Werner René Schwab, Veralberung

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Veralberung

Als ich dieser Tage wieder einmal die Horror- und Katastrophenberichte über die Weltwirtschaft hörte und las, konnte ich nur milde lächeln. Ich wußte ja: Der Ausweg ist längst gefunden. Und zwar von der CDU, der stärksten Partei unseres Deutschlands. Nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Der Ausweg heißt: Soziale Marktwirtschaft. Diese Erkenntnis hatte ich dem offiziellen Magazin dieser Partei, Union, entnommen. Generalsekretär Ronald Pofalla versichert mir da, die CDU habe inzwischen »die Voraussetzung dafür geschaffen, daß wir die Krise nicht nur überstehen, sondern gestärkt daraus hervorgehen«. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel beruhigt nicht nur mich, sondern ebenso die anderen Industriestaaten, die lediglich unserem Beispiel zu folgen brauchen: »Denn wir haben das Erfolgsmodell, und endlich ist nun auch die Welt bereit für eine internationale Dimension der Sozialen Marktwirtschaft.« Das deutsche »Erfolgsmodell«, so steht da zu lesen, stelle die Weichen für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung weltweit.

Das gleiche schreiben in dem Blatt auch führende deutsche Unternehmer. Hans-Peter Keitel, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie: »Solidarität und Moral sind keine Bremse für die unternehmerische Phantasie, sondern – im Gegenteil – gut fürs Geschäft. Jeder, der in einer Führungsposition ist, trägt soziale Verantwortung für unsere Soziale Marktwirtschaft.« Und weiter erfahre ich, nun habe »sich gezeigt, daß die Soziale Marktwirtschaft auch dem Turbokapitalismus überlegen war«.

Was das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft im einzelnen ist, erfahre ich nicht. Wieso sie Lohndrückerei, Abbau von Arbeitnehmerrechten, Sozialleistungen und Renten, vier Millionen Arbeitslose, Lehrstellenmangel, die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm nicht verhindert hat, wird mir nicht gesagt. Auch die Frage wird mir nicht beantwortet, wieso die BRD in eine so schwere Finanz- und Wirtschaftskrise gerutscht ist, wo wir doch seit 60 Jahren das Patentrezept für den Ausweg aus allen Wirtschaftskrisen besitzen.

Beim Nachdenken darüber verging mir allerdings rasch das Lächeln. Nach all den unsozialen Zumutungen, die sich Kabinett und Kapital für uns ausgedacht haben, fühlte ich mich nach dieser Lektüre veralbert.