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Brief aus Jerusalem
Susanna Böhme-Kuby
Von Ramallah aus sind es keine 15 Kilometer bis Ostjerusalem, man fährt durch eine bedrückend zersiedelte Gegend. Am Checkpoint staut sich der Verkehr. Man kommt ins Gespräch; ich erfahre, wie auch in dem von Israel 1967 »eingemeindeten« Ostteil der Stadt die aggressive Siedlungspolitik weitergeht, die darauf abzielt, unumstößliche Fakten zu schaffen.
In Jerusalem komme ich am Jaffa-Tor unter. Selbst hier, im moslemischen Teil innerhalb der alten Mauern, haben jüdische Bürger Wohnraum über den Läden requiriert. Die Zugänge zu ihren Wohnstätten führen über die gewölbten Dächer des Basars. Der Besitzer des Andenkenladens neben meinem Hotel ruft mir, als er mich mit einem Paket aus dem gegenüberliegenden Keramikladen kommen sieht, verärgert zu, ich solle doch in jüdischen Läden kaufen, nicht bei Arabern! Die Atmosphäre in der Altstadt, in der seit Jahrhunderten Juden, Moslems, orthodoxe Armenier und katholische Christen nebeneinander in ihren Vierteln leben, ist spürbar gespannt. Eine junge Österreicherin, hier als angehende Ärztin in einem Krankenhaus tätig, erzählt mir gleich am ersten Abend von ihrem Arbeitsumfeld: In allen Gesprächen bleibe das Leiden im Gazastreifen ausgeblendet. Ihren israelischen Arztkollegen gilt Patriotismus als erste Bürgerpflicht. Im israelischen Fernsehen kommen tote Palästinenser kaum vor, sondern nur die Qassam-Einschläge in Häuser in Sderot und Ashkelon. Am 11. Januar werden junge Reservisten eingezogen, die Sammelstelle ist vorm Jaffa-Tor. Es herrscht eine Stimmung, als zöge man los zu einem Fußballspiel.
Ich beschließe, junge Menschen im Café, an der Bushaltestelle, im Sammel-taxi einfach anzusprechen und sie nach ihrer Meinung zum Angriff auf Gaza zu fragen, um zu verstehen, was in ihren Köpfen vorgeht. Das erweist sich als problemlos, aber von allen erhalte ich ausnahmslos dieselbe stereotype Antwort: Die Bomben seien eine Antwort auf Hamas, man müsse sich gegen die Araber (das Wort Palästinenser fällt nicht) verteidigen, die die Juden seit Jahren angriffen, gegen Terroristen, die die Existenz des jüdischen Volkes bedrohten. Immer wieder höre ich: Die Araber verstünden keine andere Sprache als die der Gewalt, und alle versichern mir, auch ich würde so denken, wenn man mich in meinem Land so angriffe. Ihre Soldaten seien Helden – sie sagen das so, als wäre jeder Zweifel daran ausgeschlossen.
Der Historiker Moshe Zuckermann, mit dem ich in Tel Aviv verabredet bin, bestätigt mir dieses bedrückende Bild, das von nachhaltiger Propaganda zeugt: Nur eine kleine jüdische Minderheit sei bei der Protestdemonstration in Tel Aviv mitmarschiert, die überwiegend von »arabischen Israelis« angeführt und dann von rechten Demonstranten massiv gestört wurde.
