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Nicht Tränen der Trauer, nicht Tränen der Rührung – unfreiwillige Tränen, denn unsere Treffen fanden immer in einer Wolke von Tränengas statt.« Video-Aufnahmen zeigten es: Woche für Woche, Jahr für Jahr demonstrieren die Einwohner des palästinensischen Dorfes Bil’in jeden Freitag gegen die Mauer, durch die sie von ihren Feldern und Wasserquellen getrennt wurden, gegen die israelischen Soldaten, die sie drangsalieren, mit immer neuen Waffen angreifen, verletzen, willkürlich verhaften. Dem friedlichen Protest haben sich inzwischen israelische Friedensaktivisten und Bürgerrechtler aus aller Welt angeschlossen. Trotz der Tränengaswolken lassen die Bilder viel erkennen. Der sie aufgenommen hat, wollte in Berlin dabei sein; er mußte in Bil’in zurückbleiben – verletzt bei seiner selbstgestellten Aufgabe, das Verhalten der Besatzer zu dokumentieren. Avnery sagte: »Die Mauer in Palästina ist ein Schandmal. Der Welt wird weisgemacht, sie diene der Sicherheit. Aber gerade in Bil’in ist es offensichtlich, daß es um etwas ganz anderes geht: um die Annexion palästinensischer Gebiete an das israelische Staatsgebiet, um die Erweiterung der schändlichen Siedlungen und – auch das muß gesagt werden – um die Bereicherung israelischer und ausländischer Immobiliengesellschaften, die das gestohlene Land als Grundstücke verkaufen und daran Millionen verdienen.« Bei einer der Freitagsdemonstrationen, berichtete Avnery, sei seine Frau Rachel von einer Gasgranate getroffen worden. Eine Narbe an ihrem Bein erinnere daran. Einmal habe er aus Berlin einen kleinen Stein nach Bil’in mitgebracht – »einen Stein aus der Berliner Mauer, ob er echt ist oder nicht, spielt jetzt keine Rolle«. Er habe ihn seinen Freunden in Bil’in gezeigt und gesagt: »Auch ›unsere Mauer‹ wird eines Tages fallen.« Noch steht sie, 770 Kilometer lang, viel höher, als die Berliner Mauer war, und es wird weiter an ihr gebaut, teilweise weit jenseits des israelischen Territoriums. Den Palästinensern, sagte Ihr Sprecher in Berlin, seien dadurch inzwischen 12,6 Prozent ihres Westufer-Gebiets geraubt worden. Red. KunstDie Berliner Künstlerin Miriam Kilali setzte ihre Idee um, und bald konnte in Berlin-Schöneweide »das schönste Obdachlosenheim der Welt« (Märkische Oderzeitung) eröffnet werden. Stuckornamente an den Decken, aufgesetzte Pilaster imitieren barocke Ausstattung, in jedem Zimmer verbreitet ein Glaslüster »hoheitliches Licht«. Weiter lesen wir: »Reichtum gehört in diesem Haus zum Konzept … Gold steht symbolisch für Reichtum«, weshalb im ganzen Haus eine goldene Bordüre angebracht wurde. Für neue Möbel reichte das Geld nicht, die 100.000 Euro verbrauchten sich für die Kunst. Die Künstlerin betonte ihren Grundsatz: »Schöne Orte wirken wohltuend auf uns und spenden Energie.« Ob Bettler deshalb oft vor Kirchen sitzen? Der Wohnungslose unter einem glitzernden Kronleuchter – wird diese Inszenierung in die Kunstgeschichte eingehen? In welchem Verhältnis steht ihr künstlerischer Wert zu steigenden Zahl der Wohnungslosen? Gerhard Hoffmann Der Wert des MenschenMeine verschuldete Freundin wurde von einem Inkasso-Unternehmen mit einer Kontopfändung überrascht. Ich begleitete sie zur Bank, um das Organisatorische zu regeln, denn Sozialleistungen sind unpfändbar. Die Bankangestellte taxierte sie mit einem Blick, als ob