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Faschismus – ein Weg aus der Krise?
Rolf Becker
Wohin führt die derzeitige wirtschaftliche Krise? Kann sie im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung gelöst werden? Was werden ihre politischen Konsequenzen sein?
1935 notierte Bertolt Brecht als Resultat der damaligen Weltwirtschaftskrise: »Die Geschäfte des Kapitalismus sind nun in verschiedenen Ländern (ihre Zahl wächst) ohne Rohheit nicht mehr zu machen. Manche glauben noch, es ginge doch; aber ein Blick in ihre Kontobücher wird sie früher oder später vom Gegenteil überzeugen. Das ist nur eine Zeitfrage.« (»Faschismus und Kapitalismus«, Große Berliner/Frankfurter Ausgabe 22/105) Die faschistischen Regime in Deutschland, Italien und Spanien, das Anwachsen faschistischer Bewegungen in einer Reihe kapitalistischer Länder und der 2. Weltkrieg bestätigten seinen Hinweis. Was Brecht damals als politische Folge der wirtschaftlichen Krise benannte, ist heute bereits krisenbegleitend oder der Krise vorausgehend feststellbar – je nachdem, wie wir ihren Beginn datieren: ob mit der Ölkrise 1975 (und seitdem sich zyklisch steigernd) oder mit dem »Platzen der Finanzblase« 2008.
Anders als Georgi Dimitroff, der im gleichen Jahr 1935 erklärte, der Faschismus sei »die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«, definiert Brecht den Faschismus als »eine historische Phase, in die der Kapitalismus eingetreten ist, insofern etwas Neues und zugleich Altes«. Er könne »nur bekämpft werden als Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus.« (»Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«, GBA 22/74) Daß Brecht damit die Begründung der Volksfrontpolitik in Frage stellte, die auf Widersprüche im bürgerlichen Lager setzte, bedarf der Erörterung an anderer Stelle. Wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest hebt er »die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor.« Sein Fazit: »Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, daß unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden. Was nützt es da, etwas Mutiges zu schreiben, aus dem hervorgeht, daß der Zustand, in den wir versinken, ein barbarischer ist (was wahr ist), wenn nicht klar ist, warum wir in diesen Zustand geraten? Wir müssen sagen, daß gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen.« Er fordert, an die Schreibenden gerichtet: »Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände in unserem Land sagen, daß das getan werden kann, was sie zum Verschwinden bringt, nämlich das, wodurch die Eigentumsverhältnisse geändert werden.« Und nennt den entscheidenden Adressaten: »Wir müssen es ferner denen sagen, die unter den Eigentumsverhältnissen am meisten leiden, an ihrer Abänderung das meiste Interesse haben, den Arbeitern, und denen, die wir ihnen als Bundesgenossen zuführen können (…) denn wir können die Wahrheit über barbarische Zustände nicht erforschen, ohne an die zu denken, welche darunter leiden.« (GBA 22/74)
Als Brecht dies 1935 forderte, war die deutsche Arbeiterbewegung bereits zerschlagen. Er wußte, seine Botschaft aus dem Exil konnte sie kaum noch erreichen. Sie war gerichtet an die, die noch nicht unter faschistischen Regimes litten, darüber hinaus an uns Nachgeborene: »Ich wollte, daß ihr nicht schon triumphiert: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.« (»Kriegsfibel«) Mehr als die Warnung gibt die Definition zu denken, formuliert vor dem Überfall Deutschlands auf die Länder Europas und die Sowjetunion – und vor Auschwitz: »Um in seinen Entscheidungskampf mit seinem Proletariat einzutreten, muß der Kapitalismus sich aller, auch der letzten Hemmungen entledigen und alle seine eigenen Begriffe, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Persönlichkeit, selbst Konkurrenz, einen nach dem andern über Bord werfen. So tritt eine einstmals große und revolutionäre Ideologie in der niedrigsten Form gemeinen Schwindels, frechster Bestechlichkeit, brutalster Feigheit, eben in faschistischer Form, zu ihrem Endkampf an, und der Bürger verläßt den Kampfplatz nicht, bevor er seine allerdreckigste Erscheinungsform angenommen hat.« (GBA 22/105)
Wichtig erscheint mir:
– Brechts Bindung der Faschismuskritik an die Kritik des Kapitalismus und damit an die Eigentumsfrage: »Wir müssen sagen, daß gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen.« Guantánamo und Abu Ghraib sowie alle anderen Verhörwerkstätten, deren Aussagen auch hierzulande ausgewertet werden, dienen – ohne dass bereits von faschistischen Verhältnissen gesprochen werden kann – im Rahmen der »real existierenden« Demokratien der Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse.
