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Berliner Theaterspaziergänge
Jochanan Trilse-Finkelstein
Im Deutschen Theater in der Schumannstraße – in dem jetzt die Bauarbeiter Regie führen – hat sich ein maßvolles Verhältnis von klassischem Repertoire und Moderne gehalten, das will ich respektieren. Doch das Zeitgenössische, das ich hier zu sehen bekam, stürzte mich in tiefes Befremden. Simon Stephens erzählt in »Pornographie« Geschichten aus der Londoner U-Bahn, unter anderem von Bombenlegern und deren Problemen, Herausforderungen, Lösungsversuchen. Aber das ergibt kein Stück. Auch die besten Schauspieler wie Michael Schweighöfer oder Alexander Khuon können damit nichts anfangen, und der Regisseur kann ihnen nicht helfen. Abgesehen davon, daß man sich nach dem Sinn des Titels fragt, entdeckte ich auch in den Vorgängen keinen Sinn. Theater sah ich jedenfalls nicht, hörte Gerede …
Ein Glück, daß es Klassiker gibt. Von ihnen allein kann ganz gewiß kein Theater der Welt auf Dauer leben. Aber wenn nichts anderes da ist?
Eigentlich hatte ich mich auf Henrik Ibsens »Wildente« gefreut: ein erstklassiges Stück, mit dem Regisseure und Schauspieler herausragendes Theater gemacht haben. Aber im DT gibt es einen Inszenator mit Begabung zu Zerkleinern großer Dramen. Er erzählt immer nur halbe Geschichten, so daß man gar nicht recht weiß, worum es eigentlich in dem Stück geht, wenn man es nicht schon vorher kennt. Im Normalfall – ich erinnere da an die Inszenierung von Peter Zadek – dauert die »Wildente« drei Stunden, mitunter länger. Hier fing man um 19.33 Uhr an und endete um 21.00 Uhr. Dazwischen stürzt sich Hedwig Ekdahl, also die Wildente, zu Tode. Warum wohl? Lesen Sie bitte nach bei Ibsen oder in guten Schauspielführern. Das im DT Vorgeführte könnte man eine Readers-Digest-Fassung für GI’s nennen. Mindestens zwei gute Schauspieler taten mir sehr leid: die anmutige Henrike Joerissen als Hedwig und der bewährte Horst Lewinski als Ekdal. Warum mußten sie so etwas tun – wollten sie alle früher nach Hause? Übrigens: Der Regisseur heißt Michael Thalheimer.
Erfreulicher war Stefan Kaminski, der Richard Wagners »Ring des Nibelungen« in Form von Live-Hörspielen vorführte. Mit seiner äußerst variablen Stimme breitete Kaminski die verwickelten Handlungen des musikalischen Riesenepos aus – ohne den sonst bei Wagner benötigten riesigen Theater- und Musikapparat, nur begleitet von Tuba, Cello und Windmaschine. Er parodierte auf seine Weise die Gestalten und Geschichten, nahm aber zugleich die Figuren ernst und erzielte damit Wirkung, änderte aber gewiß nichts daran, daß Wagners Werke weiterhin auf großer Bühne und mit großem Orchester inszeniert, gespielt und gesungen werden.
Das gleiche Ensemble brachte Shakespeares »Was ihr wollt« auf Bühne und Bildschirm, wiederum von Thalheimer inszeniert. Irgendeinen Clou muß es bei ihm immer geben; diesmal lag er darin, daß alle Rollen, auch die der Frauen, mit Männern besetzt wurden. Immerhin war das Stück noch erkennbar, die Aufführung halbwegs lustig, aber grob. Der Gewinn einer solchen Besetzung blieb mir schleierhaft. Bedarf es heute noch irgendwelcher Provokationen, um irgendwen für rechtliche und moralische Gleichstellung der Homosexuellen zu begeistern? Mich stimmte eine der schönsten Komödien der Weltdramatik mißmutig.
