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Muß die Rente unsicher sein?
Dietrich Antelmann
Als Geburtsstunde der deutschen Sozialversicherung gilt eine Kaiserliche Botschaft, verkündet vom damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck am 17. November 1881. Darin wurde der Reichstag aufgefordert, Gesetze zum Schutz der Arbeiter bei Krankheit, Unfall, Invalidität und im Alter zu beschließen. Mit der »Heilung sozialer Schäden« sollten weitergehenden Bestrebungen einer erstarkten Arbeiterbewegung, insbesondere sozialdemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer Art, der Boden entzogen werden. Denn das drei Jahre zuvor erlassene und unter der Bezeichnung Sozialistengesetz in die Geschichte eingegangene Reichsgesetz »Gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« hatte nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Für die Sozialdemokratie galten weiterhin die Beschlüsse des Gothaer Parteikongresses aus dem Jahre 1875, der proklamiert hatte, Arbeit sei die Quelle allen Reichtums und aller Kultur, und da nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich sei, gehöre dieser »das gesamte Arbeitsprodukt«.
Der Reichstag tat, was der Kaiser gefordert hatte. Nach Einführung der Krankenversicherung 1884 und der Unfallversicherung 1885 wurde 1889 das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz verabschiedet. Es trat am 1. Januar 1891 in Kraft. Geschaffen wurde eine Versicherung auf der Grundlage von Gegenseitigkeit und Selbstverwaltung unter staatlicher Aufsicht. Sie erfaßte alle Arbeiter ab dem 16. Lebensjahr und die Angestellten mit einem Jahreseinkommen bis zu 2000 Mark. Finanziert wurde sie zu zwei Dritteln aus den angesparten Beiträgen und zu einem Drittel durch einen Reichszuschuß aus Steuermitteln. Wenn man bedenkt, daß der in der Rente enthaltene Reichszuschuß nur 50 Reichsmark jährlich betrug und der Beitragssatz, der je zur Hälfte von den Arbeitgebern und Arbeiternehmern zu tragen war, lediglich 1,7 Prozent des Lohns ausmachte, kann man sich vorstellen, wie niedrig damals die Renten waren. Sie hatten die Funktion eines Zuschusses zum Lebensunterhalt. Altersrenten wurden ab Vollendung des 70. Lebensjahres gezahlt.
Mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 wurden die Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungen formal zusammengefaßt. Gleichzeitig wurde die Hinterbliebenenversorgung für Witwen und Waisen eingeführt. Im selben Jahr erhielten die Angestellten durch das Versicherungsgesetz für Angestellte eine eigenständige Altersversicherung. 1916 wurde das Rentenalter von 70 auf 65 Jahre abgesenkt.
Die erste Bewährungsprobe für dieses System war die Inflation von 1921 bis 1923. Während sich private Lebensversicherungen in Luft auflösten, behielten die bis 1921 eingezahlten Rentenbeiträge ihren Wert – bis die Brüningsche Notverordnung vom 14. Juni 1932 die Renten vorübergehend reduzierte. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise hatte sich die Arbeitslosigkeit bis zum Sommer 1930 auf 3,1 Millionen offiziell Gemeldeter erhöht. Die Löhne sanken. Der Sozialhaushalt wurde drastisch zusammengestrichen. Bankrotte Bankhäuser wurden aus Steuermitteln saniert. Weitere Sparmaßnahmen bei der Sozialversicherung ließen sich im Parlament nicht durchsetzen. Unter dem Druck der Gewerkschaften verweigerten die Abgeordneten der SPD ihre Zustimmung. Kurzerhand schränkte der damalige Reichskanzler Brüning von der Zentrumspartei mit Hilfe des Ausnahmeparagraphen 48 der Weimarer Verfassung die Rechte des Parlaments ein und stützte sich mehr und mehr auf Notverordnungen. Nun war der Weg frei, auch die Renten zu senken. Das geschah durch Kürzungen in den beitragsunabhängigen Teilen der Rente. Verringert wurden Reichszuschuß, Grundbetrag und Kinderzuschuß.