– Brechts Darstellung des Verfalls bürgerlicher Werte: das »über Bord werfen« der einst revolutionär erkämpften Werte und Begriffe »wie Freiheit, Gerechtigkeit, Persönlichkeit, selbst Konkurrenz« zugunsten »der niedrigsten Form gemeinen Schwindels, frechster Bestechlichkeit, brutalster Feigheit«. Auch das erleben wir heute, aber anders als zur Zeit der Niederschrift des Brecht-Textes nicht unter faschistischen, sondern – wenn auch zunehmend eingeschränkten – demokratischen Verhältnissen. Die Lügen zur Begründung des ersten Angriffskrieges unter Beteilung der seit 1989 »wiedervereinigten« Bundesrepublik Deutschland gegen Jugoslawien, die Häufung der Korruptionsfälle in Wirtschaft und Politik, die Überwachung der Bürger, die Einschränkungen im Versammlungsrecht, die Vermischung von Legislative und Exekutive, der angestrebte Einsatz der Bundeswehr im Innern, die verlogenen Begründungen zur Rechtfertigung des Umgangs mit Flüchtlingen und nicht zuletzt, was heute als »Mainstream« bezeichnet und als »öffentliche Meinung« durchgesetzt wird, veranlassen uns schon jetzt, im Rahmen der noch funktionsfähigen bürgerlichen Demokratien, nachzudenken über die »Schwierigkeiten beim Schreiben (und Aussprechen) der Wahrheit«.
– Brechts Hinweis auf die Adressaten aller Einsichten: auf die, »die unter den Eigentums-verhältnissen am meisten leiden«, die arbeitende und arbeitslose Bevölkerung. Damals waren in Deutschland sämtliche Parteien und Organisationen der Arbeiterklasse bereits verboten, ihre Mitglieder in die Deutsche Arbeitsfront gezwungen, ihre Belegschaften zu Gefolgschaften der Unternehmen degradiert, ihre aktiven Kader wurden verfolgt, in KZs interniert, gefoltert und ermordet. Als historisches Subjekt, das die Frage »Sozialismus oder Barbarei« revolutionär hätte entscheiden können, existierte sie nach der kampflosen Niederlage 1933 nicht mehr. So wie sie heute noch nicht wieder existiert. Gelegentlich laufen wir Gefahr, bei diesem »noch nicht« zögerlich, zweifelnd, wenn nicht gar kopfschüttelnd zu reagieren angesichts der geringen Ansätze, die überwiegende Passivität vor allem im betrieblichen und gewerkschaftlichen Bereich zu überwinden, geschweige denn den Kampf gegen Hartz 4 und die Agenda 2010 aufzunehmen – anders als Unternehmer und Regierung, die sich von der Überwachung der Bürger bis zum Einsatz der Bundeswehr im eigenen Land auf die Unterdrückung möglicher Unruhen vorbereiten. Wenn von »notwendigen Einschränkungen« der Demokratie die Rede ist, um die angeblich gefährdete Demokratie zu schützen und zu erhalten, ist in Wahrheit die bürgerliche Klassenherrschaft gemeint.