sie die Krätze hätte. Ihr war anzumerken, daß sie sich um Freundlichkeit bemühen mußte. An diesem Tag bekamen alle Kunden der Bank einen Kurzzeitmesser, eine »Eieruhr«, als Geschenk. Meine Freundin verließ das Gebäude ohne das Werbegeschenk – ihr wurde keines angeboten. Ein Bekannter hatte auch mit einer Kontopfändung zu kämpfen, konnte aber kurz darauf aus einem Erbe ein Haus verkaufen und daraus eine hohe sechsstellige Summe erlösen. Das Geld ging auf sein Konto, er ist bei der selben Bank wie meine Freundin. Seitdem wird er von dem Geldinstitut mit Präsenten überhäuft: Die Angestellten geben ihm Pralinen mit, schicken ihm Glückwunschkarten zum Geburtstag, behandeln ihn mit übertriebener Höflichkeit: König Kunde. Woran bemißt sich der Wert eines Menschen? Selbstverständlich an seinem Kontostand. Woran sonst? Stefan Hug Der BeratungsscheinIch wache auf und mir ist schlecht. Der nächste Tag steht bevor. Draußen ist es noch dunkel. Ich drehe mich herum, versuche weiterzuschlafen. Es gelingt nicht. Irgendwann stehe ich auf. Grau zieht der Morgen herauf, und nicht nur der Himmel wirkt bleiern. Es gibt Probleme mit dem JobCenter. Eine ministerielle Anweisung wird als Aufforderung verstanden, auf Arbeitslose Druck auszuüben, weil billionenschwere Spekulationen eine internationale Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst haben, die noch mehr Arbeitslose erwarten läßt. Das wird von oben nach unten durchgegeben und kommt auch bei meiner Sachbearbeiterin an. Sie setzt es vorschriftsmäßig um. Man hat mir geraten, einen Anwalt zu konsultieren. Der sagt mir, er brauche einen sogenannten Beratungsschein, bevor er etwas tun könne, und schickt mich zum Amtsgericht, wo ich einen solchen Schein besorgen soll. Der Eingang zum Gericht ist wie ein Hochsicherheitstrakt gesichert. Taschenkontrolle, Metalldetektoren. Jacke und Mütze ablegen, alles wird gründlich durchsucht. Anschließend fragt mich der Security-Mann, ob ich ein Messer dabei habe. Da muß ich passen. Als ich die Prozedur hinter mich gebracht habe, frage ich, wo denn wohl der benötigte Schein zu bekommen sei. »Da müssen Sie zum Familiengericht«, lautet die Antwort. Das befindet sich nebenan. Man weist mir grob die Richtung, in der ich mich halten muß. Ich irre durch Gänge und Flure, die mich an Kafka erinnern, frage mich nach und nach durch. »Gehen Sie zuerst zum Infopoint und melden Sie sich da an, anders geht gar nichts«, weist mich eine Sachbearbeiterin in unfreundlichem Ton an. Am »Infopoint« werde ich nach meinem Begehr gefragt, ohne daß mein Gruß erwidert wird. Ich erkläre die Situation. Ohne für eine Prüfung zuständig zu sein, behaupten die Frauen hinter dem Tresen, daß es für mein Problem keinen Beratungsschein gebe. Der Rechtsanwalt hatte mich darauf vorbereitet, abgewimmelt zu werden. (»Das machen die immer häufiger so.«) Deshalb möchte ich trotz der amtlichen Auskunft, die ich eben erhalten habe, gern mit der zuständigen Sachbearbeiterin sprechen. Die Frauen reichen mir daraufhin einen Vordruck über den Tresen, in dem aufgeführt ist, welche Unterlagen man benötigt, um eine Audienz zu bekommen: Personalausweis mit polizeilicher Anmeldebestätigung. Mietvertrag. Kontoauszüge der letzten drei Monate. Einkommensnachweis. Alle Unterlagen zu dem rechtlichen Problem. Nachweise über laufende Zahlungsverpflichtungen und besondere Belastungen. »Haben Sie das dabei?