In dieser Situation kam mit Hilfe des Kapitals Hitler an die Macht. Das Sozialversicherungssystem wurde im NS-Staat dahingehend modifiziert, daß Juden und andere Verfolgte aus der sozialen Sicherung ausgeschlossen wurden. Ausgeschlossen blieben auch Millionen von Zwangsarbeitern.
Nach dem Krieg wurde mit einigen Leistungseinschränkungen die traditionelle Sozialversicherung in den Westzonen weitergeführt. In der Ostzone rief der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) eine Einheitsversicherung ins Leben, die vorrangig auf eine Grundsicherung ausgerichtet war. Groß-Berlin nahm eine Sonderstellung ein. Es wurde von den vier Siegermächten gemeinsam verwaltet. Das Problem, trotz leerer Kassen die Menschen in den Wechselfällen des Lebens zu versorgen, wurde mit der am 1. Juli 1945 gegründeten Versicherungsanstalt Berlin (VAB) gelöst. Zur Beitragsleistung zog man die gesamte erwerbstätige Bevölkerung heran, also neben abhängig Beschäftigten auch die Gewerbetreibenden und sonstigen Selbständigen wie Ärzte und Rechtsanwälte. Neu war die Zahlung von Hinterbliebenenrenten an nicht verheiratete Lebenspartner.
Am 20. Juni 1948 führten die Westmächte einseitig in den von ihnen verwalteten Besatzungszonen eine Währungsreform durch. Dabei wurde die Reichsmark im Verhältnis 1:10 abgewertet. Einzig die Renten der gesetzlichen Sozialversicherung wurden im Verhältnis 1:1 umgestellt. Im Gegensatz zur privaten Lebensversicherung behielten sie, wie auch nach der Inflation 1923, ihren Wert.
Die Währungsreform spaltete Groß-Berlin in Westberlin und Ostberlin. Allein auf sich gestellt war Westberlin nicht mehr lebensfähig. Hilfe kam aus den Westzonen. Nach der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 war mit dieser Hilfe die Übernahme der bundesrepublikanischen Gesetze verbunden. Zugunsten der in der Bundesrepublik weiter geltenden Reichsversicherungsordnung musste die VAB aufgelöst werden.
Als es in der Bundesrepublik wirtschaftlich bergauf ging, profitierten davon auch die Rentner. Die Systemauseinandersetzung mit dem Sowjetblock trug dazu bei, daß in den 50er und 60er Jahren weitreichende soziale Innovationen mehrheitsfähig wurden. Die Gewerkschaften traten für die 40-Stunden-Woche und das arbeitsfreie Wochenende ein. Höheren Unternehmensumsätzen folgten höhere Löhne und Gehälter. In der Sozialversicherung gelang mit der Rentenreform von 1957 der große Wurf. Wegbereitende Neuerungen waren die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten, die lohnbezogene Rentenformel, wonach sich die Rente am Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer orientiert, sowie die Finanzierung der Rente im Umlageverfahren aus dem Ertrag der laufenden Lohnarbeit. Mit dieser Reform stiegen die Renten durchschnittlich um zwei Drittel an und erhielten erstmals Lohnersatzfunktion. Wer mit 15 Jahren zu arbeiten begonnen hatte (die anfängliche Grenze von 16 Jahren war aufgehoben) und mit 65 Jahren in Rente ging, hatte sich mit 50 Versicherungsjahren eine Rente von 75 Prozent seines Bruttolohnes erworben. Das entsprach ungefähr seinem Nettolohn.
Mit der neu eingeführten und bis heute praktizierten Umlagefinanzierung werden die Aufwendungen nicht mehr aus den Rücklagen der jeweiligen Rentner, sondern aus den laufenden Beitragseinnahmen bestritten. Dazu kommt noch ein Zuschuß des Bundes aus Steuermitteln. Er garantiert die Rentenleistung bei fehlender Deckung und ist nötig, weil in der Rente auch beitragslose Zeiten (wie Kindererziehungs-, Krankheits-, Arbeitslosigkeits- und Ausbildungszeiten) bewertet werden.