Zuckermann gibt mir Aufschluß über das historische Bewußtsein, das der israelischen Jugend heute vermittelt wird: zentriert auf die jüdische Verfolgungsgeschichte mit der Shoah als Kulminationspunkt und die daraus abgeleitete Geschichte des Staates Israel, geprägt vom Selbstbild als Opfer. Wie recht er damit hat, wird mir beim Besuch der reich ausgestatteten Museen klar, die ich mir daraufhin ansehe: das der Diaspora in Tel Aviv, das Jerusalemer Stadtmuseum in der sogenannten David-Zitadelle, das Israel-Museum am Fuß der Knesset, in dem man sogar den großen Bogen von den uralten Qumran-Schriftrollen und dem Aleppo-Kodex direkt zur Staatsgründung 1948 schafft. Die im Qumran-Text genannten elementaren Mächte, Licht und Finsternis, in der Ausstellung optisch hervorgehoben, sind architektonisch symbolisiert durch die weithin sichtbare weiße Kuppel des Bibelschreins, der die kostbaren Manuskripte birgt. Daneben erhebt sich ein hoher schwarzglänzender Mauerblock, der seinen Schatten, wie drohend, auf die weiße Kuppel wirft ...
Jedes dieser didaktisch perfekt gestalteten Museen wäre eine ausführliche Beschreibung wert. Festgehalten sei hier nur die auffallende Einseitigkeit der Sichtweise, die selbst die komplexe und reich gestaltete Pluralität der Diaspora wie zwanghaft nach Israel »zurückführt«: Im letzten Raum thront als einziges Exponat der Schreibtisch des britischen Außenministers Balfour mit dem berühmten Brief an Lord Rothschild vom November 1917, in dem den Zionisten das Recht auf »eine jüdische Heimstatt in Palästina« eingeräumt wird. Weiter heißt es darin allerdings, daß nichts getan werden dürfe, »was die zivilen oder religiösen Rechte der bereits in Palästina ansässigen nichtjüdischen Bevölkerung präjudizieren würde«.
Damals betrug die Zahl der jüdischen Siedler etwa ein Zehntel der ansässigen arabischen Bevölkerung, die seit gut 1200 Jahren das Land bewohnte. Immerhin hatten die Engländer, die nach dem 1.Weltkrieg und dem Ende des über 600-jährigen ottomanischen Reiches das Mandatsgebiet Palästina übernahmen, auch den Arabern einen eigenen Staat in Aussicht gestellt. Aber davon erfährt der Museumsbesucher nichts, die Realität der Palästinenser erscheint nirgends.
Die großen Totengedenkstätten Mount Herzl und Yad Vashem rühren an Tieferes. Ein so zentrales Museum über die Shoah wie Yad Vashem hätte Deutschland gut angestanden, denke ich, doch leider bleibt das Erinnern meist den Opfern vorbehalten. Wir wissen, die Täter verdrängen oder negieren, so lange es geht, und nach dem Schuldbekenntnis gehen sie möglichst bald zu anderem über. Den Deutschen fällt es immer noch schwer, dieses Erbe anzunehmen und daraus konsequentes Handeln zu entwickeln, nämlich eine zivile Friedenspolitik gerade in Bezug auf Israel/Palästina. Jüngste Umfragen zeigen, daß über 60 Prozent der Deutschen meinen, mit der heutigen israelischen Politik nichts zu tun zu haben – meines Erachtens ein verhängnisvoller Irrtum.
Daß auch in Israel (wie in Deutschland) in den ersten Jahrzehnten ein Verdrängungsmechanismus gegenüber der Shoah wirkte, beschreibt Sylvain Cypel in »Walled. Israeli society at an impasse« (New York 2007). Die passive Opferrolle paßte nicht zum zionistischen Aufbaupathos. Die Tatsache, daß die assimilierten Juden Europas vernichtet waren, gab der zionistischen Perspektive neuen Auftrieb zur Integration der Juden aus anderen Weltteilen, die die Shoah nicht erlebt hatten. Erst mit dem Eichmann-Prozeß 1963 änderte sich das Bild langsam (ähnlich wie in der Bundesrepublik), und erst seit den achtziger Jahren wurde die Shoah zum zentralen Identifikationssymbol der israelischen Gesellschaft aufgebaut. Heute dient sie als Schutzwall gegen jedes Hinterfragen der Regierungspolitik, als »mentale Mauer, hinter der so viele Israelis eingesperrt sind ... und die der Selbstrechtfertigung dient« (Cypel, S. 418).
