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Die Flamme weitergetragen - Kontinuitätslinien linkssozialistischer Theorie und Praxis in dürftiger Zeit

Rezension zu: Gregor Kritidis, Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer - Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

von Stefan Janson

Nach den Bänden "Die Linke im Rechtsstaat", die 1976 und 1979 im Wagenbach-Verlag erschienen und längst vergriffen sind, ist ein Kompendium entstanden, das einer breiteren kritischen Öffentlichkeit zugänglich ist. Kritidis zeichnet in seinem Buch präzise die organisatorischen, theoretischen und personellen Entwicklungen der sozialistischen Linken außerhalb des Mainstreams der beiden politischen Hauptströmungen der Arbeiterbewegung zwischen 1945 und 1962 nach. Der Autor zeigt darüber hinaus die personellen und gedanklichen Verflechtungen zur "68er-Bewegung" auf.

Wie umfassend Kritidis' Werk ist, zeigt schon die Dreiteilung seiner Arbeit: 1. Die sozialisitsche Linke in den Auseinandersetzungen um die Nachkriegsordnung (1945-1953), 2. Von der Bewegung gegen die Westintegration zum Godesberger Programm (1954-1959), 3. Von der Bewegung gegen die atomare Rüstung zur Spiegelkrise (1958-1962). Neben Ausschnitten aus der Geschichte der frühen Bundesrepublik wie die zentralen Konflikte um Mitbestimmung bzw. Wirtschaftsdemokratie, die Wiederaufrüstung und die Atomtodkampagne sowie die Notstandsgesetzgebungspläne des CDU-Staates, bietet Kritidis die Entwicklung etlicher linkssozialistischer Gruppen, zahlreiche biographische Skizzen über bedeutende Persönlichkeiten der Linken und eine kurze Geschichte des Niedergangs demokratischer Sktrukturen in Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Jeder einzelne Abschnitt macht Appetit auf weitere Lektüre und Forschung. In dieser Fülle neigt man aber dazu, den Faden zu verlieren, weil man so gerne den Lauf aller Fäden verfolgen möchte. Eine konzentrierte Darstellung einiger weniger Stränge wäre in der Gesamtschau übersichtlicher und besser.

Im Kern geht es in der ursprünglich als Dissertation an der Leibniz-Universität Hannover angenommenen Arbeit darum, dass die Möglichkeit zu einer anderen politischen Entwicklung der Republik bestand. Diese Alternativen wurden insbesondere von den kleinen, minoritären sozialistischen Strömungen und Gruppen außerhalb der beiden Hauptflügel der deutschen Arbeiterbewegung aufgezeigt. Dabei werden die ökonomischen., sozialen und politischen Rahmenbedingungen dargestellt, unter denen sich diese kleinen Kerne sozialistischer Aktivistinnen und Aktivisten - zum Teil in einer Art Halblegalität unter den repressiven Bedingungen der Adenauer-Ära und der antikommunistischen Hysterie auch in SPD und DGB - über Wasser hielten. Kritidis stellt ihre Beteiligung an den politischen und gewerkschaftlichen Kämpfen ihrer Zeit dar und zeigt die Brüche und Niederlagen der freiheitlich-demokratischen Sozialisten auf. Er beschreibt Projekte, mit denen sie in immer dürftiger werdender Zeit ihre spezifischen Erfahrungen zu bewahren und an eine neue Generation von Sozialisten weiterzugeben suchten. Nach 1960 gelang dies mit einer unvermuteten Breitenwirkung und die Maulwurfarbeit der Linkssozialisten erzielte größere Wirkung, nachdem sich die SPD von ihrem Intellektuellenpool getrennt hatte. Ihre Arbeit wurde zum Ferment dessen, was heute unter dem Signum "1968" verstanden und beschrieben wird.

Diese 547 Seiten sind auch deshalb mit Genuss zu lesen, weil der Verfasser es versteht, seine Empathie für die Sache eines freiheitlichen und demokratischen Sozialismus in einer niveauvollen, aber immer auch flüssigen Sprache und Darstellungsweise zu vermitteln. Das Buch vermittelt so viele Einblicke, dass ich mich hier auf drei meines Erachtens besonders bedeutsame Aspekte bzw. Leistungen Kritidis beschränken will:

1) In einer Zeit, in der die Revolte von "1968" von verschiedenen Varianten des Renegatentums erneut "liquidiert" werden soll, ist es verdienstvoll, die organisatorischen, theoretischen und personellen Kontinuitäten zwischen den Ausläufern der in Faschismus und Stalinismus untergegangenen emanzipatorischen Strömungen der Arbeiterbewegung und den die Bewegung maßgeblich tragenden Organisationskerne in SDS und Gewerkschaften herauszuarbeiten. Weder war "1968" nur eine längst überfällige Modernisierungsbewegung einer im adenauerschen Restaurationsmief feststeckenden Gesellschaft noch waren die "68er" Wiedergänger der faschistischen Intelligenzija der 20er und 30er Jahre. Kritidis gelingt es, die Leistungen der Linkssozialisten für die sich formierende und verbreiternde Neue Linke um den SDS herauszuarbeiten.

2) Die Leistungsfähigkeit einer undogmatischen und deshalb marxistischen Analyse kann man am besten in der Auseinandersetzung Kritidis` mit der Analyse des Spätkapitalismus durch Erich Gerlach kennenlernen. Gerlach, der als Korsch-Schüler und undogmatischer Marxist das Potenzial der libertären Arbeiterbewegung und des antiautoritären Ansatzes der Anarchosyndikalisten und Rätekommunisten erkannt und theoretisch in seinen politischen Zusammenhängen vermittelt hat, war in seiner Praxis angesichts der Hegemonie der Sozialdemokratie in Westdeutschland und der abschreckenden Realität der bürokratisch-autoritären SED-Herrschaft im Osten darauf festgelegt, als westdeutscher Sozialdemokrat, Landtagsabgeordneter und Landrat in Northeim wirken zu müssen. Diese Praxis hinderte ihn nicht daran, in seiner Mitarbeit an der Zeitschrift "Sozialistische Politik" eine luzide und im besten Sinne marxistische, da kritisch reflektierte Analyse der neuesten Tendenzen im Kapitalismus vorzulegen.