« werde ich gefragt. All das wurde bereits vom JobCenter geprüft, dessen Bescheid in meiner Tasche dokumentiert das. Zu den »besonderen Belastungen« schweige ich – selten fühle ich mich dermaßen belastet wir jetzt. »Das genügt nicht, besorgen Sie die Unterlagen, dann können Sie wiederkommen.« Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Mir ist jetzt klar, warum der Kontrolleur am Eingang nach einem Messer gefragt hat. Die 4,20 Euro Fahrgeld entsprechen in etwa meinem Tagessatz für Essen. Der nächste Tag kommt bestimmt. Nicht nur für mich. Rettungspakete sind nicht zu erwarten. Oz Ein Justizskandal»Unrecht im Namen des Volkes« ist der Titel eines Hörbuchs, das mich gezwungen hat, zehn Stunden lang intensiv zuzuhören. Bezwingend ist der Bericht der Zeit-Reporterin Sabine Rückert über einen Justizskandal in Niedersachsen, bezwingend ist die Stimme von Gina Pietsch, die den Bericht vorliest. Zehn Stunden lang spricht nur sie, die überragende Rezitatorin, die man in Berlin auch und vor allem als Chanson-Sängerin kennt. Keine griechische Tragödie hat mich je dermaßen gefesselt. Verurteilt wird ein Vater, der seine minderjährige Tochter mißbraucht haben soll. Einzige Belastungszeugin ist die Tochter selbst. Alle glauben ihr, besonders fest die Psychotherapeuten, die sie zu immer neuen Beschuldigungen drängen. Nachdem der Vater in Haft genommen ist, beschuldigt sie ihren Onkel. Auch ihn verurteilen die Richter, die dem Mädchen alles glauben, obwohl vieles offenkundig nicht stimmen kann. Die angeblichen Täter kommen aus einem proletarischen Milieu. Bei jeder Wendung des Geschehens wird mir bewußt, was nie ausgesprochen wird: Wären die beiden Beschuldigten Apotheker, Studienräte oder gar Oberstudienräte, hätten Polizei, Staatsanwaltschaft, medizinische Gutachter, Richter nie und nimmer gewagt, so über sie herzufallen. Der Vater wird Anfang 1995 vom Landgericht Osnabrück zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Ende 2006, nachdem die Strafe verbüßt ist, wird er freigesprochen. Jahrelang hatten sich inzwischen die Reporterin und ein tüchtiger Hamburger Rechtsanwalt mit bewundernswerter Courage gegen die geballte Borniertheit aller Zuständigen bis hin zur niedersächsischen Justizministerin vor allem für den Onkel engagiert. Doch den haben das Gerichtsverfahren, der Schuldspruch, die Verurteilung zu viereinhalb Jahren Gefängnis, die soziale Ächtung, die Ablehnung des Revisionsantrags durch den Bundesgerichtshof und die Ablehnung des Wiederaufnahmeantrags durch das Landgericht Oldenburg wohl für sein ganzes Leben verstört. Auch das angebliche Opfer sexueller Übergriffe, offenbar als Kind psychisch erkrankt, wird nach alledem schwerlich gesunden können. Da wirken die beiden Freisprüche, mit denen der Bericht endet, nicht versöhnlich. Ich empfehle dieses Hörbuch nicht nur für notwendige Fortbildung in der Justiz, sondern für alle Abiturklassen zur Aufklärung darüber, welcher Anstrengungen es wohl bedürfte, aus der Bundesrepublik Deutschland den sozialen Rechtsstaat zu machen, der sie laut Grundgesetz sein soll. E. S. Sabine Rückert: »Unrecht im Namen des Volkes«, Radioropa-Hörbuch, 16.80 € Zuschriften an die LokalpresseDie Hartz-IV-Behörde des Landkreises Spree-Neiße hat im November mehrere Tage lang über die Schicksale von Arbeitslosen beraten, und das ausgerechnet im nobelsten