Nach dem Grundgedanken der Reform von 1957 soll die im Erwerbsleben stehende Generation für die Renten ihrer Elterngeneration aufkommen. Erreicht die arbeitende Generation das Rentenalter, soll auch sie ihre Ansprüche der nachfolgenden Generation gegenüber geltend machen können, so daß Beschäftigte und Rentner gleichermaßen am erwirtschafteten Reichtum und am Produktivitätsfortschritt teilhaben. Das sind Voraussetzungen, die selbst bei einer ungünstigen demographischen Entwicklung für die Zukunft solide Renten gewährleisten würden, wenn man sich daran hielte.
Wie kam es zur Aushöhlung dieses sicheren Rentensystems? Bis zum Anschluß der DDR an die Bundesrepublik hatten es die Gewerkschaften geschafft, einen Teil des erzielten Produktivitätsfortschritts den Arbeitnehmern in Form von tariflichen Arbeitszeitverkürzungen zugute kommen zu lassen. Damit dämmten sie auch die Arbeitslosigkeit ein. Mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz veränderten sich die Verhältnisse von Grund auf. Langfristiges und volkswirtschaftlich sinnvolles Handeln war nicht mehr gefragt. Schneller betriebswirtschaftlicher Gewinn ist seither die alles bestimmende Maxime.
Euphorisch verständigten sich im März 2000 die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten im Rahmen des EU-Gipfeltreffens in Lissabon darauf, bis 2010 die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt auszubauen. Politiker und hohe Gewerkschaftsfunktionäre, die auf diesen Zug aufsprangen, wurden mit Spenden, üppigen Beraterverträgen sowie mit Vorstands-, Beirats- oder Kuratoriumsposten fürstlich belohnt. Deregulieren, Flexibilisieren und Privatisieren waren nun die Hauptaufgaben der Politik, Probleme der sozialen Ungleichheit und der Massenarbeitslosigkeit gerieten in den Hintergrund.
Aus Angst, arbeitslos zu werden, lassen sich viele Beschäftigte bei Krankheit nicht mehr arbeitsunfähig schreiben, überschreiten die tariflich vereinbarte Arbeitszeit mit zum Teil unbezahlten Überstunden, nehmen sinkende, stagnierende oder nur geringfügig erhöhte, hinter der Inflationsrate zurückbleibende Löhne hin und lassen sich in prekäre Beschäftigungsverhältnisse pressen. Arbeitssuchende nehmen unbezahlte Praktikantenstellen in der Hoffnung an, später eine bezahlte Arbeit zu bekommen. Sozialversicherungspflichtige Vollbeschäftigungsverhältnisse nehmen rapide ab. Die zur Finanzierung der Renten nötigen Beitragseinnahmen sinken. Rücklagen der Rentenversicherung schmelzen ab. Der Bundeszuschuss muß erhöht werden. Steuergeschenke für Unternehmer und Subventionen für einzelne Wirtschaftsbereiche wie die Atomindustrie verarmen den Staat. Gewinnbringende Staatsbetriebe wie Energieerzeuger, Telekommunikation, Post und Wasserwerke werden privatisiert und teilweise an die Börse gebracht. Nach einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) sind durch den Ausverkauf öffentlichen Eigentums seit Anfang der 90er Jahre mindestens 600.000 Arbeitsplätze abgebaut worden. Erhebliche Mehrausgaben entstehen durch den Ausbau des Polizei- Militär- und Geheimdienstapparates. Allein der Kriegseinsatz in Afghanistan hat bisher über 10 Milliarden Euro gekostet. Der zweitgrößte Haushaltsposten ist mit 31 Milliarden Euro der Militäretat. Der Haushaltsausgleich erfolgt durch Einsparungen im Gesundheits-, Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich.
Als die vom Arbeitgeber und vom Arbeitnehmer gemeinsam zu tragenden Rentenbeiträge von 14 Prozent auf 18,7 Prozent stiegen, stand die Politik vor der Entscheidung: Stabile Renten oder stabile Beiträge? Sie entschied sich für stabile Beiträge und setzte damit die errungene Lebensstandard-Sicherung aufs Spiel.
