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Die schwarze Fahne
Uri Avnery
Ein spanischer Richter hat eine gerichtliche Untersuchung gegen sieben israelische Politiker und Militärs wegen des Verdachtes auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeordnet. Der Fall: die im Jahre 2002 abgeworfene Ein-Tonnen-Bombe auf das Wohnhaus des Hamas-Führers Salah Shehadeh. Außer dem vorgesehenen Opfer wurden 14 Personen getötet, die meisten von ihnen waren Kinder.
Für diejenigen, die diesen Vorfall vergessen haben: Der damalige Kommandeur der israelischen Luftwaffe, Dan Halutz, wurde gefragt, was er wohl empfinde, wenn er solch eine Bombe auf ein Wohngebäude fallen läßt. Seine unvergeßliche Antwort lautete: »einen leichten Ruck am Flügel«. Als wir von Gush Shalom ihn eines Kriegsverbrechens beschuldigten, forderte er, uns wegen Hochverrats anzuklagen. Ministerpräsident Ariel Sharon schloß sich ihm an. Er behauptete, wir wollten die israelischen Armeeoffiziere dem Feind ausliefern. Der Generalstaatsanwalt benachrichtigte uns, daß er nicht beabsichtige, gegen die Verantwortlichen des Bombardements eine Untersuchung einzuleiten.
Ich sollte glücklich sein, daß endlich jemand bereit ist, diese Tat vor Gericht zu bringen (selbst wenn das nun anscheinend durch politischen Druck vereitelt wird). Aber es bedrückt mich, daß dies in Spanien geschieht und nicht in Israel.
Die israelischen Fernsehzuschauer werden seit kurzem mit seltsamen Bildern konfrontiert: Armeeoffiziere erscheinen nur mit unkenntlich gemachten Gesichtern, so wie man es mit Kriminellen macht, wenn das Gericht ihre Identifizierung verbietet, zum Beispiel mit Pädophilen. Auf Befehl des Militärzensors wird das mit allen Offizieren gemacht, vom Bataillonkommandeur abwärts, die am Gazakrieg beteiligt waren. Da die Gesichter der Brigadekommandeure und der ranghöheren Offiziere allgemein bekannt sind, wird bei ihnen diese Methode nicht angewandt.
Direkt nach der Feuerpause brachte Verteidigungsminister Ehud Barak ein Sondergesetz ein, das allen am Gazakrieg beteiligten Offizieren und Soldaten unbegrenzte Unterstützung des Staates für den Fall zusagt, daß sie im Ausland wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden. Dies scheint das hebräische Sprichwort zu bestätigen: »Der Hut brennt auf dem Kopf des Diebes.«
Ich bin nicht gegen Anklagen im Ausland. Hauptsache ist, daß Kriegsverbrecher überall verurteilt werden können, gleichgültig wo sie gefangen genommen wurden. (Diese Regel befolgte der Staat Israel, als er Adolf Eichmann in Argentinien entführte und wegen seiner schändlichen Verbrechen zum Tode verurteilte, obwohl er sie außerhalb des Territoriums von Israel begangen hatte – ja sogar bevor der Staat überhaupt existierte.) Doch als israelischem Patrioten wäre es mir lieber, wenn Israelis, die verdächtig sind, Kriegsverbrechen begangen zu haben, in Israel vor Gericht gebracht würden. Dies ist für das Land notwendig, für alle anständigen Offiziere und Soldaten der israelischen Armee, für die Erziehung zukünftiger Generationen von Bürgern und Soldaten.
Es ist nicht nötig, sich allein auf das Völkerrecht zu verlassen. Es gibt auch israelische Gesetze gegen Kriegsverbrechen. Es genügt, den unvergeßlichen Satz zu erwähnen, den Richter Binyamin Halevy als Militärrichter in dem Prozeß gegen die Grenzpolizisten prägte, die 1956 für das Massaker in Kafr Kassem verantwortlich waren, bei dem Dutzende von Kindern, Frauen und Männern niedergemäht wurden, weil sie eine Ausgangssperre verletzt hatten, von der sie nicht einmal etwas wußten. Der Richter verkündete, selbst in Kriegszeiten gebe es Befehle, über denen »die schwarze Flagge der Illegalität« wehe: Befehle, die »offensichtlich« illegal sind – jeder normale Mensch erkennt sie als illegal, ohne daß man einen Rechtsanwalt befragen müßte.
Kriegsverbrecher entehren die Armee, deren Uniform sie tragen – ob sie Generäle oder gemeine Soldaten sind. Als Frontsoldat an dem Tage, an dem die israelische Verteidigungsarmee offiziell gegründet wurde, schäme ich mich für sie und verlange, daß sie unehrenhaft entlassen und in Israel vor Gericht gestellt werden.