Brandenburger Wellness-Hotel! Ja, sollten die Sozialbeamten dazu etwa in muffige Schlafsäcke kriechen und sich unter eine Spree- oder Neiße- oder Havel-Brücke legen? Da sind doch die Liegeplätze sowieso knapp! Oder sollte die Behörde etwa wegen der Vorweihnachtszeit einen Stall mieten? Ich vermute, der Chef der Behörde wollte seinen Mitarbeitern lediglich einmal vorführen, worauf die Hartz-IV-Bezieher ständig verzichten müssen. Und nun macht die Presse daraus einen Skandal, der Amtsleiter wird für die gute Absicht auch noch abgestraft und muß selbst dafür löhnen! Wie meine Mutter selig oft sagte: Undank ist der Welt Lohn! – Gloria Helle-Lujah (64), Sozialarbeiterin, 16798 Himmelpfort * Am Nikolaustag haben sich die Rechten zu einer rechtmäßigen Demo in Berlin-Karlshorst getroffen. Und viele Bürger haben sich unrechtmäßig dagegen gewehrt, zumal in Karlshorst mit der deutschen Kapitulation angeblich der Schlußstrich unter den angeblich von Faschisten ausgelösten II. Weltkrieg gezogen worden sein soll. Aber selbst wenn, muß mit den Vorwürfen fast 80 Jahre nach Kriegsausbruch endlich mal Schluß sein! Um die freiheitlich-demokratische Grundordnung durchzusetzen und den friedlichen nationalen Spaziergang am Nikolaustag zu ermöglichen, hatte die Polizei zum Schutz der recht-mäßigen Demonstranten pro Teilnehmer durchschnittlich vier Beamte und zwei Fahrzeuge einschließlich Wasserwerfern bereitgestellt, den Ortsteil großflächig abgesperrt, die Straßenbahn- und Buslinien stillgelegt, den Zugang zu öffentlichen Gebäuden gesperrt und das Geschäftsleben in den angrenzenden Straßen weitgehend abgebrochen. Wie auf Grund der Unvernunft vieler Bürger vorauszusehen war, endete die Veranstaltung mit Straßenkämpfen und Verletzten; selbst die Lichtenberger Bürgermeisterin verhielt sich gesetzwidrig und mußte von den Ordnungshütern mit Körperkraft von der Straße geräumt werden. Kein gutes Beispiel! Der Berliner Kurier hatte dieses Chaos offensichtlich vorausgesehen und an diesem Tag auch zu einer Demo aufgerufen: Bürger sollten sich in Weihnachtsmannkleidung und Engelskostümen um 14 Uhr am Alexa-Kaufhaus am Alex einfinden. Ich weiß nicht, wie viele Menschen diese Möglichkeit wahrgenommen haben. Dieses Beispiel sollte aber Schule machen! Vielleicht sollten künftig die Engelskostüme für die Demonstranten und die Weihnachtskutten mit Kapuzen für die Gegendemonstranten für verbindlich erklärt werden, dann könnten sich die Ordnungshüter von Anfang an besser auf die Vermummten orientieren. – Svenny Hartleib (26), Angestellter, 13469 Berlin-Waidmannslust * Die Forschungen zu den Ursachen und der Entstehung von Kriegen erhalten durch eine sensationelle Enthüllung neue Impulse: Hitler mußte seit dem 1. Weltkrieg mit nur einem Hoden auskommen! Den anderen hatte ihm der französische Erbfeind aus der Umhüllung geschossen, als der österreichische Gefreite an der Somme seine deutsche Heimat verteidigte. Der Berliner Kurier berichte darüber dankenswerterweise unter der Überschrift »Priester enthüllt Kriegsgeheimnis – Wie Hitler den Hoden verlor«. Damit erklärt sich natürlich auch, warum der Führer einen so besonderen Rochus auf den Franzmann hatte und auf militärische Vergeltung drang. Ich finde, daß der Krieg – nicht nur der 1., auch der 2. Weltkrieg – aus dieser historischen Sicht einer neuen Bewertung bedarf. Ob dann die doch sehr