Damit die Bevölkerung das nicht merkt, wurden zur Demontage der öffentlichen Rentenversicherung die gleichen Begriffe verwandt wie zu ihrem Aufbau. So heißt das erste Gesetz, das die Renten nicht mehr an den Brutto-, sondern den Nettolöhnen orientiert und die Anrechnung von Ausbildungszeiten von maximal dreizehn auf maximal sieben Jahre verkürzte, »Rentenreformgesetz 1992«. Mit diesem Gesetz wurde das gesamte Rentenrecht neu geregelt und als Sechstes Buch in das Sozialgesetzbuch (SGB VI) eingestellt. Die seit 1911 geltende Reichsversicherungsordnung wurde damit gegenstandslos. 1996 wurde mit dem »Wachstums- und Beschäftigungssicherungsgesetz« die Anrechnung der Ausbildungszeiten auf nunmehr maximal drei Jahre reduziert. Rehabilitationsleistungen wurden eingeschränkt. Dadurch fielen Tausende sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse im Pflegebereich weg. Reha-Kliniken mußten geschlossen werden. Kurorte verödeten.
An orwellsche Sprachregelung erinnert schließlich das vom früheren Minister für Arbeit und Soziales und zuvor stellvertretenden Vorsitzenden der IG Metall, Walter Riester, entwickelte Altersvermögensgesetz (AVmG) vom 29. Juni 2001. Es schreibt die Minderung der Rentenanhebung in acht Folgejahren um jeweils 0,65 Prozent vor und sichert den Arbeitgebern eine Beitragsstabilität bis zum Jahr 2030 zu. Ihr Beitragsanteil zur gesetzlichen Rentenversicherung wird eingefroren und soll nicht über elf Prozent steigen. Die entstehende Versorgungslücke im Alter soll durch eine zunächst noch freiwillige, staatlich geförderte private Vorsorge geschlossen werden.
Die vom Versicherten nunmehr allein zu tragenden Beiträge stiegen inzwischen alle zwei Jahre von einem Prozent des rentenversicherungspflichtigen Bruttoeinkommens im Jahr 2002 bis auf vier Prozent im Jahr 2008. In die als »Riester-Rente« bezeichnete Vorsorge fallen Einzahlungen in Pensionsfonds, Pensionskassen oder Direktversicherungen – frisches Spielgeld für das Finanzkapital, das es unter anderem dazu verwendet, solide Unternehmen aufzukaufen, zu »restrukturieren« und mit hohem Gewinn an einen »strategischen Partner« weiterzuverkaufen. Dabei wird Personal ausgedünnt und entlassen, Betriebsrenten werden gekündigt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Berliner Rede des früheren US-Notenbankchefs Alan Greenspan Mitte Januar 2004, in der er zur Abwendung des sich schon damals abzeichnenden US-Finanzkollaps empfahl, die europäischen nationalen Rentenkassen in private Fonds umzuwandeln, die ihre Gelder dann in den USA anlegen könnten.
Jeder Beitrag, den ein Versicherter zur privaten Vorsorge leistet, kann so ein Beitrag zum Abbau seines Arbeitsplatzes sein. Zudem werden die Versicherten um den bisher in ihrem Lohn enthaltenen Arbeitgeberanteil gebracht. Zur Rechtfertigung dieses einschneidenden Gesetzes nannte die Regierung die demografische Entwicklung und die Übernahme der Zahlungen an sechs Millionen DDR-Rentner – Gründe, die sachlich nicht haltbar und in früheren Ossietzky-Artikeln widerlegt worden sind. Die wirklichen Gründe für die schwache Finanzdecke der Rentenversicherung sind: skandalöse Massenarbeitslosigkeit und zu niedrige Löhne. Aber diese Ursachen werden in den Reden der regierenden Politiker wie auch in den Kommentaren der Konzernmedien ausgeblendet und billigend in Kauf genommen. (Der Beitrag wird im nächsten Heft fortgesetzt.)
Erschienen in Ossietzky 1/2009
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