Am 28. Februar1942, nach einen Besuch von Lion Feuchtwanger bei ihm in der gemeinsamen Zeit des Exils in den USA, notierte Brecht: »Die auswegloseste aller Klassen, das Kleinbürgertum, etabliert sich diktatorisch in der ausweglosesten Situation des Kapitalismus. Die Diktatur ist nur insofern scheinbar, als sie sich zwischen den weiterbestehenden Klassen durchsetzt, so das ›natürliche‹ (ökonomische) Gewicht des Großbürgertums (Junkertums) zur verschärften Geltung bringt und nicht ›im Sinn‹ des Kleinbürgertums regiert; es ist Handlangertum, Fausthandlangertum, aber die Faust hat eine gewisse Selbständigkeit; die Industrie bekommt ihren Imperialismus, aber sie muß ihn nehmen, wie sie ihn bekommt, den Hitlerschen.« (GBA 27/63)
Brecht benennt hier drei für den Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie und die faschistische Machtübernahme entscheidende Kriterien: das Kleinbürgertum, das sich »diktatorisch etabliert«, die »auswegloseste Situation des Kapitalismus« und die Industrie, die »ihren Imperialismus nehmen muß, wie sie ihn bekommt«. Brecht gibt keine Quellen an, auf die er sich bei diesen Anmerkungen bezieht, aber vieles weist darauf hin, daß zu ihnen gehört, was Karl Marx über die französischen Zustände nach der 1848er Revolution geschrieben hat: »Indem (...) die Bourgeoisie, was sie früher als ›liberal‹ gefeiert, jetzt als ›sozialistisch‹ verketzert, gesteht sie ein, daß ihr eignes Interesse gebietet, sie der Gefahr des Selbstregierens zu überheben, daß, um die Ruhe im Lande herzustellen, vor allem ihr Bourgeoisparlament zur Ruhe gebracht, um ihre gesellschaftliche Macht unversehrt zu erhalten, ihre politische Macht gebrochen werden müsse; daß die Privatbourgeois nur fortfahren können, die andern Klassen zu exploitieren und sich ungetrübt des Eigentums, der Familie, der Religion und der Ordnung zu erfreuen, unter der Bedingung, daß ihre Klasse neben den andern Klassen zu gleicher politischer Nichtigkeit verdammt werde; daß, um ihren Beutel zu retten, die Krone ihr abgeschlagen und das Schwert, das sie beschützen solle, zugleich als Damoklesschwert über ihr eignes Haupt gehängt werden müsse.« (Marx Engels Werke 8, Seite 154)
Mit anderen Worten, bezogen auf die Machtübergabe an die Nazis 1933: Um ihre wirtschaftliche Macht zu erhalten, mußten die deutschen Unternehmer ihre politische Macht den Faschisten anvertrauen. Dazu August Thalheimer, der diesen Gedankengang seiner Faschismusanalyse zugrunde legt, zu Beginn der damaligen Weltwirtschaftskrise, 1929 in Gegen den Strom, Zeitschrift der KPD-Opposition: »Die soziale Herrschaft der Bourgeoisie ist in Widerspruch geraten mit ihrer politischen Herrschaft. Sie bereitet ihre politische Abdankung vor, um ihre Klassenherrschaft zu retten und zu festigen. Die Bourgeoisie spürt es klar voraus, daß dies nur durch einen Bürgerkrieg vollführt werden kann. Davor schreckt sie heute noch zurück. Es bedarf dazu einer Vorbereitung von langer Hand und einer akuten politischen und sozialen Krise. Heute wäre es für sie noch ›ein Sprung ins Dunkle‹. Und für diesen Sprung selber braucht es einen Springer außerhalb, über oder unter den Reihen der parlamentarischen Politiker. Der Diktator ist noch nicht da. Sind aber die Bedingungen geschaffen - so wird sich die benötigte Figur irgendwie und irgendwo finden. Das braucht kein ›Heros‹, nichts Außerordentliches zu sein. Sind die sozialen und politischen Bedingungen dafür bereit, so genügt, wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, die ordinärste Blechfigur dafür (...) So reift also Schritt für Schritt die Krise des Parlamentarismus in Deutschland heran, die in eine Krise der bürgerlichen Herrschaft überhaupt auslaufen muß. (Gegen den Strom, 2. Jhg. Nr. 16)
