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Unglaubliche Hirten
Dietrich Kittner
Hannover im August 1971. An unserer Wohnungstür in der Alleestraße läutete es energisch. »Darf ich hereinkommen?« fragte ein kräftiger Herr im klassischen olivgrünen Ledermantel. Überflüssigerweise. Denn kaum hatte ich unvorsichtig geöffnet, hatte er sich schon ungestüm an mir vorbeigedrängelt und stand längst drinnen.
»Sind Sie der Herr Kittner?«
Dann stellte er sich aber doch noch schnell selbst vor. Ich atmete auf. Entgegen dem, was seine nicht ganz der Jahreszeit entsprechende Aufmachung mich zunächst hatte vermuten lassen, war der unerwartete Besucher nicht in staatlichem Auftrag hier. Nicht einmal der Milchmann war es – sondern nur der Pastor der nahegelegenen Kirchengemeinde.
»Sie sind doch im vorigen Jahr aus der Kirche ausgetreten?«
Das stimmte fast auf den Tag genau. Der gute Hirte hatte wohl einen Zettelkasten im Gemeindebüro. Man kann ja mal nachhaken, ob das verirrte Schäfchen nicht doch wieder reuig zur Herde zurückzukehren bereit ist.
»Was hat Sie und Ihre Gattin denn zu diesem bedauerlichen Schritt bewogen? Darf ich mit Ihnen beiden darüber reden?«
Meine Frau saß mit der Buchführung beschäftigt im Nebenzimmer. Ich hütete mich wohlweislich, sie dazuzuholen, denn Christel ist resoluter als ich und hätte mit aller Sicherheit den Kirchenmann ohne viel Federlesens hinauskomplimentiert. Ich für meinen Teil jedoch verspüre als verbohrter Atheist regelmäßig einen nahezu missionarischen Diskussionsdrang, wenn ich es mit Leuten zu tun haben, die mir die Metaphysik schmackhaft machen wollen. Also nahm ich dem Theologen den schweren Mantel ab und bat ihn, ins Wohnzimmer einzutreten und Platz zu nehmen.
»Warum haben Sie denn nun die Kirche verlassen? Doch sicher nicht nur wegen der Kirchensteuer.«
Da erzählte ich ihm die Geschichte.
Christel und ich waren, ohne daß uns damals jemand um unsere Meinung gefragt hätte, schon im zartesten Säuglingsalter getauft worden. Ohne Murren hatten wir uns auch dem Konfirmandenunterricht gebeugt (so manches damals eingebleute Kirchenlied oder Bibelzitat kann ich heute noch abspulen) und die diesen abschließende Feier über uns ergehen lassen, dann jedoch nie wieder eine Kirche betreten, es sei denn aus kunsthistorischem Interesse. So wie die meisten lauen Kirchensteuerzahler eben auch. Alle Jahre wieder hatten wir uns dann fest vorgenommen, unseren Abfall vom Glauben auch amtlich bestätigen zu lassen, die Sache jedoch aus purer Bequemlichkeit immer wieder aufgeschoben, denn man mußte zum Zwecke des Kirchenaustritts persönlich beim Standesamt vorsprechen. Dessen zu diesem Vorhaben einzig angebotene Bürozeiten waren jedoch listigerweise eng begrenzt. Wenn ich mich recht erinnere: donnerstags zwischen zehn und zwölf. Oder so. Das bedeutete für einen Lohnabhängigen nebenher, daß er sich zum Zwecke des Kirchenaustritts beim Chef freinehmen mußte. Und Chefs konnten schon immer sehr empfindlich sein. Für uns schlampige Bohemiens kam ein so früher Termin eh nicht infrage. Vermutlich nur um aus christlicher Barmherzigkeit Seelen zu retten, machen es Kirchen und Staat denen, die ernsthafte Konsequenzen aus ihrem Unglauben zu ziehen gedenken, möglichst schwer.
