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Brief aus Ramallah
Susanna Böhme-Kuby
Mein Jahresbeginn 2009 in Ramallah, Jericho, Bethlehem, Hebron, Jerusalem und Tel Aviv eröffnet mir Einsichten in den seit mindestens sechs Jahrzehnten andauernden Konflikt zwischen dem Staat Israel und den Palästinensern, die Israel-Touristen normalerweise verborgen bleiben. Die meisten besuchen nicht die 1967 von Israel besetzten Gebiete, mit Ausnahme weniger Pilgerstätten unweit Jerusalems. Die »palästinensische Autonomiegebiete«, wie sie im Oslo-Abkommen von 1993 als erster Schritt zu einem »Friedensprozeß« konzipiert wurden, der den Palästinensern schließlich einen eigenen Staat garantieren sollte, sind nichts weniger als autonom. Es gibt zwar eine lokale Verwaltung, aber wirtschaftlich sind sie von Israel und internationalen Subventionen abhängig. Israel kontrolliert und modifiziert die noch immer nicht festgelegten Grenzen und unterwirft die Bevölkerung einer militärischen Willkür, die den Menschenrechten und allen demokratischen Prinzipien spottet. Wie sich das auf beiden Seiten auf die Menschen auswirkt, begreift man erst durch eigene Anschauung.
Die Autofahrt vom Flugplatz Ben Gurion bei Tel Aviv in Richtung Ramallah macht mich gleich mit der quer durch die Landschaft gezogenen, teilweise acht Meter hohen Betonmauer bekannt. Ungeachtet der Verurteilung durch den Internationalen Gerichtshof baut Israel sie weiter. Sie ist auf 700 Kilometer Länge angelegt und soll dann rund 45 Prozent der West Bank unter Kontrolle halten; ein Blick auf die Landkarte zeigt den Westteil bereits jetzt als einen Flickenteppich, neun Prozent des Landes sind annektiert. Dank eines special permits kann der Wagen, der mich abholte, ohne allzu große Wartezeiten die Militärsperren passieren, aber normale Palästinenser und Israelis können sich zwischen ihren Lebensgebieten nicht frei hin- und herbewegen, Arbeitspendler aus und nach Ostjerusalem unterliegen schikanösen und zeitraubenden Reglementierungen.
Mitten in palästinensisches Gebiet schieben sich entgegen allen internationalen Bestimmungen (zum Beispiel im Osloer Abkommen) neue jüdische Siedlungen, deren Bewohner das dazu nötige Land einfach besetzen und sich militärisch verschanzen. Sie nehmen den Einwohnern auch das Wasser und die Olivenhaine. Inzwischen sind es mehrere hunderttausend Siedler, die Israel in die West Bank verbracht hat, sie haben eigene Straßen (bypasss roads) und sonstige Infrastruktur; schon optisch wirken die Siedlungen mit ihren roten Spitzdach-Häusern fremd in der mediterranen Landschaft.
Selbst in der neu ausgebauten »Hauptstadt« Ramallah, Sitz der Autonomiebehörden und vieler internationaler Organisationen, die innerhalb von 15 Jahren auf 70.000 Einwohner angewachsen ist, steht gegenüber dem alten christlich-moslemischen Stadtteil Al-Bireh seit 2000 eine jüdische Siedlung auf einem Hügel mitten im Stadtgebiet. Von dort aus schossen Siedler während der Belagerung der Stadt durch die Israelis im April 2002, erzählt ein Bekannter. Damals wurde nicht nur Präsident Arafat in der Muqata, seinem Regierungssitz, belagert und beschossen, sondern die Ausgangssperre lähmte die ganze Bevölkerung, wochenlang. Die Frauen versorgten ihre Familien während der kurzen täglichen Ausgangszeit, die Männer versteckten sich, so gut es ging, viele wurden als mutmaßliche Terroristen verschleppt, darunter auch Jugendliche. Die Zahl der immer noch in Israel inhaftierten politischen Gefangenen liegt bei 10.000. Fast jede Familie beklagt tote oder inhaftierte Männer.
Nicht nur Regierungsgebäude wurden damals beschossen, sondern auch Wohnhäuser, selbst ausländische Kulturinstitute wurden beschädigt, wie ich im Goethe-Institut erfahre, das nun als deutsch-französisches Institut eine neue Bleibe fand. Die Fotos der damaligen Zerstörungen in allen Städten der West Bank, von Hebron bis Jenin und Nablus, die ich im »Zentrum für architektonische Konservation« in Ramallah sehe, ähneln denen, die man in diesen Tagen bei Al-Djasira und anderen arabischen TV-Sendern aus Gaza sieht. Aus westlichen Medien erfuhr man 2002 davon so gut wie nichts.