In Yad Vashem sind in eindrucksvoller Größe Luftaufnahmen vom Industrie- und Lagergebiet Auschwitz zu sehen, gemacht im April 1944 von den Angloamerikanern, bevor sie im September 1944 die Industrieanlagen von Buna-Monowitz bombardierten. Die Antwort des US-»war office« auf die schon seinerzeit erhobene Frage, warum nicht die Zufahrt zum nur acht Kilometer entfernten Todeslager bombardiert werde, lautete: Ein solches Unternehmen hätte »einen beträchtlichen Lufteinsatz beansprucht, der notwendig war für den Erfolg unserer Streitkräfte in anderen entscheidenden Operationen«. Das entspricht der Antwort von Präsident Roosevelt an einen Polen, der schon 1943 auf eine sofortige US-Intervention gegen die Ermordung der Juden gehofft hatte: »Zuerst müssen wir den Krieg gewinnen.« Neben dem Hauptziel, die Deutschen zu besiegen, sollte es keine »Nebenziele« geben.
Diesem furchtbaren Bewußtsein aller Gemarterten, »von der Welt und vom Leben vergessen zu sein«, gab der Häftling Abraham Levite am 3. Januar 1945 in seinem »Auschwitz-Prolog« Ausdruck: »All of us, dying here amidst the icy arctic indifference of nations (wir alle, die wir hier sterben, in der eisigen arktischen Gleichgültigkeit der Nationen) ...« In großen Lettern gedruckt bleibt jene grauenvolle existenzielle Erfahrung, die alle Opfer gemacht haben, im Hinterkopf, auch wenn man an das Verhalten der Nachkommen dieser Opfer denkt. Daß viele von ihnen, aus tiefsitzender Existenzangst heraus, in einer Verkennung der heutigen Realität leben und nun selber zu Tätern werden, resultiert auch daher. Und die substanzielle Gleichgültigkeit der Mächtigen gegenüber neuen Opfern ist evident.
Ein Ostjerusalemer Ingenieur, der 45 Jahre in Deutschland gelebt hat, kommentiert meine Eindrücke aus Yad Vashem: »Aber warum müssen wir die Konsequenzen dessen ertragen, was Ihr (Deutschen) den Juden angetan habt?« Wenn auch keine direkte historische Schlußfolgerung, zeigt diese Frage, auf welchem Boden auch das palästinensische Opferbewußtsein wächst, solange die Verantwortlichen das Unrecht der Vertreibung, das den Palästinesern geschah, nicht anerkennen. Und zu diesen gehören in erster Linie auch jene Großmächte, die, um eigener Interessen willen, seit Jahrzehnten daran mitwirken, die Wurzeln des israelisch-palästinensischen Konfliktes zu ignorieren oder den Konflikt sogar zu schüren, auf Kosten beider Völker.
Der Zionismus ist aus der historischen Ghettoerfahrung entstanden. Kurt Tucholsky schrieb 1935 an Arnold Zweig in Palästina: »Wer das Ghetto als etwas von vornherein gegebenes acceptiert, der wird ewig darin verbleiben.« Das bis heute von Israel vertretene Konzept eines rein jüdischen Staates wurzelt in diesem Wunsch nach Abgrenzung, der die von den »Anderen« ausgehenden Gefahren endlich definitiv bannen möchte. Das Motiv zieht sich wie ein roter Faden bis hin zur Gaza-Offensive. Diese Politik wird ermöglicht und gedeckt nicht nur von den USA (Gaza ist das letzte Verbrechen der Bush-Ära, der Truppenabzug erfolgte nicht von ungefähr zum Amtsantritt Obamas), sondern auch von NATO-Staaten; einschlägige Berichte über den internationalen Waffennachschub im Dezember an die Israelis kann man der Weltpresse der letzten Wochen entnehmen (zum Beispiel der Jerusalem Post vom 29.12.08).