Tief beeindruckt hat mich der Fall eines Ulmer Kleinunternehmers, dessen Urururgroßmutter urkundlich belegbar einst als Hexe verbrannt worden war und der sich infolgedessen gegenüber dem Finanzamt weigerte, seinen Mitarbeitern Kirchensteuern vom Lohn abzuziehen. Es sei ihm nicht zuzumuten, so argumentierte er, den Geldeintreiber für eine Institution zu spielen, die eine Familienangehörige habe ermorden lassen. Leider haben sich die Finanzrichter seiner logisch nachvollziehbaren Argumentation verschlossen. Bei Geld hört die Toleranz auf.
Als unser Sohn sein erstes Geld verdient hatte, zog ihm Kirchenvater Staat mir nichts dir nichts den gottgefälligen Obulus per Lohnsteuerkarte vom Lohn ab, obgleich er sich nie irgendeines religiösen Bekenntnisses gerühmt hatte. Auch auf Protest hin wollte ihm das Amt seinen Unglauben nicht glauben und verlangte eine Austrittsbescheinigung. Wer nie drin war, ist behördlich gesehen eben doch drin. Das Grundgesetz garantiert ja nur Glaubens-, nicht jedoch Unglaubensfreiheit. Erst unsere eidesstattliche Erklärung, derzufolge unser Sohn der Segnungen einer Taufe nie teilhaftig geworden, sondern stattdessen von uns als aufrechtes armes Heidenkind aufgezogen worden sei, bewirkte, daß die Landeskirche zukünftig auf seine unfreiwilligen Spenden zu verzichten versprach. Das nun einmal unrechtmäßig eingezogene Zwangsgeld hat er nie zurückerhalten. Der Liebe Gott (ev.-luth.) wird schon irgendwie Verwendung dafür gehabt haben.
Das alles habe ich dem offensichtlich zu meiner Wiederbekehrung angetretenen Kirchenmann nicht erzählt – es hätte ihn wohl auch kaum interessiert. Es gab ja noch eine ihm viel näherliegende Geschichte.
In den wilden APO-Jahren hatten wir im Club Voltaire einen tatkräftigen Mitstreiter gewonnen: Jürgen Floerke. Er war Buchhalter, tiefgläubiger Christ, nichtsdestoweniger glühender Antifaschist, Kriegsgegner und Menschenrechtsverfechter. In Sachen Vietnam engagierte er sich ebenso wie bei unseren Rotpunkt-Aktionen, und nachdem wir Ostern 1969 bei den Springer-Blockaden gemeinsam staatlich durchnäßt und geprügelt worden waren, hatte sich eine persönliche Freundschaft zwischen uns entwickelt.
Eines Tages hatte uns Jürgen von schlimmen Dingen in seiner – räumlich auch für uns Karteileichen zuständigen – Kirchengemeinde erzählt. Dort wehe brauner Wind durch die heiligen Hallen. Eine mehr oder minder getarnte Neonazi-Veranstaltung jage die andere. Der Gemeindeseelsorger, ein Pastor Petersmann, nutze jede Gelegenheit, rechtsextreme Anspielungen in seine Predigten einzubauen, und trete bei den bevorstehenden Landtagswahlen sogar als Kandidat der NPD an.
»Jetzt reicht es«, hatten Christel und ich daraufhin erklärt und angekündigt, nun endlich den längst überfälligen zweiten Gang zum Standesamt zu unternehmen und den Verein zu verlassen. Nicht ohne eine entsprechende öffentliche Protesterklärung, versteht sich.
»Nein«, war uns Jürgen da ins Wort gefallen, »das geht nicht. Ich brauche eure beiden Stimmen.«
Wie sich herausstellte, hatte er nämlich inzwischen ein paar liberal empfindende, ebenso wie er empörte Gemeindemitglieder um sich geschart, um mit ihnen gemeinsam als »Demokratische Liste« zur anstehenden Kirchenvorstandswahl zu kandidieren. Ein richtiger Wahlkampf hatte sich entwickelt mit Handzetteln, Rundschreiben und Hausbesuchen. Einmal war Jürgen sogar während des Gottesdienstes von seiner Bank aufgestanden, um Protest zu erheben, als der NPD-Hirte unverfroren Wahlparolen von der Kanzel geschmettert und vor der »kommunistischen Liste« gewarnt hatte. Alles wie im richtigen Leben.
