dr. Ronald Henns Verlag für einen Autorenwettbewerb »Mauerstücke – Erinnerungsgeschichten. 20 Jahre Fall der Berliner Mauer« vorgegeben werden: Grenzmauer, Todesmauer, Todesstreifen, Schandmauer, Grenzpolizist, Todesschuß, Diktatur, Unrechtsregime, SED, Stasi, Stasispitzel, Schießbefehl, Fluchthelfer. Die Texte sollen per E-Mail eingesandt werden und die besten von ihnen in einer »Anthologie zum Herbst 2009, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall« veröffentlicht werden, wobei dem erstplazierten ein Preisgeld von 100 Euro winkt. Für andere Neuerscheinungen zum Mauerthema – von denen einige hier stellvertretend genannt seien – dürften die Autorenhonorare nicht ganz so bescheiden ausfallen. Der Siedler Verlag warf zu Jahresbeginn einen 576 Seiten dicken Wälzer mit dem originellen Titel »Die Mauer« auf den Markt. Autor ist der britische Historiker Frederick Taylor, »der die vollständige Geschichte dieses unmenschlichen Bauwerkes erzählt«. Der Imhof Verlag kündigt für den Mai das Werk »Deutschland 1989: Ein Jahr, das unser Land veränderte. 20 Jahre Fall der Mauer« des freien Journalisten und Leiters der Geschäfts- und Pressestelle des Verbandes der deutschen Münzenhändler, Helmut Caspar, an. Laut Kurzbeschreibung zeigt das Buch, »wie aus dem anfänglichen ›Wir sind das Volk‹ der machtvolle Ruf ›Wir sind ein Volk‹ wurde«. Für den etwas gehobeneren Geschmack brachte der Suhrkamp Verlag in diesen Tagen das Taschenbuch »Die Nacht, in der die Mauer fiel« heraus, in dem 25 Autoren aus Ost und West die »historische Nacht Revue passieren (lassen)«. Beworben wird im Jubiläumsjahr auch ein Werk, das das Geheimnis lüftet, wer die Mauer öffnete. Der Publizist Gerhard Haase-Hindenberg führte »intensive Gespräche« mit Harald Jäger, Oberstleutnant der Staatssicherheit, der am 9. November um 23 Uhr 20 entgegen dem ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten« den Schlagbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße öffnen ließ. Der Heyne Verlag gab ihm den Titel »Der Mann, der die Mauer öffnete«. Exakt mit diesem Werbespruch – »Der Mann, der die Mauer öffnete« – preist der zur Ullstein-Verlagsgruppe gehörende Econ Verlag das Buch »Wir haben fast alles falsch gemacht. Die letzten Tage der DDR« an, in dem das ehemalige SED-Politbüromitglied und Wendehals Nr. 1 Günter Schabowski dem Asienspezialisten Frank Sieren berichtet, wie er den Mauerfall heute sieht. Im August erwartet die gespannte deutsche Öffentlichkeit einen literarischen Höhepunkt: das Buch von Hubertus Knabe »Die vergessenen Opfer der Mauer. Inhaftierte DDR-Flüchtlinge berichten«, in dem der bekannte DDR-Aufklärer »erschütternde Zeugnisse von Opfern des DDR-Regimes« gesammelt hat. Der Leiter der für freien Umgang mit der historischen Wahrheit bekannten Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zählt auch zu den Autoren des Jaron Verlages. Dieser gilt als Marktführer im Bereich der Berlin-Literatur und nimmt zweifelsohne eine Spitzenposition bei der publizistischen Aufarbeitung der Mauer ein. In einem eigenen Prospekt »Berliner Mauer. 20 Jahre Mauerfall« wirbt er für folgende aktuelle Druckerzeugnisse aus seiner Produktion: »Geteilte Stadt. Die Berliner Mauer«, »Berlin. Die Mauer«, »Mauerstadt Berlin«, »Wo stand die Mauer in Berlin?