vereinfachende These aufrechterhalten werden kann, es handle sich um einen imperialistischen Raubkrieg, bleibt abzuwarten. Jedenfalls kommt dem subjektiven Faktor in der Weltgeschichte eine weit größere Rolle zu als bisher gefühlt. – Urs-Bernhard Rammelow (43), Hobby-Historiker, 29693 Hodenhagen. Wolfgang Helfritsch Denkmal für Rosa Luxemburg»Jehst’e weg / von dem Fleck / nehm’se Rosa wieder weg«, hieß es im Februar 1999 in einer Parodie auf Otto Reutters bekanntes Couplet. Doch es waren einige PDS-Politiker selbst, die in jener Zeit einen würdigen Umgang mit Rosa Luxemburg parodierten. Die Bildhauerin Ingeborg Hunzinger hatte auf einem Parteitag 1995 unter großer Zustimmung vorgeschlagen, die Revolutionärin mit einem Denkmal im öffentlichen Raum in Berlin zu ehren. Sie fragte, was wohl künftigen Generationen in unseren Städten als Zeichen bleibe. Der Vorstand beschloß im Februar 1998, zur Finanzierung des Denkmals beizutragen und die Skulptur von Rolf Biebl sowie Reliefs von Hunzinger im Eingangsbereich des Karl-Liebknecht-Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz aufzustellen. Parteibasis und Tausende Interessierte unterstützten das vom Antieiszeitkomitee getragene Vorhaben durch den Erwerb von künstlerisch gestalteten Anteilsscheinen. Am 9. Januar 1999 wurde das Denkmal aufgestellt – zwei Tage später beschloß der Vorstand, es abzureißen; da war »Rosa wieder weg«. Eine enge Sicht auf Parteiinteressen und drastische Vorwürfe aus verbalem Arsenal der Kunstgeschichte sorgten für die Entfernung. Skulptur und Reliefs wurden im Vorgarten der Rosa-Luxemburg-Stiftung aufgestellt, an einem kaum mehr öffentlich zu nennenden Platz. Aber Hunzingers Gedanken darüber, was künftigen Generationen als Zeichen bleibe, sind wichtig in einer Zeit, da der neoliberale Mainstream für architektonische und andere Gräßlichkeiten im Stadtbild von Berlin sorgt. Die Tageszeitung junge Welt rief dieser Tage zu Spenden auf, um eine Kopie von Biebls Skulptur zu fertigen. Sie soll am 11. Januar 2009 am Rande des Rosa-Luxemburg-Platzes aufgestellt werden, diesmal gegenüber dem Karl-Liebknecht-Haus. Klaus-Detlef Haas Guido ZingerlAuf Guido Zingerls Bildern gibt es unendlich viel zu entdecken. Als der Künstler vor 40 Jahren für den Kulturförderpreis seiner Heimatstadt Regensburg nominiert war, entdeckte ein darob empörter Kollege auf dem Gemälde »Altdorfer und Zingerl im Gespräch über Gott, Marx und die Welt unter besonderer Berücksichtigung des Vorteils eines roten Stadtrats« auf dem Ärmelschoner des Renaissance-Meisters Albrecht Altdorfer ein Strichmännchen mit der Kalauer-Sprechblase »Das Schönste an Regensburg ist der Schnellzug nach München«. Dennoch erhielt Zingerl den Preis. In München gehörte er damals zum Kreis der sozialkritischen Realisten um die Zeitschrift tendenzen, aber Regensburg blieb immer Gegenstand seiner Kunst, Szenerie der von ihm dargestellten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Zu den häufig wiederkehrenden Akteuren gehören der Bischof, der Kapitalist, das arbeitende Volk und, ihm verbunden, der Künstler selber, manchmal voller Aufregung über all das, was da vorgeht. Jetzt ehrt ihn die Stadt mit der großen Ausstellung »Regensburger Welttheater«, bis März geöffnet. Der wohlgestaltete Katalog (zu beziehen für 12.50 Euro bei der Stadtverwaltung) mit vorzüglichen Reproduktionen vieler Gemälde