Dabei müßte eigentlich klargeworden sein: Israel bombardiert in Gaza nicht nur wehrlose Menschen und Hoffnungen auf Frieden, sondern auch eine eigene lebenswerte Zukunft. Spätestens seit Scharons aggressiver Politik (»Der Unabhängigkeitskrieg ist nicht beendet ... Kampf war und ist die Aufgabe meiner Generation und auch der künftigen«, so Scharon in einer Pressekonferenz 2004) hat Israel sich selbst eingemauert in eine von Angst und Haß geschürte, ausweglose Situation, die eine immer stärkere Radikalisierung auf beiden Seiten hervorbringt. Bereits heute erodiert der politische Spielraum der PLO-Parteien (nicht nur Fatah) ebenso wie die sozialen Strukturen in den »Autonomiegebieten« mit ihrer hohen Arbeits- und Aussichtslosigkeit. Das ist das Terrain für religiösen Fundamentalismus. Der Aggressionsspirale ein Ende zu setzen hieße, alles zu tun, um den Samen des Oslo-Prozesses (Zwei-Staaten-Lösung) neu zu beleben: Rückgabe der seit 1967 eroberten Gebiete, internationale Kontrolle Jersualems und eine praktikable Lösung des Flüchtlingsproblems. Daß diese Perspektive von keiner alten oder neuen Regierung in Tel Aviv leicht umzusetzen wäre – wenn sie es wollte –, liegt auf der Hand, auch deshalb ist entschiedene internationale Unterstützung unentbehrlich. Auf israelischer Seite, so Moshe Zuckermann, befürchte man sogar bürgerkriegsähnliche Aufstände der Siedler, und die Vorstellung eines jüdischen »Bruderkriegs« sei unerträglich. Doch andererseits fühle man sich von der sogenannten demographisch tickenden Zeitbombe bedroht, die den Palästinensern, sofern man sie nicht gänzlich vertreiben könne (und das hat man bisher nicht geschafft), in absehbarer Zukunft sowieso ein zahlenmäßiges Übergewicht garantiert.
Auch aus diesem Grund erscheint die Neuauflage des bis 1988 von der PLO favorisierten binationalen Einheitsstaates für die Israelis noch weniger denkbar als damals, auch wenn ihn seit einigen Jahren Intellektuelle wie der palästinensische Soziologe Jamil Hilal propagieren. Hilal hält die Zwei-Staaten-Lösung für kaum noch realisierbar, da das heutige Rest-Palästina (weniger als 22 Prozent der ursprünglichen Mandatsfläche von 1947) keine wirkliche Souveränität erlangen könne. »Es besteht doch jetzt schon de facto ein Staat, in dem beide Völker leben, Palästinenser in Israel wie Juden in der West Bank«, sagt mir Hilal, »man bräuchte niemanden mehr umzuquartieren, man müßte lediglich die Okkupation, die ›Apartheid‹ aufheben, wie es ja auch in Südafrika geschah.«
Eine solche Vision würde allerdings eine Umwandlung des »Judenstaates« in einen gemeinsamen säkularen, demokratischen Staat für Juden und Palästinenser zwischen Mittelmeerküste und Jordan bedeuten. Das erscheint heute den meisten auf beiden Seiten noch unvorstellbar: Sie kennen sich viel zu wenig, und zu viel Angst und Haß hat sich inzwischen angesammelt und droht, bei weiterem Waffeneinsatz in ein Gemetzel ohne Ende zu führen. Nächstliegendes Ziel kann daher nur ein dauerhafter Rückzug des Militärs sein und die Schaffung gegenseitiger Garantien für einen vorerst sicher »kalten Frieden« auf der Grundlage der bereits bestehenden UNO-Resolutionen. Dazu sind heute die verantwortlichen Mächte aufgefordert wie auch zu entsprechender finanzieller Unterstützung für den Aufbau ziviler Strukturen; durch Auflösung der immensen Militäretats würden dafür ausreichend Mittel frei.
Erschienen in Ossietzky 3/2009
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