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Hier erinnerte man sich an Gerhart Hauptmanns erstes Drama »Vor Sonnenaufgang«. Die Uraufführung vor 120 Jahren war turbulent. Nun inszenierte David Bösch mit dem Bühnenbildner Patrick Bannert. Was im 19. Jahrhundert provokativ wirkte, ist inzwischen antiquiert. Thema: die vermutete Vererbung der Trunksucht (Hauptmann war mit dem Rassehygieniker Alfred Ploetz befreundet). »Asoziale Familien« – der Gedanke fiel bei den Nazis auf fruchtbaren Boden und brachte viele Menschen in Anstalten und in die Vernichtung. Hoffmann, ein Ingenieur, der unbedingt Geld machen will, kommt nach Witzdorf, heiratet die reiche Bauerntochter Martha, erschleicht sich die Rechte an den Kohlengruben und dazu die Bahnstrecke. Sein Studienkamerad Alfred Loth ist Journalist geworden. Er kommt in den Ort, um die soziale Lage der Bergarbeiter zu studieren. Die Konfrontation der beiden und ihrer nun weit auseinanderklaffenden – wie man das damals nannte – Weltanschauungen ist das andere, auch heute noch aktuelle Thema. Leider sind hier viele Dialoge weggefallen, von 19 Personen nur sechs übriggeblieben. Alle Bediensteten auf dem Gut sind gestrichen, auch der einzige »Arbeitsmann«, dem Loth seine soziale Utopie in glühendsten Farben schildert, fehlt in der Hamburger Inszenierung. Der trunksüchtige Vater, der alte Krause, hat gleichfalls keinen Auftritt. Und so versteht man nicht, daß er seine Tochter Helene körperlich bedrängt. Als Dorftrottel erscheint ein stotternder Verwandter, der sich als Sheriff fühlt. Er wird gebraucht, um Handlungen auszuführen, die bei Hauptmann dem Personal vorbehalten sind. Und er soll in all dem Suff belustigen. Martha, die in den Wehen liegt, ist Trinkerin wie die anderen. Frau Krause, die auf höherem Niveau säuft, verschüttet Champagner, »die Flasche 500«, und knackt die Hummer, daß es bis in die erste Reihe spritzt. Kann sie sich ja leisten, will sie zeigen. Und ist immer zu Witzen aufgelegt, die Groß-Bäuerin aus Witzdorf. Alles spielt sich vor einem riesigen Kohlenberg ab. Links die Flaschenbatterie, rechts Stofftierchen fürs Kind, das tot geboren wird. Helene strickt derweil an ihrem rosa Kleid wie an ihrem Selbst, das noch nicht fertig ist. Ihre Liebe zu Alfred Loth gibt ihr Hoffnung auf einen Weg weg von hier. Rührend und ungeschickt, die versuchten Annäherungen der beiden. Loths Prinzipien machen der Liebe ein Ende. Kein reines Blut. Helene bringt sich mit Tabletten um. Die Hamburger Inszenierung betont zu sehr die persönlichen Beziehungen, die Verstrickung der Menschen, nur nicht der Mägde und Diener, die gibt’s ja nicht. Die »Kritische Masse« im Schauspielhaus wirkt so kritisch nicht, eher gelangweilt, lustlos. Die Masse aus Arbeitslosen wartet vor dem »Arbeitsamt« (in Wirklichkeit heißt es längst »Job-Center« oder »Agentur für Arbeit«), das verschlossen bleibt. Die Schlange wird immer länger. Die Jobsuchenden kommen sich näher, geraten miteinander ins Gespräch oder in Konfrontation zueinander. Als Idee nicht schlecht. Nur, was daraus gemacht wird, endet im Klamauk – eine Party vor dem Amt? Es wird geraucht und gesoffen, es werden Würstchen gegrillt. Viele Rauchschwaden auf der Bühne (Magda Willi), die nur aus einer schrägen Fläche besteht. Die Jobsucher erzählen sich, was sie für witzig halten (»alle meine Entchen schwimmen ins KZ«), hören dem Vortrag einer Ethikprofessorin zu, in deren Köfferchen leere Plastikdosen stecken, Tupperware. Lassen sich vom Ex-Animateur anfeuern, vom Schriftsteller aus fremden Briefen vorlesen, die er von seinem Freund, dem Ex-Junkie und Briefträger, erbettelt. Weil er selbst keine Ideen hat? »Ich möchte so gern etwas sein, aber ich bin eine Null«, ist sein Fazit. Ein Alter-Ego des Autors? Alle werden zum Trinken animiert. Aber Spaß kommt erst beim umformulierten Vaterunser auf (»unseren Durst stille uns heute«). Nach jedem Vers ein Schluck. Alle lachen. Der Ex-Barrikadenkämpfer, wie ein vertrottelter Bär, ist müde geworden. »Wir sollten mal langsam anfangen, uns zu wehren.« Wie eine Floskel dahingesagt. Die neue Lethargie. Man stülpt sich Kartons über die Köpfe, da wirkt Protest dumpf und unverständlich und endet in einer allgemeinen Schlägerei mit Kartons. Ein Offener Brief an die Tageszeitung, ein Einfall des Schriftstellers, wird verworfen. Die junge Mutter, den Kinderwagen schiebend und Kette rauchend, versucht, sich umzubringen, es gelingt nicht. Alles endet im Geschrei: »Kopf oder Zahl«. Fäusteschwenken, weiter nichts. Über der Aufführung liegt ein Musikteppich aus Vivaldis »Jahreszeiten« in wechselnder Intensität. Genau wie gegenüber die Hauptbahnhof-Musikberieselung. Wenn der Regisseur nicht tausend flüchtige Einfälle ausprobiert hätte, was zweieinhalb Stunden dauert, wenn er klug gekürzt und nicht alles in einem sozialkritisch angedachten Eintopf verkocht hätte, möglicherweise wäre ein anklagendes Stück dabei herausgesprungen. Schade um die guten Schauspieler. Oliver Bukowski im Infoblatt des Schauspielhauses: »Was Volker Lösch (im »Marat«) da so lustvoll mit schwerem Gerät freilegte – die Not, Angst, Ratlosigkeit – darf jetzt vielleicht feiner, etwas feiner, herausgearbeitet werden. Mal sehen, ob es uns gelingt.« Leider nein.
Erschienen in Ossietzky 5/2009 |
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