Es ist das Verdienst von Kritidis, an Hand der Diskussion Gerlachs der "Automation und sozialen Transformation des Kapitalismus" Mitte der 50er Jahre eine - leider nur unzureichend genutzte - Möglichkeit für eine schöpferische Anwendung der Prinzipien Marxscher Kritik der politischen Ökonomie darzustellen und daraus die politischen Aufgaben der (damaligen) Arbeiterorganisationen abzuleiten. Er zeigt auf, wie es Gerlach gelingt, ein Alternativprogramm zum bloß affirmativen Verhältnis der Sozialdemokratie und Gewerkschaften zur Automation zu entwickeln. Dabei hat Gerlach einen erstaunlichen Weitblick bewiesen, wie sein Gespür für die Zukunft und Auswirkungen elektronischer Datenverarbeitung im Rahmen der Automationsentwicklung sowie der damit induzierten Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse zeigen. Kritidis entwickelt im Anschluss die von Gerlach aufgezeigte syndikalistische Alternative zur (bürgerlichen) Trennung von Ökonomie und Politik innerhalb der Arbeiterbewegung der II. und III. Internationale.

3) Eine interessante Parallele zu späteren Diskussionen findet sich in Teil 3, Kapitel 5 "Die Debatte um eine neue sozialistische Strategie" (S.515ff.). Hier geht es um die Orientierung der sich eben gerade entwickelnden selbstständigen sozialistischen Linken, nachdem mit Hilfe der stalinistischen Methoden Wehners in der SPD tabula rasa für eine Machtbeteiligung in Bonn gemacht worden war.

Gerlach hatte bereits Anfang der 50er Jahre der SPD allenfalls die Funktion einer Reformpartei wie den "Demokraten" in den USA beigemessen. Im SDS wurde dieser Faden von von der Vring aufgenommen, der von einem wie auch immer gearteten Entrismus abriet und statt dessen auf ein sozialistisches Netzwerk zur Organisation kollektiver Reflexionsprozesse hinauswollte. Dem trat Abendroth entgegen, der ebenso wie Brakemeier, der sozialistischen Intelligenz die bereits von Kautsky und dann mit realpolitischen Erfolg auch Lenin zugewiesene Aufgabe zuwies, der Arbeiterklasse - dann natürlich in den vorhandenen Organisationen der Arbeiter - zu ihrem Klassenbewusstsein zu verhelfen.

Es scheint sich dabei um eine der zentralen Fragen der sozialistischen Praxis von Intellektuellen zu handeln, denn die Frage, wie Klassenbewusstsein entsteht und welche Funktion Organisationen und die Intellektuellen in ihnen spielen, hat bekanntlich ja bereits Kautsky/ Lenin einer- und Luxemburg/Trotzki andererseits Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Eines aber wird man feststellen müssen: Theorie und Praxis der Vorhutorganisationen bzw. des intellektuellen Entrismus haben die Subjekte wohl, die Politik der reformistischen bzw. leninistischen Bürokratien im großen und Ganzen nicht verändert.

Die damaligen Auseinandersetzungen sind Dank Kritidis nach wie vor mit Gewinn zu lesen, weil alle Warnungen vor einer Fortsetzung der Staatsfixierung der Arbeiterbewegung, ihrer negativen oder positiven Integration in den bürgerlichen Staat, die Trennung ökonomischer und politischer Kampfformen und Kämpfe noch aktuell sind: kaum in westdeutsche Landtage gewählt, muss die parlamentarische Linke in Hessen schon wieder über Stöckchen springen, die ihr von der dortigen Restsozialdemokratie als "Notwendigkeit der Anerkennung des Rechtsstaates und des Verfassungsschutzes" vorgehalten werden, grenzt sich die bayrische Mehrheit der PdL schon wieder mit realpolitischem Selbstbewusstsein von sozialrevolutionär argumentierenden Restbeständen in der Partei ab und taugt die Berliner PdL bestenfalls als Vorzeigemuster für eine im Zweifelsfall der Haushaltsausterität verpflichtete Parlamentslinke, die nicht einmal mit den örtlichen Gewerkschaften klarkommt. Demgegenüber ist mit Gerlach daran festzuhalten:

"Heute erforderlich sei eine Erklärung der Menschenrechte für das Zeitalter des Überflusses. Ihr erster Grundsatz ist, dass jeder das Recht auf ein voll erfülltes Leben, auf Freiheit und Glück hat, ob er arbeitet oder nicht. Die Frage dieses Rechts muss völlig von der Arbeit getrennt werden." (S. 525)

Wer heute einen Weg zur Transformation der kapitalistischen Gesellschaft sucht, sollte sich vom Reichtum emanzipatorischen Denkens nach 1945 inspirieren lassen. Angesichts der Versuche, die Zeit zwischen 1945 bis 1968 als eine "Zeit des Wirtschaftswunders" und des "Wohlstandes für Alle" zu verklären, sollte jeder dieses Buch zur Hand nehmen, um sich kritisch mit jener Zeit auseinanderzusetzen und die alternativen, aber unterdrückten Entwicklungspfade kennen und nutzen zu lernen.

Gregor Kritidis, Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer - Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Offizin-Verlag Hannover 2008, 582 Seiten.

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sopos 12/2008