Die Volksbühne versucht, nach ihrem kuriosen Erfolg mit Richard Wagners »Meistersingern« die Opernserie weiterzuführen. Diesmal stand Puccinis »Tosca« auf dem Programm, von Sebastian Baumgarten inszeniert. Das Thema: Künstlertum und die Pathologie des Künstlerseins. Sänger sind nicht dabei; Schauspieler spielen das Singen, begleitet vom Filmorchester Babelsberg, auch einer modernen Band. Es wirkt wie eine Collage von allem Möglichen; einen gewissen Spaß macht das, zumal eine so vorzügliche Schauspielerin wie Kathrin Angerer eine Theaterdiva hohen Ranges vorführt. Soll hier das Prinzip Diva in Frage gestellt oder gar verhöhnt werden? Soll uns inneres Gerangel des Ensembles interessieren? Letztlich geben Parodien dieser Art, und seien sie noch so hoch stilisiert, wenig her.
Auch eine Uraufführung fand statt: »Das Lebende und das Geschlachtete« von David Lindemann. Das Unternehmen ist so schlecht, daß man darüber keine Worte verlieren sollte. Warum dann doch? Es geht um die Erschießung von 180 jüdischen Zwangsarbeitern in einem Dorf in der Nähe von Wien gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, während die deutsche Ostfront zusammenbricht. An den Morden waren Vertreter des Hochadels, der Familie Thyssen und führende hohe Offiziere der SS, der Gestapo und anderer NS-Organisationen beteiligt. Sie feierten ein Fest, das nach dem Massaker weiterging. Die Täter wurden nie gefasst, noch zur Verantwortung gezogen. Ein schwerer Stoff, der durch peinliche Fehlgriffe verschenkt wurde: Fast sämtliche miesen Gags des Regisseurtheaters wurden auf die Bühne geschleudert, um die schlechte Vorlage aufzumotzen – ein Grauen. Regisseur Sebastian Mauksch sollte vor Stoffen dieser Größenordnung mehr Ehrfurcht aufbringen.
In ähnliche Bereiche führt die Uraufführung »Epstein Epitaph« von Lothar Trolle. Die begrüßenswerte Absicht dieses Textes ist es, die Horst-Wessel-Legende abzuräumen. 1930 wurde in Berlin-Mitte, etwa wo heute das Kino »International« steht, der Nazifunktionär Wessel erschossen. Die Nazis rächten sich auf ihre Weise: in diesem Falle nicht mit Straßenschießereien, sondern mit Prozessen, in denen das Urteil von vornherein feststand. Beschuldigt, verurteilt und 1935 hingerichtet wurde der junge Jude Saly Epstein. Mark Otiger montierte die Texte von Lothar Trolle mit historischen und zeitgenössischen Dokumenten und Liedern. Hier spürte ich den angemessenen Ernst im Umgang mit solchen geschichtlichen Vorgängen, das Bemühen um Recht und Gerechtigkeit sowie künstlerische Ehrlichkeit.
Zur Zeit faustet es sehr auf Berliner Bühnen. Doch eine ernste Auseinandersetzung mit dem deutschen Nationalgedicht kann ich nirgendwo feststellen. In der Volksbühne gibt es ein Spektakel unter dem Titel »FaustFaustFaust, ein Klassiktrip«, für das Maurici Farré verantwortlich zeichnet. Hinter vorgehaltener Hand hört man, daß Intendant Castorf selbst sich mit diesem Spektakel mit Musik beschäftigt, es dann aber zugunsten einer anderen Produktion einigen seiner Mitarbeiter überlassen habe. Es lohnt nicht. Schade um die Zeit!
Mit größerem Anspruch auf den gleichen Stoff tritt die Schauspielerin Silvia Rieger auf; sie hat sich gleich »Faust II« vorgenommen. Im Vorankündigungsblatt der Volksbühne stand das stolze Wort »inszeniert«. Eine Inszenierung, meinetwegen Regie, ist hier nicht zu erkennen. Trotz einer Berufung auf Theodor W. Adorno zum Thema »Die Metaphysik des Faust«, trotz eines Abdrucks eines Textes übers Radio von Brecht, trotz exklusiven Geredes über spezifische Subjektivität in einem historischen und kulturellen Kontext kann ich hier nichts anderes als einen höchst verantwortungslosen Umgang mit einer Dichtung von Weltrang erkennen, die freilich als Theaterstück sämtliche Gattungsgrenzen sprengt und sich schwer auf die Bühne bringen lässt, zumal eine Philosophie über Mensch und Gesellschaft sowie über den höchst komplizierten Fortschrittsgedanken ins szenische Bild zu setzen ist. Rieger hat sich hier übernommen. Ihr Versuch ist nicht einmal als Gesprächsangebot ernst zu nehmen. Beachtlich allein Michael Klobes Leistung als Sprecher.
