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 Das Scheitern geht weiterHeinz-J. Bontrup   Unter  dem Titel »Gescheiterte Wirtschaftspolitik« habe ich vor einem Jahr (Ossietzky 2/08) ziemlich genau die  mittlerweile eingetretene weltweite Wirtschaftskrise vorausgesagt und  analysiert. Hier folgt nun Teil 2 einer gescheiterten Wirtschaftspolitik. Die  aktuelle Wirtschaftskrise, zu der sich die globale Finanzkrise entwickelt hat,  ist nicht mehr aufzuhalten. Kapitalistische Krisen verlangen nach  Bereinigungen, nach Arbeitsplatz- und Kapitalvernichtungen. Wie tief und wie  lange wird die Krise andauern, wie tief wird sie gehen und welche Schäden wird  sie anrichten?Wochen nach dem  Finanzmarkt-Crash ist noch völlig unklar, wie hoch die Kosten der Krise sein  werden. Der Internationale Währungsfonds bezifferte sie auf etwa 1,4 Billionen  US-Dollar, der Chef der Bank of England sogar auf 2,8 Billionen US-Dollar. Es  könnte aber auch noch viel schlimmer kommen. Das hängt von den jetzt dringend  benötigten staatlichen Interventionen in die Märkte ab. Hiermit verbunden ist  ein ökonomischer Paradigmenwechsel. Seit etwa drei Jahrzehnten herrschte  weltweit der Glaube an die sogenannten Selbstheilungskräfte des Marktes auf  allen gesellschaftlichen Feldern. Diese ökonomische Irrlehre ist mit der  weltweit tobenden Wirtschaftskrise endgültig widerlegt worden. Eigentlich hatte  darüber schon die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 Klarheit geschaffen.  Damals erlebte der liberale Marktradikalismus bereits seinen größten  anzunehmenden Unfall. Und nach dem Zweiten Weltkrieg war sich die  polit-ökonomische Weltgemeinschaft zumindest bis Mitte der 1970er Jahre – bis  zur monetaristischen Konterrevolution eines Milton Friedman gegen den  staatsintervenierenden Keynesianismus – darin einig, daß Wettbewerb und Märkte  weder zu Vollbeschäftigung noch zu ökologischer Nachhaltigkeit tendieren,  geschweige denn eine Beteiligung der Beschäftigten am Produktivitätsfortschritt  garantieren.
 Gerade weil der Markt keine  Vollbeschäftigung, kein ökologisches Gleichgewicht und keine  Verteilungsneutralität garantiert, erhob die herrschende Kapitalschicht mit  ihren Interessenvertretern in den Parlamenten ein nach dem Zweiten Weltkrieg  zunächst in die ökonomische Mottenkiste verbanntes reines Markt- und  Wettbewerbsparadigma seit Mitte der 1970er Jahre wieder zur dominierenden  Wirtschaftspolitik. Doch jetzt macht die Weltwirtschaftskrise die Neoliberalen  zu Wendehälsen. Wollten sie vor Wochen den Staat am liebsten noch abschaffen,  so rufen sie heute nach massiven Staatsinterventionen in den versagenden  Marktmechanismus. Die vormals Neoliberalen wurden über Nacht zu Keynesianern,  selbst Josef Ackermann von der Deutschen Bank konvertierte. »Kaum blickte ihnen  die Krise fest ins Auge, senkten sie den Blick und schlugen sich, ihre  neoliberalen Banner eingerollt, in die Büsche«, schrieb zu Recht die Süddeutsche Zeitung.
 Doch die Neoliberalen sind nur  abgetaucht. Sobald die Wirtschaftskrise einigermaßen überwunden ist, werden sie  wieder mit den alten marktradikalen Botschaften auftauchen. Nach aller  Erfahrung werden sie dann die krisenbedingt zunehmende Staatsverschuldung für  ihre Profitinteressen instrumentalisieren und weitere noch heftigere Angriffe  gegen den Sozialstaat, die Gewerkschaften und die abhängig Beschäftigten  führen.
 Um so  notwendiger ist es, die Ursache der Finanzmarktkrise in Erinnerung zu behalten:  den weltweit praktizierten Neoliberalismus, der für die Wirtschaftspolitik nur  eine einzige Zielorientierung kennt: Umverteilung von unten nach oben. Eine  ökonomisch differenziertere Antwort auf die Frage nach der Ursache der Krise  umfaßt zwei neoliberal geschaffene weltweite Ungleichgewichte. Das erste  Ungleichgewicht besteht in der globalen Realwirtschaft zwischen Produktion und  Konsum. Länder mit großen Exportüberschüssen (allen voran Deutschland als  »Exportweltmeister«, China, Südostasien, aber auch Rußland) verbrauchen  weniger, als sie herstellen. Diese Länder leben demnach unter ihren ökonomisch  geschaffenen Verhältnissen. Ihnen stehen Volkswirtschaften gegenüber, vor allen  die USA, die mehr konsumieren, als sie produzieren, und daher  Leistungsbilanzdefizite aufweisen. Sie leben über ihre Verhältnisse. Kein Land  der Erde hat eine solch hohe Auslandsverschuldung aufgebaut wie die USA.