Heute kann von einer »politischen Abdankung« der bürgerlich-parlamentarischen Regierungen in den großen Industriestaaten noch nicht die Rede sein. Wohl aber von einer wirtschaftlichen und sozialen Krise, die sich zu einer politischen auszuweiten droht – »in eine Krise der bürgerlichen Herrschaft überhaupt«. Die Verwirrung in den parlamentarischen Vertretungen der herrschenden Klasse ist ablesbar aus ihren widersprüchlichen Erklärungen – ob in den USA oder in Europa. Die derzeitige Krise, deren Ausmaß noch nicht absehbar ist, betrifft, anders als in der Weltwirtschaftkrise 1928–1933, nicht nur einige, sondern sämtliche Industrienationen. Wenn Politiker wie Medien von den »globalen Auswirkungen der Krise« sprechen, umgehen sie damit lediglich ihre Benennung als Krise des Kapitalismus selbst. Das Abwälzen der Lasten auf die Bevölkerungen – Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der kaum noch bezifferbaren Verluste – betrifft sämtliche Industrienationen und weit darüber hinaus die von der Rohstoffproduktion abhängigen Länder der sogenannten 3. Welt. Nationale Sonderwege wie die der Achsenmächte unter der Führung Deutschlands im 2. Weltkrieg scheinen trotz der zunehmenden Widersprüche unter den kapitalistischen Führungsmächten ausgeschlossen – selbst für die USA.
»Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen?« Die Antwort von Marx und Engels auf die in ihrem kommunistischen Manifest selbst gestellte Frage lautet: »Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert. « Die »Vernichtung einer Masse von Produktivkräften« wird derzeit zur Alltagserfahrung. »Die gründlichere Ausbeutung alter Märkte« mit den entsprechenden Konsequenzen für die soziale Lage der Bevölkerungsmasse bahnt sich an. Ebenfalls die »Eroberung neuer Märkte« durch Fortsetzung der Kriege – die Einkreisung Rußlands begann bereits mit dem NATO-Überfall auf Jugoslawien.
Auch wenn das Kapital – anders als 1933 – nicht vor einem »Entscheidungskampf mit seinem Proletariat« steht, kommt es, wie Brecht in seinen Anmerkungen zu »Die Ausnahme und die Regel« (1931) schreibt, darauf an zu »zeigen, wie die aneignende Klasse unablässig den Klassenkampf betreibt, auch da, wo die hervorbringende Klasse zu großen Teilen noch nicht kämpft. Die aneignende Klasse handelt unter allen Umständen so, wie es die Erwartung des Widerstandes der hervorbringenden Klasse ihr befiehlt.« (GBA 24/109) Die Verharmlosung und das Gewährenlassen faschistischer Gruppierungen wie der NPD entspringt noch nicht der Krise bürgerlicher Herrschaft, wohl aber der gelegentlich verbalisierten Überlegung, ihre Anhänger eines Tages zur Herrschaftssicherung instrumentalisieren zu können. Die Tatsache, daß sich Faschisten zunehmend an sozialen Brennpunkten einschalten, die eigentlich von den Gewerkschaften besetzt werden müßten, findet zu wenig Beachtung. Mehr noch: Die weitgehende Passivität der Arbeiterklasse bietet, anders als bürgerliche Ideologen weismachen wollen, nicht nur keine Gewähr für den Erhalt derzeitiger sozialer Ordnungen, im Gegenteil: nur gestützt auf die Passivität und Orientierungslosigkeit der Massen kann eine konterrevolutionäre Bewegung zur Macht gelangen. Der Ausweg ist wie die Wahrheit konkret: die Eigentumsverhältnisse ändern! »Wer will, daß die Welt bleibt, wie sie ist, will nicht, daß sie bleibt.« (Erich Fried)
Erschienen in Ossietzky 3/2009
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