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Die Last des Völkerstrafgesetzbuchs
Jürgen Rose
Am 26. Juni 2002 trat in Deutschland ein im öffentlichen Bewußtsein bislang noch weitgehend unbekannter, aber um so bedeutenderer Normenkodex in Kraft: das »Völkerstrafgesetzbuch« (VStGB). Damit wurden wesentliche Vorgaben des im Juli 1998 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten und mittlerweile nach Ratifizierung durch die erforderliche Anzahl von UNO-Mitgliedstaaten in Kraft getretenen Römischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (Ossietzky 3/09) in nationales Recht der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt.
Das neue Gesetzbuch stellt völkerrechtliche Kapitalverbrechen unter Strafe: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen. Das Aggressionsverbrechen, also die Vorbereitung und Durchführung von Angriffskriegen oder die Beteiligung an solchen, ist nicht berücksichtigt, weil dieser völkerrechtliche Straftatbestand auch im Römischen Statut noch nicht abschließend definiert ist. Dies soll erst anläßlich der für 2010 zwischen den Vertragsstaaten vereinbarten Überprüfungskonferenz geschehen.
Da es in der Bundesrepublik Deutschland bisher mangels ausreichender Rechtsgrundlagen schwierig war, solche Schwerstverbrechen gegen das Völkerrecht zu ahnden, stellt die Einführung des VStGB einen beachtlichen Fortschritt dar. Das gilt vor allem im Hinblick auf die unzweifelhafte Anerkennung von Pflichten der einzelnen Personen – nicht mehr nur der Staaten – als Völkerrechtssubjekten. Endlich kommt damit die schon 1945 vom Nürnberger Militärgerichtshof formulierte Erkenntnis zur Geltung, daß »Verbrechen gegen das internationale Recht von Menschen und nicht von abstrakten Entitäten begangen werden und daß die Bestimmungen des Völkerrechts nur dadurch durchgesetzt werden können, daß diejenigen Individuen, die solche Verbrechen begehen, bestraft werden«. Hervorzuheben ist, daß das VStGB es ermöglicht, nicht nur Täter auf der untersten Ebene zu belangen, wo Befehle unmittelbar ausgeführt werden, sondern auch die zivilen Vorgesetzten und militärischen Befehlshaber auf der Kommandoebene zur Rechenschaft zu ziehen. Beste Voraussetzungen also, um dem Völkerrecht uneingeschränkt Geltung zu verschaffen, könnte man meinen.
Getrübt wird die Genugtuung über das modernisierte völkerstrafrechtliche Instrumentarium nicht nur dadurch, daß es bislang keine Handhabe gegen die Angriffskriegsverbrecher in den Reihen von Regierung und Streitkräften bietet, sondern vor allem auch dadurch, daß seine bisherige Anwendung – oder besser: Nichtanwendung – es fast schon zur Bedeutungslosigkeit verdammt hat. Hauptverantwortlich hierfür ist ein alter Bekannter, nämlich der Generalbundesanwalt (GBA) beim Bundesgerichtshof (Ossietzky 10/08). Der lehnte es nämlich mehrfach ab, auf der Grundlage des im VStGB verankerten Weltrechtsprinzips tätig zu werden, das die Möglichkeit eröffnet, gegen Völkerrechtsverbrecher unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder vom Tatort ihrer kriminellen Handlungen vorzugehen.
In diesem Zusammenhang sticht besonders ins Auge, wie der Generalbundesanwalt die Strafanzeige gegen den Kriegs- und Menschlichkeitsverbrecher Donald H. Rumsfeld, vormals Kriegsminister der USA, eine Reihe ihm unterstellter Schergen aus den Reihen des US-Militärs sowie den damaligen CIA-Chef George Tenet und weitere Mitglieder der US-amerikanischen Regierung behandelt hat. Der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck hatte die Anzeige gemeinsam mit dem in New York beheimateten Center for Constitutional Rights (CCR) sowie vier irakischen Staatsbürgern gestellt. Es ging um Mißhandlungen, Folterungen, Vergewaltigungen und Todesfälle im Gefängniskomplex von Abu Ghraib im Irak sowie im Gefangenenlager von Guantánamo Bay in den Jahren 2002 bis 2004. Begründet hatten Kaleck et al. ihre Strafanzeige im wesentlichen damit, daß in den USA keine Strafverfolgung gegen die Angezeigten wegen dieser Taten stattfinde. Lediglich Militärangehörige der unteren Ränge seien geringfügig belangt worden. Hingegen seien die eigentlich Verantwortlichen auf der Planungs- und Kommandoebene sämtlich straflos geblieben. Zudem demonstriere der eigens erlassene »Military Commissions Act« die Absicht, den mutmaßlichen Tätern umfassende Immunität gegen strafrechtliche Verfolgung in den USA zu verschaffen. Schließlich sei, so die Anzeigeerstatter, der Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag unzuständig, da die USA dem Römischen Statut nicht beigetreten seien. Dagegen zwängen die gesetzlichen Vorschriften des VStGB, insbesondere das im § 1 verankerte Weltrechtsprinzip, die zuständigen deutschen Strafverfolgungsbehörden dazu, gegen die Angezeigten Ermittlungsverfahren einzuleiten. Außerdem sei die Bundesrepublik Deutschland selbst in mehrfacher Hinsicht in die zur Anzeige gebrachten Vorgänge verwickelt. Dies gelte unter anderem im Hinblick auf die Stationierung und Ausbildung von im Irak eingesetzten US-Soldaten in Garnisonen auf deutschem Boden, die Gewährung von Lande- und Überflugrechten für am Irak-Krieg beteiligte Flugzeuge bis hin zur Schulung irakischer Soldaten durch Bundeswehrausbilder.