Meine Hoffnungen auf einen befriedigenden Ausgang dieser monatelangen Spaziergänge lagen nun im Berliner Ensemble – das nur mal kurz verreist war: mit Brechts »Mutter Courage und ihre Kinder« (Inszenierung Claus Peymann) zu einem Theaterfestival in Teheran. Das Gastspiel wurde dort beargwöhnt und behindert; die Behörden beschlagnahmten sogar Requisiten, unter anderem Theaterwaffen, es gab böse Briefe, öffentliche Morddrohungen und Ähnliches mehr. Muslimischen Klerikern mißfiel ein Kunstwerk europäischer Aufklärung. Das Ensemble hielt sich tapfer und wehrte sich mit Brechtischer List. Die Theatergruppe »Rimini Protokoll« nahm die Vorgänge in ihre Vorstellung »Peymann-Beschimpfung« auf, in der Peymann solche Briefe und Erklärungen mit gewohnter Freude an aufklärerischem Streit vorliest.
Nun aber noch einmal zu Faust. Im BE heißt die Veranstaltung »Gretchens Faust«, und wieder war ein bekannter Schauspieler der Urheber: Martin Wuttke. Der geniale Darsteller inszeniert etwas, um sich zur Wirkung zu bringen. Das geht nicht ohne Denunziation von Figur und Stück. Der Text ist maßlos zusammengestrichen, so daß sich auch hier kaum noch ein Sinn ergibt. Das Verständnis wird dadurch erschwert, daß Wuttke ständig durch das Foyer hastet und man oft die Texte gar nicht versteht. Die Sätze werden nur so hervorgestoßen. Das dialogische Prinzip wird lediglich durch einen neunköpfigen Frauenchor erhalten, der die Figur des Gretchens vervielfachen soll. Nun leidet »Faust I« tatsächlich am dramaturgischen Übergewicht der Gretchenhandlung; Balance stellt sich erst mit dem zweiten Teil her, dann erst wird »Faust« ein deutsches Weltendrama. Doch in dieser Klein-Klein-Ausgabe atmet alles Sangerhäuser Provinzialismus; es ist makaber, wie Goethes Hauptwerk auf das Niveau von Einar Schleef gebracht wird.
Immerhin kann ergänzt werden, daß man der historischen Entwicklung des Faust-Stoffes Genüge getan hat: Manfred Karge hat den frühen Faust des britischen Dramatikers Marlowe, die erste dramatische Bearbeitung überhaupt, inszeniert und den Ausbruch aus der magischen Gedankenwelt in den schweren Fortschritt der Aufklärung deutlich gemacht.
Ein Glück, daß der große weite Weltatem von George Tabori noch in diesem Hause lebt. Fast zu einer Sternstunde wurden Taboris »Goldberg-Variationen«, diesmal inszeniert von Thomas Langhoff. Den Mister Gay spielte Dieter Mann. Mister Gay ist eine Gottheit, ein Demiurg wie Goldberg, sein faustischer Assistent. Philosophische, theologische und ästhetisch-theatralische Ebenen verschmelzen auf schönste Weise, ergeben Komik auf höchster Ebene, eine Komik über Entstehung, Erhaltung und Gefährdung dieser Welt, in der wir leben. Hier bedeuten die Bretter der Bühne wirklich mal wieder die Welt in aller Größe und allem Leid, allem Elend und allem Glanz. Ich hatte das Glück, 1991 die Uraufführung im Wiener Akademie-Theater von Tabori selbst inszeniert zu sehen, mit dem wunderbaren Schauspieler-Duo Gerd Voss und Ignaz Kirchner. Ich meinte, daß die Darstellung von Voss niemals mehr zu übertreffen oder auch nur erreichen wäre. Ich habe mich freudig getäuscht. Auch Dieter Mann ist als Mister Gay ein Schöpfer von außerordentlichem Humor und sein Gegenspieler … auch.
Was hat also das vergangene Theaterjahr gebracht? Wirklich Neues kaum, aber einiges Gutes doch. Manches ging arg daneben oder kehrte sich in ein menschenverachtendes Gegenteil um. Peter Hacks schrieb einmal. »Kunst lebt von den Fehlern der Welt.« Gewiß doch. Aber wenn die Kunst so viele Fehler hat, wovon lebt dann die Welt?
Erschienen in Ossietzky 1/2009
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