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Mehr als Dienstleistung

Zur Aktualität des fast vergessenen Gewerkschaftstheoretikers Viktor Agartz (1897-1964)

von Christoph Jünke

Die Krise des neoliberalen Gesellschaftsprojekts schafft wieder Raum für alternative Gesellschaftsentwürfe und macht entsprechende historische Fundstellen besonders interessant. Reinhard Bispinck, Thorsten Schulten und Peeter Raane, die ersten beiden Mitarbeiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB (WSI), der letztere Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW, haben soeben ein Buch mit Beiträgen zur Aktualität von Viktor Agartz und mit Texten desselben herausgegeben. Der einstmalige DGB-Cheftheoretiker Agartz (1897-1964) war einer der nach Krieg und Faschismus einflußreichsten Politiker und Gewerkschafter der westdeutschen Arbeiterbewegung. 1955 in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, wurde er 1957 wegen seiner auch finanziellen Kontakte zur DDR des "Landesverrats" angeklagt und, trotz Freispruch, zur "Persona non grata" gestempelt. Der im Hamburger VSA-Verlag erschienene Band enthält Beiträge u.a. von Hans-Jürgen Urban, Herbert Ehrenberg und Michael Krätke. Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Beitrag von Christoph Jünke über die Aktualität der Agartzschen Kritik der Gewerkschaftspolitik.

Viktor Agartz erinnert uns daran, daß Gewerkschaftspolitik vor allem eine Dienstleistung für die von Lohnarbeit Abhängigen ist, also vor allem eine Politik um den Lohn und die betrieblichen Bedingungen von Erwerbsarbeit. Er erinnert uns aber auch daran, daß Gewerkschaftspolitik immer auch mehr ist als eine gleichsam bürokratische Dienstleistung, denn der Lohn ist in einer Klassengesellschaft wie der unseren immer auch ein politischer Lohn, ein gesellschaftlich umkämpfter Lohn. Lohnfragen sind Machtfragen und jede Lohnforderung ist immer auch ein Angriff auf den unternehmerischen Mehrwert. Der Kampf um Arbeit und Lohn ist deswegen immer auch mehr als nur die Reproduktion einer individuellen oder kollektiven Existenz. Arbeit soll dem Leben dienen und nicht umgekehrt. Die Emanzipation der Klasse der Lohnarbeitenden ist immer auch die Emanzipation vom ökonomischen Zwang zur Lohnarbeit. Gewerkschaftspolitik hat deswegen immer auch und nicht zuletzt ein politisches Mandat.

Viktor Agartz propagierte deswegen eine Erneuerung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, eine Erneuerung zurück zu einer eigenständigen, autonomen, auch vor radikalen Konsequenzen nicht zurückschreckenden Arbeiterbewegung. Zu diesem Zweck forderte er im Jahre 1958 ein neues Bündnis von Arbeiterbewegung und Intellektuellen und skizzierte ein Aktionsprogramm zur Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung, das auch ein halbes Jahrhundert später noch von aktuellem Interesse ist. "Für die Sozialisten Westdeutschlands", schreibt er dort, "gehört zu den wichtigsten Gegenwartsaufgaben: 1. Aus der gewerkschaftlichen Ideologie klerikale und volkskapitalistische Illusionen zu eliminieren. 2. Die Sozialpartnerschaft, die ein der Gewerkschaftsbewegung wesenfremdes Instrument ist, als auflösendes Ferment zu erkennen und daher zu bekämpfen. 3. Die Überwindung des politischen Neutralismus, Propagierung der marxistisch-sozialistischen Gesellschaftstheorie und Erziehung der Arbeiterbewegung zum klassenpolitischen Denken. 4. Durch eine aktive Gewerkschaftspolitik die bisher errungenen und geschaffenen Positionen, wie zum Beispiel die Mitbestimmung, nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern als Mittel des gewerkschaftlichen Emanzipationskampfes. 5. Verbindung des gewerkschaftlichen Kampfes mit dem Emanzipationskampf der Arbeiterklasse schlechthin. 6. Umfassende Maßnahmen zur Erhaltung des Friedens und zur Sicherung des Lebensstandards der Arbeiterschaft."

Läßt man sich hier von bestimmten Begrifflichkeiten nicht schrecken, kann man die sechs Programmpunkte ohne Substanzverlust auch zeitgenössischer in die folgenden fünf übersetzen: 1.) Kritik der Sozialpartnerschaft in Theorie und Praxis; 2.) Erneuerung gesellschaftspolitischen Denkens und Handelns als Klassenkampf; 3.) Verteidigung der sozialstaatlichen Errungenschaften, ohne sich auf diese zu beschränken - als Mittel ihrer Erweiterung und Transformation; 4.) Gegen Militarisierung und Krieg; 5.) Politisierung nicht nur innerhalb des gewerkschaftlichen Kampfes, sondern auch durch dessen Verbindung mit nichtgewerkschaftlichen Emanzipationskämpfen. Letzteres wird heute gerne mit "neue soziale Gewerkschaftsbewegung" übersetzt.

Viele werden mit einigen oder gar den meisten dieser und anderer Programmpunkte ihre Probleme haben - es würde mich wundern, wenn es nicht so wäre. Aber es geht in diesem Zusammenhang hier weniger um Ablehnung oder Zustimmung zu diesen oder anderen Thesen, sondern darum, daß sie, was immer man konkret von ihnen halten mag, noch immer im Zentrum mindestens der Debatten stehen, die auf der gewerkschaftlichen und politischen Linken geführt werden. Insofern haben sie wenig an Aktualität verloren. Und selten finden wir sie mit solcher Autorität und Konsequenz formuliert wie bei Agartz. Allein dies rechtfertigt die Auseinandersetzung mit dem Agartzschen Leben und Werk. Mehr noch ist eine solche Beschäftigung eine Frage jenes kollektiven Gedächtnisses, das auf der politischen und sozialen Linken bekanntlich nicht besonders gepflegt wird.

Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten/Peeter Raane (Hrg.): Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik - Zur Aktualität von Viktor Agartz. VSA Verlag, Hamburg 2008, 244 Seiten, 17,80 Euro.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der jungen welt am 11.12.2008.

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sopos 2/2009