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Es brodelt im Tiefland
Marlene Bodenmann
Mehrere Tage hat der bolivianische Landeswahlleiter zählen müssen, bevor das Ergebnis feststand: Bei einer Beteiligung von 90 Prozent hat das bolivianische Volk Ende Januar mit einer Mehrheit von 61 Prozent die neue Verfassung angenommen. Aber während in den Hochburgen der Regierungspartei MAS – vor allem in den Siedlungsgebieten der indigenen Bevölkerung – die Zustimmung teilweise bei 80 Prozent lag, fand sich in vier oppositionell regierten Departamentos (Bundesländern) im Tiefland eine klare Mehrheit gegen die Verfassung. Evo Morales hat also seinen Regierungskurs konsolidiert, aber die Spaltung Boliviens nicht überwunden. Die Präfekte der vier Departamentos verlangten denn auch prompt »Gespräche« über die Einführung der Verfassung und erklärten mehr oder weniger offen ihre Weigerung, das neue Grundgesetz anzuwenden.
Diese Verfassung war eine schwere Geburt: Sitzungen der verfassunggebenden Versammlung waren Anlaß für Ausschreitungen, bei denen im November 2007 in Sucre drei Menschen ums Leben kamen. Bei der Schlußabstimmung im Dezember 2007, die aus Sicherheitsgründen in einer Militärbasis stattfinden mußte, war die Opposition gar nicht mehr anwesend. Daraufhin verlagerte sich der Streit in den Kongreß. Fast ein Jahr lang kam die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit zur Anberaumung des Referendums nicht zustande; statt dessen stimmten die Tiefland-Departamentos über ihre Autonomie-Statuten ab. Nachdem im landesweiten Abberufungsreferendum im September 2008 sowohl Präsident Morales als auch die Präfekte der Tiefland-Provinzen im Amt bestätigt worden waren, eskalierte die Gewalt – es kam zu Unruhen, Straßenblockaden und bewaffneten Angriffen.
Im Oktober 2008 gelang der Kompromiß, mit dem kaum noch jemand gerechnet hatte: In einer Mammut-Sitzung des Kongresses wurde der Verfassungsentwurf überarbeitet: Die Departamentos erhielten zusätzliche Rechte, und der Kongreß beschloß endlich mit der erforderlichen Mehrheit, das Referendum durchzuführen. Das freudige Staunen war aber nicht von langer Dauer: Die oppositionellen Parteien im Kongreß sind nur indirekt mit den mächtigen radikalen Akteuren des Tieflands verbunden, und so erklärten die »Bürgerkomitees«, Speerspitze der Opposition im Tiefland, alsbald ihr Nein zur Verfassung, und die Präfekte der Tieflandregionen schlossen sich an.
Das führte zu der grotesken Situation, daß Evo Morales nun mit Fernsehspots die den Departamentos in der neuen Verfassung gewährte Autonomie anpreisen mußte, denn er lief Gefahr, daß seine Anhänger den Kompromiß, den die Opposition nicht mehr mittragen wollte, ebenfalls ablehnen würden.
Während die Regierung für das sozial gerechte Bolivien warb, spielte die Wahlkampagne der Verfassungsgegner vor allem mit Ängsten. Die simple Erwähnung sexueller Rechte im Verfassungstext war Anlaß genug, um in großen Schlagzeilen den Untergang des christlichen Bolivien durch Abtreibung und Homosexualität zu prophezeien. »Wähle Gott – wähle Nein«, lauteten die Plakate, dazu wurden Fotos von blutigen Föten in die Landschaft plakatiert. Auch vor Hitler-Vergleichen scheute die Opposition nicht zurück und warnte vor der totalitären Diktatur der MAS.
Ein anderes Thema war die traditionelle indigene Justiz, die in der neuen Verfassung als gleichberechtigt anerkannt ist, ohne daß Einzelheiten geregelt werden. Als es in den letzten Monaten zu einzelnen Fällen von Lynchjustiz kam, setzten die Verfassungsgegner prompt beides gleich und prophezeiten das Ende des Rechtsstaates.
So dreist kann man nur Menschen mit sehr geringer Bildung belügen. Zwar hat die Alphabetisierungskampagne unbestreitbar große Fortschritte gebracht: Mit der in Kuba entwickelten Methode »Yo si puedo« (»Ich kann«) wurden über 800.000 Erwachsene erfolgreich unterrichtet, das sind acht Prozent der etwa zehn Millionen Bolivianer. Aber wenn Morales behauptet, Bolivien sei heute frei von Analphabetismus, spricht daraus Zweckoptimismus. Und auch nicht jeder frischgebackene Zeitungsleser schafft es, sich durch 400 Verfassungsartikel im feinsten Juristenspanisch durchzubeißen.
Ein Hauptziel der Verfassung ist die Verwirklichung der sozialen Menschenrechte. Der Staat garantiert unter anderem Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildung und für Frauen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das ist eine Mammutaufgabe, an der bolivianische Regierungen noch Jahre werden arbeiten müssen.
In Wirtschaftsfragen bestimmt die Verfassung, daß Wasser- und Gesundheitsversorgung nicht privatisiert werden dürfen und die Bodenschätze und die anderen natürlichen Ressourcen staatlich zu verwalten sind. Weitgehend einig zeigten sich die BolivianerInnen auch in der zweiten Frage, über die in dem Referendum abgestimmt wurde: Soll der Großgrundbesitz auf höchstens 5.000 oder 10.000 Hektar Land begrenzt werden? Die 5.000 Hektar gewannen landesweit mit 80 Prozent, auch in allen Tiefland-Departamentos, selbst in Santa Cruz, dem Zentrum der Opposition.
Der Abschnitt über die Selbstverwaltungsrechte verspricht weiterhin spannende Auseinandersetzungen: Es gibt nicht nur eine Autonomie der Departamentos, sondern auch der Gemeinden und der indigenen Gemeinschaften. Die Verfassung enthält mehrere Zuständigkeitskataloge, in denen steht, wer über was entscheiden darf. Darin liegt viel Konfliktpotential. Neugierig bin ich als deutsche Juristin auch auf die Richterwahlen: In der Verfassung steht, daß RichterInnen künftig in allgemeiner Wahl von der Bevölkerung gewählt werden.
Erschienen in Ossietzky 3/2009
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