Es gibt nicht den geringsten Zweifel, daß im Gazakrieg Verbrechen begangen wurden. Es ist nur die Frage, in welchem Ausmaß und von wem. Ein Beispiel: Soldaten rufen den Bewohnern eines Hauses zu, daß sie es verlassen sollen. Eine Frau und ihre vier Kinder kommen heraus und winken mit weißen Taschentüchern. Es ist absolut klar, dass sie keine bewaffneten Kämpfer sind. Ein Soldat aus einem in der Nähe stehenden Panzer steht auf, zückt sein Gewehr und erschießt sie aus nächster Nähe. Nach Zeugenaussagen scheint dies mehr als einmal geschehen zu sein. Ein anderes Beispiel: die Bombardierung der mit Flüchtlingen belegten UN-Schule, aus der niemand geschossen hatte. Die Armee gab das zu, nachdem ursprüngliche Ausreden widerlegt worden waren.
Dies sind vergleichsweise einfache Fälle. Aber eine ernste juristische Untersuchung muß ganz oben beginnen: Die Politiker und ranghohen Offiziere, die den Krieg geplant haben, müssen nach ihren Entscheidungen gefragt werden. Im ersten der Nürnberger Prozesse wurde festgelegt, daß ein Angriffskrieg ein Verbrechen ist. Eine unabhängige Untersuchung müßte herausfinden, ob die Entscheidung, den Krieg zu beginnen, gerechtfertigt war oder ob es einen anderen Weg gegeben hätte, das Abschießen der Qassam-Raketen auf israelisches Territorium zu beenden. Zweifellos kann und soll kein Land dulden, daß seine Städte und Dörfer von jenseits der Grenze bombardiert werden. Aber hätte dies nicht durch Verhandeln mit den Gaza-Behörden verhindert werden können? War nicht die Entscheidung unserer Regierung, die Hamas, den Sieger der demokratischen palästinensischen Wahl, zu boykottieren, der wahre Kriegsgrund? War die Verhängung einer Blockade über anderthalb Millionen Bewohner des Gazastreifens nicht eine der Ursachen für das Abfeuern der Qassams? Kurz: Wurden Alternativen in Erwägung gezogen, bevor entschieden wurde, einen solch mörderischen Krieg zu beginnen?
Der Kriegsplan schloß einen massiven Angriff auf die zivile Bevölkerung des Gazastreifens ein. Die wirklichen Ziele eines Krieges können weniger durch die offiziellen Erklärungen seiner Initiatoren als durch deren Taten verstanden werden. Wenn in diesem Krieg etwa 1.300 Männer, Frauen und Kinder getötet wurden, von denen der größte Teil keine Kämpfer waren; wenn etwa 5.000 Menschen verletzt wurden und die meisten von ihnen Kinder waren; wenn etwa 17.000 Häuser teilweise und 4.000 ganz zerstört wurden; wenn die Infrastruktur vernichtet wurde – dann ist das alles nicht zufällig geschehen. Es muß Teil des Kriegsplanes gewesen sein.
Äußerungen von Politikern und Offizieren während des Krieges machten klar, daß der Plan wenigstens zwei Ziele hatte, die als Kriegsverbrechen angesehen werden könnten: 1. ein Maximum an Tod und Zerstörung verursachen, um »einen Preis festzusetzen«, um »es in ihr Bewußtsein einzubrennen«, um »die Abschreckung wiederherzustellen« und vor allem die Bevölkerung dahin zu bringen, sich gegen die Hamas zu erheben und die Regierung zu stürzen (und das alles richtete sich eindeutig gegen die Zivilbevölkerung), 2. unter allen Umständen Todesopfer in unserer Armee verhindern, indem jedes Gebäude zerstört und jedes menschliche Wesen in der Gegend getötet wurde, in der sich unsere Soldaten bewegten. Das schloß auch ein, daß Häuser über den Köpfen ihrer Bewohner zerstört und Ambulanzen daran gehindert wurden, die Verletzten zu erreichen. In einigen Fällen wurden Bewohner vorher gewarnt, sie sollten fliehen, aber das war nur eine Alibi-Aktion: Es gab keinen Ort, an den sie fliehen konnten, und oft wurde das Feuer auf Menschen eröffnet, während sie zu fliehen versuchten.
Ein unabhängiger Gerichtshof wird zu entscheiden haben, ob solch ein Kriegsplan mit dem nationalen und internationalen Recht übereinstimmt oder ob er von Anfang an ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Kriegsverbrechen war.
In einem demokratischen Staat bekommt das Militär die Befehle von der politischen Führung. Gut. Aber seit den Nürnberger Prozessen gibt es die Entschuldigung »Ich habe nur Befehle ausgeführt« nicht mehr. Darum muß die persönliche Verantwortung aller Beteiligten, vom Stabschef, dem Frontkommandeur, dem Divisionskommandeur bis zum letzten Soldaten, geprüft werden. Aus Gesprächen mit Soldaten muß man schließen, daß viele glaubten, es sei ihre Aufgabe, »so viele Araber wie möglich umzubringen«. Das ist ein total illegaler Befehl, ob er nun explizit gegeben wurde oder nur mit einem Augenzwinkern.