Im uralten Hebron, einst ein bedeutendes, von Moslems und nur wenigen Christen bewohntes Handelszentrum, bietet der große Basar, der zur Moschee führt, ein schockierendes Bild. Er liegt heute brach, durch Drahtverhau weitgehend gesperrt. An der Hauptstraße des Basars haben fanatische Siedler eine Reihe von Häusern besetzt, aus denen man die Bewohner brutal vertrieben hat. Erst vor wenigen Wochen, im Dezember 2008, wurden das Haus von Nidal Awewi, oberhalb des Gemüsemarkts, von Siedlern aus den besetzten Nebenhäusern in Brand gesteckt, die Wasserbehälter vom Dach brachen ein, und man versuchte, die Familie zu evakuieren, doch noch hält sie in der Ruine aus. Junge israelische Soldaten patrouillieren in der Straße bis zur berühmten Moschee, die die Gebeine des Urvaters Abraham sowie Sarahs, Itzaks und Rebeccas in mächtigen Schreinen birgt. Seit 1967 haben israelische Besatzer Wand an Wand mit Abrahams Schrein jüdische Gebetsräume eingerichtet und kontrollieren inzwischen den ganzen Komplex militärisch. Moslems wird der Zugang durch strengste Kontrollen erschwert, an jüdischen Feiertagen haben sie gar keinen Zugang. Wir sind die einzigen Besucher, es kommen kaum noch Touristen in die Gegend seit jenem Massaker, das der Siedler Baruch Goldberg am 25. Februar 1994, mitten im heiligen Ramadan, angerichtet hat, als er das Feuer auf die Betenden im großen Raum der Moschee richtete und 29 Männer auf der Stelle erschoß, weitere erlagen später ihren Verletzungen.
Die Palästinenser leben hier in »ihren Gebieten« de facto in einem rechtlosen Raum. Seit Beginn der zionistischen Besiedlung (vor allem seit Ende des Ersten Weltkriegs im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina) hatten die Siedler sie in die arabischen Nachbarstaaten abschieben wollen. »Ich bin für Zwangsumsiedlung, darin sehe ich nichts Unmoralisches«, sagte David Ben Gurion 1938 und »So etwas wie ein Palästinenservolk gibt es nicht, hat nie existiert«, befand Golda Meir 1969 (beide zitiert nach Ilan Pappe: »Die ethnische Säuberung Palästinas«, Frankfurt am Main 2007). Nach der gewaltsamen Vertreibung von 750.000 Palästinensern aus ihren Häusern und Städten 1947/48 fanden viele als Flüchtlinge bei ihren Nachbarn Aufnahme, die palästinensische Diaspora begann, und die Ärmsten der Armen leben noch heute in Flüchtlingslagern, zum Beispiel im Gaza-Streifen. Weit verstreut sind sie und ihre Nachkommen zwischen Israel und Ostjerusalem (1,5 Millionen), Gaza und West Bank (je 1,5 Millionen) sowie weltweit in der Diaspora (etwa 3,5 Millionen). Diese als Katastrophe (arabisch: nakba) erlebte Massenerfahrung fand bisher keinen Eingang in unser westliches Bewußtsein, denn sie wird von Israel negiert oder verdrängt und höchstens als »Verteidigungsmaßnahme« dargestellt wie heute die Verwüstung Gazas als angebliche Reaktion auf die Qassam-Raketen der Hamas. Die Mitverantwortung des Westens für die Eskalation der Gewalt ist immens. Darin liegt der Kern des Problems, aber auch der Schlüssel für seine Lösung: Die USA und Europa müssen ein gleichberechtigtes Leben beider »Völker« auf diesem kleinen Fleck Erde zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan garantieren.
Kurz vor meiner Ankunft im Lande schlugen die ersten israelischen Bomben aus der Luft im dichtbevölkerten Gazastreifen ein und töteten in wenigen Tagen mehrere Hunderte Frauen, Männer und Kinder. Das Gebiet war bereits seit 18 Monaten von der Außenwelt abgeschlossen, der Zutritt auch für Ausländer gesperrt, israelisches Militär überwachte ein striktes Embargo; internationale Organisationen hatten bereits einen Notstand gemeldet, der Menschenleben und Menschenwürde gefährde.