Dann jedoch hatte der Herr ein Wunder gewirkt. Die »Demokratische Liste« war mit eindeutiger Mehrheit als Sieger aus dem Kirchenkampf hervorgegangen! Nur hatte der liebe Gott nicht mit dem hannöverschen Landeskirchenamt (ev.-luth.) gerechnet. Dem war die Auseinandersetzung selbstverständlich nicht entgangen, und es hatte den vermeintlich frischgebackenen Kirchenvorstehern kurz und bündig per Oberhirtenbrief mitgeteilt, mit dem Amtsantritt sei es bedauerlicherweise Essig. Ein Kirchenvorstand müsse nämlich nicht nur mit Stimmenmehrheit gewählt, sondern auch des Amtes »würdig« sein. Der Würde aber ermangele es im vorliegenden Fall. Beweis: Jürgen habe mit seinem Protest gegen Wahlparolen von der Kanzel den Gottesdienst gestört. So war denn alles beim alten geblieben. Für Christel und mich aber war der Meßkelch damit endgültig übergelaufen. Jürgen ist bald danach der VVN beigetreten.
Dies alles erzählte ich jetzt dem Herrn, der mir mit unverhohlen missionarischem Eifer gegenübersaß, um vielleicht durch Wiederaufnahme in den Schoß der Kirche doch noch meine Seele zu retten, und zu diesem Behufe so drängend nach dem Grund meines Kirchenaustritts gefragt hatte. Wie sich jetzt herausstellte, war er Amtsnachfolger des oben erwähnten Petersmann und offensichtlich nicht minder theologisch geschult.
»Ich verstehe Ihre Aufregung über die Nationaldemokraten nicht«, tröstete der Seelsorger einfühlsam. »Sie selbst stehen ja wohl politisch eher links. Aber wir müssen doch als Christen auch Toleranz gegenüber den Andersdenkenden beweisen.«
»Fragen Sie doch mal Ihren Amtsbruder Martin Niemöller, was diese Andersdenkenden zwölf Jahre lang unter Toleranz verstanden haben!«
Da sah mich der Gottesdiener stirnrunzelnd an. »Ja glauben Sie denn das alles mit Dachau und Auschwitz? Das waren doch Attrappen, die die Alliierten aufgebaut haben, um uns Deutsche zu verunsichern ...«
Mir blieb nur eine Antwort: »Raus!« Den Ledermantel habe ich ihm ins Treppenhaus hinterhergeworfen.
Die Leugnung des Holocaust war 1971 noch nicht mit Strafe bedroht. Trotzdem teilte ich, obschon nicht mehr Kirchenmitglied, dem Landeskirchenamt mein Erlebnis schriftlich mit. Eine Antwort von dort habe ich nie erhalten.
*
Eigentlich wollte ich mir diese Geschichte für meine Memoiren aufsparen. Nun jedoch, da ein Professor Ratzinger unter Beschuß steht, weil er, der alle Entscheidungen unfehlbar trifft und seine Pläne infolgedessen genau vorausberechnet, der Schlamperei seiner Berater aufgesessen sein soll, möchte ich sie Seiner Heiligkeit zum Trost doch schon heute niederschreiben. Auch ein Stellvertreter Gottes steht nicht allein, und die Vorbehalte des Oberhauptes der Katholischen Kirche gegen seine protestantischen Glaubensbrüder sind offensichtlich unbegründet. Es gibt gemeinsame Traditionen.
Herr, vergib ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun.
Erschienen in Ossietzky 4/2009
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