«, »Ostberlin. Leben vor dem Mauerfall«, »Gewendet. Vor und nach dem Mauerfall«, »Die Mauer ist gefallen«, »Die Berliner Mauer«, »Die Mauer gestern und heute«, »Mauerspiel. Quizkarten rund um die Berliner Mauer«. Wer könnte bei solcher Vielfalt auf die Idee kommen, daß ein Thema politisch und kommerziell bis zum Gehtnichtmehr ausgewrungen wird? Goethe meinte, es gebe Bücher, durch welche man alles erfährt und doch von der Sache nichts begreife. Es steht zu befürchten, daß es sich bei den meisten angekündigten Mauerbüchern um solche handelt, durch welche man allerhand, nur das Wichtigste nicht erfährt: nämlich die historischen Zusammenhänge, in denen die Mauer zu betrachten ist. Diese Erkenntnis ist nicht neu. In einer Erklärung von 1997 stellte der Vorstand der PDS fest: »Die Zustände an der früheren Staatsgrenze, die zugleich eine Konfrontationslinie hochgerüsteter Militärblöcke war, hätte es – wie diese Grenze selbst – nie gegeben, wenn es das Dritte Reich und seinen Weltkrieg nicht gegeben hätte.« Natürlich könnte hier eingewendet werden, das sei die Haltung der Linken, der Nachfolger der Mauerbauer, der DDR-Nostalgiker und folglich völlig inakzeptabel. Bitte schön, dann ziehen wir eben einen scharfen Kritiker der DDR zu Rate, den lange Zeit auch in der Bundesrepublik hoch geschätzten Schriftsteller Stefan Heym, der drei Jahre vor dem Fall der Mauer feststellte: »Ohne Hitler kein Krieg und ohne Krieg kein Vorrücken der Sowjetmacht bis in die Mitte von Deutschland; ohne Hitler also keine Teilung Deutschlands in ein östliches und westliches Besatzungsgebiet. Die Anfänge der Mauer liegen demnach in jener Nacht im Januar 1933, als auf der Wilhelmstraße in Berlin SA und SS fackeltragend an ihrem Führer vorbeimarschierten ...« Wiederum könnte moniert werden, daß Heym doch auch ein Linker war, der für die PDS in den Bundestag einzog und zudem als Alterspräsident die erste Sitzung des 13. Deutschen Bundestages eröffnete, zum großen Mißfallen von Bundeskanzler Kohl und dessen Mannen. Na gut, dann sei eben an ein Staatsoberhaupt während der Kohl-Ära erinnert. In einer Rede im Berliner Reichstagsgebäude erklärte Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1983: »Am 30. Januar 1933 brach die Weimarer Republik zusammen. In allernächster Nähe von diesem Platz, an dem wir versammelt sind, leuchtete am Abend des 30. Januars ein Fackelzug den Beginn der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft ein ... Sie hat unsägliches Leid über viele Millionen unschuldiger Menschen mit sich geführt ... Sie hat den Gang der Geschichte grundlegend verändert ... Wie ein mahnendes Monument steht dieser Reichstag an der Mauer, die bis auf den heutigen Tag Berlin, Deutschland und Europa teilt. Aber es gäbe diese Mauer nicht ohne den 30. Januar 1933.« Wer diese historischen Zusammenhänge erfährt, der wird auch von der Sache, von der Mauersache, mehr begreifen. Aber leider, darauf kann man wetten, wird die übergroße Mehrheit der Bücher zum Mauerfall sie ausklammern und selbst den sonst so verehrten Altbundespräsidenten nicht zitieren. Wer hält dagegen? Vermißt. Auf der Leipziger Buchmesse (12.–15.März) hatten die Neuerscheinungen kein anderes Thema. Nur verordneter Antisozialismus. Aber wird uns dieser Schwall von Büchern über die Krise hinweghelfen können? Am großen Rowohlt-Stand suchte ich nach dem von Gabriele Gillen und Walter van Rossum herausgegebenen, im Januar erschienenen »Schwarzbuch Deutschland« mit dem Untertitel »Das Handbuch der vermißten Informationen«, an dem seit 2007 auch mehrere Ossietzky-Autoren mitgeschrieben haben. Ich fand es nicht. Die Standhelferin, die ich fragte, wußte nichts. Sie erkundigte sich an vorgesetzter Stelle. Ergebnis: »Das Buch ist schon im Januar erschienen und durch die Frühjahrskollektion überholt.« E.S.
Erschienen in Ossietzky 6/2009 |
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