Unter denen, die im Verdacht von Kriegsverbrechen stehen, haben Rabbiner gleichsam einen Ehrenplatz. Wenn man von Rabbinern spricht, denkt man an alte Männer mit langen weißen Bärten und großen Hüten, die ehrwürdige Weisheiten von sich geben. Doch die Rabbiner, die die Soldaten begleiten, sind eine andere Spezies. Während der letzten Jahrzehnte hat das vom Staat finanzierte religiöse Bildungssystem »Rabbiner« produziert, die eher mittelalterlichen christlichen Priestern ähneln als den jüdischen Weisen aus Polen und Marokko. Dieses System indoktriniert seine Schüler mit einem gewalttätigen Stammeskult, der völlig ethnozentrisch ist: die ganze Weltgeschichte sei nichts anderes als eine endlose Geschichte der Juden als Opfer. Dies ist die Religion eines Auserwählten Volkes, anderen Völkern gegenüber gleichgültig, eine Religion ohne Mitleid für die, die nicht jüdisch sind – eine Religion, die den von Gott angeordneten Genozid, im biblischen Buch Josua beschrieben, verherrlicht. Die Früchte dieser Erziehung sind die »Rabbiner«, die jetzt die religiöse Jugend unterrichten. Mit deren Ermutigung ist ein systematischer Versuch unternommen worden, die israelische Armee von innen heraus zu übernehmen. Kippa-tragende Offiziere haben die Kibbutzniks ersetzt, die noch bis vor kurzem in der Armee vorherrschten. Viele Offiziere unterer und mittlerer Ränge gehören nun zu dieser Gruppe.
Herausragendes Beispiel ist der Chef-Rabbiner der Armee, Oberst Avishai Ronski, der erklärt hat, es sei sein Job, den Kampfgeist der Soldaten neu zu stärken. Er gehört zur äußersten Rechten und ist nicht weit entfernt von der Einstellung des verstorbenen Rabbiners Meir Kahane, dessen Partei in Israel wegen ihrer faschistischen Ideologie verboten ist. Unter der Schirmherrschaft des Armee-Rabbinats wurden religiös-faschistische Broschüren an die Soldaten verteilt, die neben anderer politischer Aufhetzung die Behauptungen enthalten, die jüdische Religion verbiete es, »auch nur einen Millimeter von Eretz Israel aufzugeben«, die Palästinenser seien wie die biblischen Philister (von denen der Name Palästina abgeleitet wurde) ein fremdes Volk, das das Land überfallen habe, und jeder Kompromiß Todsünde sei. Die Rabbiner riefen die Soldaten offen auf, grausam und gnadenlos gegenüber den Arabern zu sein. Sie barmherzig zu behandeln – so behaupteten sie – sei eine entsetzliche Unmoral. Wenn solches Material an religiöse Soldaten verteilt wird, die in einen Krieg gehen, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, warum Dinge so geschehen, wie sie tatsächlich geschahen.
Die Planer dieses Krieges wußten, daß der Schatten von Kriegsverbrechen über der Operation schwebte. Darum wurde der Staatsanwalt, dessen offizieller Titel »Rechtsberater der Regierung« ist, an der Planung beteiligt. Vor einigen Tagen enthüllte der Chefanwalt der Armee, Oberst Avichai Mandelblit, daß seine Offiziere während des ganzen Krieges die Kommandeure – vom Stabschef bis zum Divisionskommandeur hinunter – begleitet haben. Das führt zu der unausweichlichen Schlußfolgerung, daß die Rechtsberater direkte Verantwortung für die Entscheidungen tragen, die getroffen und ausgeführt wurden – von den Massakern an den zivilen Polizeirekruten bei der Vereidigungszeremonie bis zum Bombardieren der UN-Einrichtungen. Jeder Jurist, der an den Überlegungen beteiligt war, bevor ein Befehl gegeben wurde, ist verantwortlich für die Folgen, es sei denn, er kann beweisen, daß er dagegen war.
Wir müssen alle juristischen Möglichkeiten hier in Israel ausschöpfen, auf einer unabhängigen Untersuchung und auf der Anklage der Tatverdächtigen bestehen. Wir müssen dies fordern, selbst wenn die Chancen gering sind. Wenn diese Bemühungen mißlingen, wird niemand in der Lage sein, sich gegen Gerichtsverfahren im Ausland zu wehren, weder bei einem Internationalen Gerichtshof noch bei Gerichten jener Nationen, die die Menschenrechte und das Völkerrecht achten. Bis dies geschieht, wird die schwarze Flagge wehen.
Der Text ist leicht gekürzt. Aus dem Englischen übersetzt wurde er von Ellen Rohlfs und Christoph Glanz.
Erschienen in Ossietzky 3/2009
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