Ungeachtet der von Kaleck, dem CCR und den Irakern wohlbegründeten Tatvorwürfe beschloß der Generalbundesanwalt, von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen. Der schriftliche Vermerk vom 5. April 2007 hierzu verrät nicht nur skandalöse Ignoranz, sondern auch deutlichen Unwillen, den aus dem VStGB entspringenden Rechtspflichten nachzukommen. So war dem GBA angeblich nicht ersichtlich, daß mit CIA-Flugzeugen Menschen über US-Militärbasen in Deutschland (namentlich Ramstein) nach Guantánamo verschleppt worden waren (»Rendition Flights«). Auch vermochte er nicht zu erkennen, daß die konkret in Rede stehenden Delikte etwa in den Hauptquartieren des US-Militärs in Deutschland vorbereitet worden waren. Wider die Faktenlage behauptete der GBA, daß sich kein Tatverdächtiger auf deutschem Boden aufhalte – worauf es laut Gesetz gar nicht ankommt.
Neben diesen Vorwänden schlägt freilich folgende Einlassung, mit welcher der GBA seine Untätigkeit begründete, dem Faß den Boden aus: Seine Abwägung nach § 153f der Strafprozeßordnung (StPO) ergab aus seiner Sicht, daß »für ein Tätigwerden deutscher Ermittlungsbehörden kein Raum« war; denn, so der GBA, es müsse »der Gefahr (sic!!) vorgebeugt werden, daß sich Anzeigeerstatter bestimmte Staaten allein wegen ihres völkerrechtsfreundlichen Strafrechts als Ort der Verfolgung aussuchen«, also sogenanntes »Forum-Shopping« betreiben. Hierdurch könnten sich nämlich die Ermittlungsbehörden zu aufwendigen, aber letztlich nicht zielführenden Ermittlungen gezwungen sehen.
In solch mißlicher Lage eröffnet der genannte StPO-Paragraph praktischerweise »für die Staatsanwaltschaft ein Korrektiv, einer Überlastung durch unzweckmäßige Ermittlungsarbeit entgegenzuwirken«. Und zwar – Weltrechtsprinzip hin oder her – »unabhängig davon, ob eine andere Gerichtsbarkeit zur Verfolgung bereit ist«. Alles andere würde in den Augen des GBA »auf eine rein symbolische Strafverfolgung hinauslaufen« und die »ohnehin personell und finanziell begrenzten Strafverfolgungsressourcen zu Lasten sonstiger, Erfolg versprechender Strafverfolgung unnötig binden«. Fazit des obersten deutschen Anklagevertreters: »Die (straf-)rechtliche Aufarbeitung etwaiger Verstöße gegen das Folterverbot in Guantánamo Bay/Kuba oder im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg bleibt daher Aufgabe der hierzu berufenen und hierfür zuständigen Justiz der Vereinigten Staaten von Amerika.«
Armes Deutschland, wo die Weisheit eines Generalbundesanwaltes sich darin manifestiert, die Frösche mit der Trockenlegung des Sumpfes zu beauftragen!
Der ganze Abweisungssermon hätte sich indes auch viel einfacher formulieren lassen, nämlich: Der Generalbundesanwalt ist erstens zu faul, seinen ihm qua VStGB auferlegten Ermittlungspflichten nachzukommen, und zweitens zu feige sich mit der das internationale Recht verachtenden Imperialmacht anzulegen. Der eigentliche Skandal besteht freilich darin, daß die mustergültigen Normen des deutschen VStGB qua generalbundesanwaltschaftlicher Willkür de facto außer Kraft gesetzt werden.
Jürgen Roses Artikelserie zur Ächtung des Angriffskriegs, die in Ossietzky 1/08 begann, wird fortgesetzt. Der Autor, Oberstleutnant der Bundeswehr, ist aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, daß er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen darlegt.
Erschienen in Ossietzky 4/2009
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