Bilder der israelischen Terrorangriffe (von Krieg zu sprechen, scheint mir fragwürdig, denn es gibt keine gegnerische Militärmacht) werden zwar in den westlichen Medien weitgehend ausgeblendet oder auf eine Stufe mit den Qassam-Anschlägen der Hamas gestellt, aber die Unverhältnismäßigkeit der Angriffe ist augenfällig (das Verhältnis der Toten beider Seiten ist krasser als 100:1). Während arabische TV-Stationen wie Al-Djasira mit über 70 Reportern ganztägig live aus Gaza übertragen und sich die blutigen Bilder der Bombeneinschläge in die Köpfe und Herzen der Menschen einprägen, wiederholen europäische Sender nur die israelische Version von der »notwendigen Verteidigungsmaßnahme gegen Hamas«. Die derzeitige Beugung des israelischen Presserechts durch Ausschluß internationaler Berichterstatter bezeichnet Gideon Levy, Kommentator der Zeitung Haaretz, als »kriminell«. Es gebe »keine humanitäre Notlage in Gaza«, ließ Außenministerin Tzipi Livni die Weltöffentlichkeit nach dem ersten Panzereinsätzen wissen, im übrigen versuchten die Israelis »zu helfen, wo man könne« – eine Behauptung, die angesichts der katastrophalen Realität sich selbst kommentiert.
Die Menschen in meiner Umgebung in Ramallah verfolgen die traumatischen Ereignisse im nahen Gazastreifen mit stiller Verzweiflung und dennoch erstaunlicher Gefaßtheit: »Das haben wir alles schon erlebt«, antworten sie auf mein Erstaunen über die TV-Bilder, »die Mächtigen dieser Welt unternehmen nichts gegen die von ihnen aufgebaute viertgrößte Militärmacht der Welt«, deren Angriffe aus der Luft, zur See und auf der Erde vor allem eine wehrlose Zivilbevölkerung treffen, die zu 47 Prozent aus Minderjährigen besteht und zu den Ärmsten der Welt gehört. Die Telefone laufen heiß bis in die Nacht, noch erreicht man Freunde und Verwandte, oftmals auch nicht.
Die Hamas in Gaza, von Israel vordem als Opposition zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) durchaus geschätzt, dient nun als Vorwand, um den Sieg der Ideologie des clash of civilizations herbeizubomben. Jetzt werden die Hamas-Vertreter, wie vordem die der PLO, als Terroristen bezeichnet, mit denen Israel nicht verhandeln könne, das heißt nicht verhandeln will, um die Palästinenser doch noch so weit wie möglich ausgrenzen zu können.
Die mit dem Scheitern des Oslo-Prozesses und zuletzt seit Arafats Tod fortschreitende politische Schwächung der säkularen Parteien in der PLO zugunsten der religiös-fundamentalistischen Hamas-Bewegung stellt eine Hürde dar, die die auch territorial zersplitterten Palästinenser überwinden müssen. Darauf setzt ein gestandener Politiker des linken Spektrums der PLO wie Saleh Ra’fah, Generalsekretär der Demokratischen Front (FIDA), der als Pragmatiker an der Zwei-Staaten-Lösung festhält, die durch alle bisherigen UNO-Beschlüsse seit 1947 gestützt ist und trotz bisheriger Widerstände erst einmal realisiert werden muß. Er hofft, daß die Großmächte unter ägyptischer Vermittlung jetzt auf eine solche Lösung dringen und daß die PLO mit den Pragmatikern in der keineswegs homogenen Hamas eine gemeinsame Übergangsregierung in den »autonomen Gebieten« für die Zeit bis zur Neuwahl (spätestens 2010) bilden kann. Ob sich eine solche Vernunft gegenüber dem religiös geprägten Fundamentalismus der Hamas durchsetzen kann, ist offen – und leider sind es zionistisch geprägte Hardliner, die in Israel das Sagen haben. Israel wird sich entscheiden müssen, ob es sich weiterhin als Militärstaat auf die langfristig nachlassende US-Dominanz stützen will und kann oder einen eigenen, von seinen Nachbarn geachteten Platz im Nahen Osten einnehmen will. Dazu bedarf es eines radikalen Umdenkens – nicht nur in Israel.
(Im nächsten Heft folgt ein Brief aus Jerusalem)
Erschienen in Ossietzky 2/2009
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