 In den Unterkonsumtionsländern  stiegen die realen Löhne nicht mit der Produktivität. Aber auch in den  konsumlastigen Volkswirtschaften wie den USA stagnierten oder sanken die Löhne  der ärmeren Bevölkerung, während Kapitaleinkommen und Spitzengehälter  explodierten. Diese hohen Einkommen werden zumeist nicht für den Konsum  genutzt, sondern überwiegend gespart.
 Schauen wir uns die  Einkommensentwicklung in Deutschland an: Die Brutto-Lohnquote vor staatlicher  Umverteilung ging seit der deutschen Wiedervereinigung von 71,0 Prozent auf  63,7 Prozent im ersten Halbjahr 2008 zurück, also um 7,3 Prozentpunkte.
 Extreme  Ausmaße nahm die Umverteilung seit dem Zusammenbruch der sogenannten New  Economy im Jahr 2001 an. Von 2002 bis 2007 wurde Deutschland um insgesamt 266,2  Milliarden Euro reicher. Dies war der absolute Zuwachs des Volkseinkommens.  Davon gingen 203,3 Milliarden Euro oder 76,4 Prozent an die  Einkommensempfänger, also an diejenigen, die Gewinn-, Zins- oder Miet- und  Pachteinkommen beziehen. Nur 23,6 Prozent entfielen auf die abhängig  Beschäftigten in Deutschland. Eine drastische Einkommensumverteilung. Arm und  Reich entfernen sich immer weiter voneinander Schon jetzt gelten etwa zehn  Prozent der deutschen Bevölkerung, also gut acht Millionen Menschen, als  »abgehängtes Prekariat«.
 Aus Einkommen entsteht Vermögen  und aus Vermögen wiederum zusätzliches Einkommen – ein Zinses-Zins-Effekt. Auch  hier zeigt uns die Statistik in Deutschland eine krasse Ungleichverteilung. In  den vergangenen 17 Jahren verdreifachte sich das Nettogeldvermögen  (Bruttogeldvermögen minus sämtlicher Schulden) auf gut drei Billionen Euro im  Jahr 2007. Weltweit stieg das private Nettogeldvermögen allein zwischen 1999  und 2007 von 71,5 Billionen US-Dollar auf 105 Billionen US-Dollar, also um fast  50 Prozent. Das gesamte private Nettovermögen in Deutschland, neben dem  Nettogeldvermögen das Produktivkapital und das Immobilienvermögen, beläuft sich  auf 5,4 Billionen Euro – ebenfalls extrem ungleich verteilt: 30 Prozent der  privaten Haushalte in Deutschland halten fast das gesamte Vermögen, während  zwei Drittel der privaten Haushalte über kein oder nur sehr geringes Vermögen  verfügen. Aber auch in allen anderen Volkswirtschaften der Welt sind Einkommen  und Vermögen ungleich verteilt, am schlimmsten in den Entwicklungs- und  kapitalistischen Schwellenländern.
 Neben dem  Markt betätigte sich auch der Staat als Umverteiler zu Gunsten der Besitzenden:  durch eine ungerechte Steuer- und Sozialabgabenpolitik, die einseitig die  unteren und mittleren Schichten belastete. Der Staat erhöhte die indirekten  Verbrauchsteuern und gab sich dafür mit geringeren Einnahmen aus direkten  Gewinn-, Einkommen- und Vermögensteuern zufrieden. Die Massensteuern, also die  Lohn- und Verbrauchssteuern, hatten in Deutschland in den 1960er Jahren am  gesamten Steueraufkommen einen Anteil von gut 30 Prozent. 70 Prozent stammten  aus Gewinn-, Einkommens- und Vermögenssteuern. Inzwischen hat sich das Verhältnis  umgekehrt: Jetzt liegt der Anteil der Massensteuern bei 70 Prozent.
