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Das System ist der Fehler
Otto Meyer
Hans Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und laut Bild-Zeitung »Deutschlands bester Ökonom«, hatte im Oktober 2008 in einem Interview mit dem Tagesspiegel einen halbwegs richtigen Gedanken, als er sagte, für die Wirtschaftskrise sei ein »anonymer Systemfehler« verantwortlich. Doch die hier kurz aufscheinende Wahrheit ging völlig unter, weil Sinn mit dieser Bemerkung nur die Absicht verfolgte, die Bosse der Banken und Konzerne von jeglicher Verantwortung für Bad Banks und Konkurse, für Arbeitsplatzvernichtung und Betrug an Sparern und Rentnern freizusprechen. Er sagte wörtlich: »In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken. Auch in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben. Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager.« Zu Recht wurde seine schamlose Anmaßung, sich und seine Auftraggeber in eine Opferrolle und gar noch in eine Reihe mit den Mordopfern des Nazi-Reiches zu drängen, in der Öffentlichkeit empört zurückgewiesen.
Womit aber auch der wahre Kern in Sinns Argumentation aus dem Blick geriet. Der vielgefragte Wirtschaftswissenschaftler hatte uns ja verraten, daß er von einem »anonymen Systemfehler« ausgeht, wenn jetzt eine massive Weltwirtschaftskrise wie 1929 droht. Es handelt sich offenbar um einen gravierenden Fehler im System der Kapitalherrschaft, das doch angeblich die Menschheit beglückt wie keins zuvor und das freiheitlichste ist, das es je gegeben hat. Was für ein Fehler mag das sein? Darüber hörten wir bisher aus der Zunft des Herrn Sinn nichts Näheres. Aber warum sollten die Herrschaftsökonomen für diesen schlimmen Fehler noch keinen Namen gefunden haben? Es gehört doch zu den Aufgaben jeder Wissenschaft, entdeckte Phänomene in bisherige Erkenntnisse einzuordnen und genau zu benennen – wie wollte man sie sonst analysieren? Das gilt erst recht, wenn in der Natur oder in der Gesellschaft Fehler entdeckt werden, die das Wohl der Menschen bedrohen.
Unserer Irritation kann vielleicht durch Rückgriff auf den Duden etwas aufgeholfen werden. »Anonym« bedeutet »ohne Nennung des Namens«, »ungenannt«; es meint nicht »unbekannt«. So kann es zum Beispiel vorkommen, daß wir eine Person oder eine Sache namentlich kennen, aber nicht öffentlich nennen; manche wollen keinesfalls genannt werden, denken wir nur an die »anonymen Alkoholiker«. Unter einem »anonymen Systemfehler« ist offenbar ein Fehler im System der heute global vorherrschenden Wirtschaftsordnung zu verstehen, der bei den Wissenden und Eingeweihten längst bekannt und benannt ist, aber für die Allgemeinheit namenlos bleiben soll. Die Leute könnten ja anfangen zu begreifen, daß im vorherrschenden Wirtschaftssystem des Kapitalismus nicht weiter nach noch nicht bekannten Fehlern gesucht werden muß, um etwaige Mängel abzumildern, wie uns die Regierenden derzeit vorgaukeln. Sondern daß der Kapitalismus insgesamt ein die Menschheit bedrohender Fehler ist und dringend überwunden werden muß.
Vielleicht durch den Kommunismus? Kommunismus wäre eine Wirtschafts- und Lebensweise, die auf der Einsicht der Menschen beruht, daß es ihnen allen und auch den Nachkommenden nützt, wenn sie ihre notwendigen Arbeiten gemeinsam planen und nicht in Konkurrenz, nicht in Abgrenzung und kriegerischem Wettstreit – oft mit gegenseitiger Vernichtung als Ausgang. Wenn sie die Güter der Erde gemeinsam erschließen, in schonender, bewahrender und erneuernder Weise. Wenn Freiheit nicht bedeutet, daß die Starken und Mächtigen sich durchsetzen oder Gier und Geiz geil sein sollen. Sondern wenn klar ist, daß »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, wie es im Kommunistischen Manifest heißt.
Es ist kaum anzunehmen, daß der Ifo-Chef mit systemüberwindenden Konsequenzen geforscht hat. Aber er muß etwas in dieser Richtung erahnt haben, als er vom »anonymen Systemfehler« sprach. Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben, daß auch die heutigen Prediger des freien Marktes und wohltätigen Wettbewerbs noch zu neuer Einsicht gelangen. Aber dafür werden sie nicht bezahlt.
Erschienen in Ossietzky 4/2009
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