 Ähnlich sorgt  auch die Sozialabgabenpolitik für Umverteilung von unten nach oben. Noch immer  setzen sich führende Politiker dafür ein, die gesetzlichen Lohnnebenkosten zu  senken. Die Arbeitskraft soll verbilligt werden. Diese Politik führte zu einer  Teilprivatisierung der Rente. So haben sich weltweit die in Pensionsfonds für  die Alterssicherung angelegten Gelder von 1992 bis 2006 von knapp fünf  Billionen US-Dollar auf nahezu 23 Billionen US-Dollar mehr als vervierfacht. Je  weniger von der gesetzlichen Rentenversicherung übrig bleibt, desto mehr Gelder  fließen in die Finanzmärkte. Durch Privatisierung und Entsolidarisierung wurde  auch die gesetzliche Krankenversicherung geschwächt. Gleiches geschah in der  Arbeitslosenversicherung, siehe »Hartz IV«. So wurde die Steuer- und  Abgabenquote (also Steuern und Sozialabgaben in Relation zum  Bruttoinlandsprodukt) dermaßen abgesenkt, daß Deutschland heute unter den  OECD-Ländern lediglich an 16. Stelle steht. Alle Hauptkonkurrenten, mit  Ausnahme der USA, haben höhere Steuer- und Abgabenquoten. Deutschland kam 2006  auf 35,7 Prozent, Frankreich, unser größter Handelspartner, auf 44,5 Prozent.  Schweden liegt bei 50,1 Prozent, Italien bei 42,7 Prozent, Österreich bei 41,9  Prozent, Großbritannien bei 37,4 Prozent. Die US-amerikanische Quote beträgt  25,7 Prozent.
 Das Ergebnis dieser doppelten  staatlichen Umverteilung über Steuern und Sozialabgaben zeigt sich auch in der  Netto-Lohnquote. Diese ist in Deutschland seit 1991, also seit der  Wiedervereinigung, von 40,3 Prozent auf 33 Prozent im ersten Halbjahr 2008  abgestürzt, während die Netto-Gewinnquote im selben Zeitraum von 25 Prozent auf  30 Prozent gestiegen ist (jeweils auf das Volkseinkommen bezogen). Der Staat  hat also die Primärverteilung, die immer – schon auf Grund asymmetrischer  Machtverhältnisse auf dem Markt – ungerecht ist, nicht etwa berichtigt, er hat  nicht für Ausgleich gesorgt, wie es seine verfassungsrechtliche Aufgabe ist  (»Sozialstaat«), sondern er hat die Verteilung zu Lasten der Masse der abhängig  Beschäftigten noch verschlechtert. Er hat Öl ins Feuer gegossen und damit ein  kontraproduktives wirtschaftliches Ergebnis bewirkt.
 Neben der geschilderten primären  und der sekundären Umverteilung fand und findet noch eine dritte statt: Durch  Zunahme der Staatsverschuldung wächst die öffentliche Armut. Die Steuer- und  Sozialabgabenausfälle – auch auf Grund einer seit gut dreißig Jahren in  Deutschland bestehenden Massenarbeitslosigkeit (s. Friedrich Wolffs  Überlegungen in Ossietzky 1/09) –  konnten nicht durch Senkungen der Staatsausgaben kompensiert werden. Hier  wirken sich auch die Konjunkturzyklen aus. Im Abschwung fördert der Staat das  Wachstum, verzichtet zu diesem Zweck auf Steuereinnahmen und nimmt dafür  zusätzliche Schulden auf. Die zuvor Einkommens- und Steuerbegünstigten geben  gern ihre so gewonnenen Ersparnisse an den Staat in Form von Krediten zurück  und erhalten dafür selbstverständlich Zinsen. Dies ist dann die dritte Form der  Umverteilung von unten nach oben. Im Jahr 2007 mußte der Staat allein an Zinsen  fast 70 Milliarden Euro aufbringen. Zum Vergleich: Die gesamten  gewinnabhängigen Steuern (Körperschaftsteuer, veranlagte Einkommensteuer und  nicht veranlagte Steuern vom Ertrag) lagen 2007 nur bei knapp 62 Milliarden  Euro. Selbst wenn man dazu noch die Gewerbesteuer in Höhe von 40 Milliarden  Euro und die Erbschaftsteuer mit gut vier Milliarden Euro zählt, zeigt sich  hier, in welche unerträgliche Einnahmen- und Ausgabensituation der Staat gerät,  wenn nur zwei Drittel seiner Zinsausgaben durch Gewinn- und Vermögenssteuern  abgedeckt werden.
 Der Staat  (Bund, Länder und Gemeinden) hätte zwischen 2000 und 2008 insgesamt 247  Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen verbuchen können, hätte er nicht ab 2000  eine von unten nach oben umverteilende Steuerpolitik betrieben, die entgegen  allen Ankündigungen der Neoliberalen nicht zu mehr Investitionen und  Beschäftigung geführt hat. Im Gegenteil: Investitionen und Beschäftigung gingen  zurück, und der Niedriglohnsektor weitete sich aus. Heute arbeiten in diesem  Bereich mehr als 6,6 Millionen Menschen. Betrug der Anteil der  Niedriglohnempfänger an der Gesamtheit der abhängig Beschäftigten 1995 noch 15  Prozent, so liegt er heute bei fast 25 Prozent – Tendenz weiter steigend.
 Im nächsten Heft wird Heinz-J.  Bontrup das weltweite Ungleichgewicht zwischen Real- und Finanzwirtschaft als  weitere Ursache der Krise analysieren. 
 Erschienen in Ossietzky 2/2009 
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