und Tuschzeichnungen bringt uns einen zeitgenössischen Künstler nahe, der uns, engagiert wie kein zweiter, mit deutscher Vergangenheit konfrontiert und damalige gesellschaftliche Strukturen durchleuchtet, die sich bisher kaum geändert haben, so daß die Wiederkehr des Vergangenen eine permanente Drohung bleibt. Aber Zingerl ängstigt uns nicht – das wissen Ossietzky-Leser vom Betrachten seiner gelegentlich beigesteuerten Karikaturen –, sondern ermutigt uns mit seinem vitalen, manchmal derben Witz, der immer auf dem Sprung liegt, die Mächte der Finsternis zu verscheuchen. Red. Apotheker-Ideologie1933 waren in Berlin von 3.600 Kassenärzten etwa 2.000 Juden. Hinzu kamen 600 jüdische Zahnärzte. 1938 wurde allen die Approbation entzogen. Etwa 900 Ärzte emigrierten, 400 wurden in Zuchthäuser und Vernichtungslager verschleppt. Fünf Ärzte überlebten das KZ. Das Schicksal Hunderter ist unbekannt. In der Ärzteschaft gab es keine Solidarität. Im Gegenteil: Man wurde eine lästige Konkurrenz los. Mehr als die Hälfte der verbleibenden Ärzte waren in der Nazipartei. Nach 1945 war Verschweigen und Vertuschen an der Tagesordnung, auch bei den ärztlichen Standesorganisationen. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich die Kassenärztliche und die Kassenzahnärztliche Vereinigung an Forschungen über das Schicksal ihrer jüdischen Kollegen beteiligten. Dazu wurden und werden Bücher und Biographien der Verfolgten herausgegeben. Am 70. Jahrestag des Approbationsentzugs brachten beide Vereinigungen in ihren Gebäuden Gedenktafeln an, auf denen die Namen von 2.061 Ärzten und 600 Zahnärzten genannt werden. Im jüdischen Glauben ist der Name ein wichtiges Element der Würde des Menschen. »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, heißt es im Grundgesetz. Aber jedes Prinzip hat bekanntlich seine Interpreten. So benutzte der Berliner Apothekerverein einen Gedenktag, um Rechnungen zu begleichen. Seine Gedenktafel im Hausflur Carmerstraße 3 in Charlottenburg holt nach gebräuchlichem Muster zum Rundumschlag aus: »Zum Gedenken an die Apothekerinnern und Apotheker, die durch Tyrannei und Gewaltherrschaft diskriminiert und verfolgt wurden, und zur Mahnung an jeden von uns.« In seiner Presseerklärung gedenkt der Verein zunächst der von den Nazis verfolgten jüdischen Apotheker. Nach dem Reichspachtgesetz von 1935 mußten jüdische Inhaber ihre Apotheke verpachten oder verkaufen – in Berlin waren das 150 von 500. 1939 wurde allen jüdischen Apothekern ihre Approbation entzogen. Es folgten Auswanderung oder Deportation und Ermordung. Und dann kommt es: Die bösen Russen und Kommunisten waren auch nicht besser. Ihr Ziel war der Aufbau eines staatlichen Gesundheitswesens, stellen die Apotheker anklagend fest. Die sowjetische Militäradministration gründete Polikliniken mit angestellten Apothekern. 1949 entzog sie den Apothekern ihre vererbbaren und veräußerlichen Betriebsrechte. Private Apotheken blieben, aber sie wurden schlechter beliefert, und sie gerieten unter Druck zum »freiwilligen« Verkauf an den Staat. 1990 waren in der DDR ganze 26 Pharma-Läden privat. Nun mag man zur Abschaffung des Privateigentums in der Produktion und im Handel unterschiedlicher Meinung sein. Die DDR vollzog einen Systemwandel, den sie mit ihrer durch Volksentscheid beschlossenen Verfassung legitimierte. Ihre Mittel waren nicht immer weise und führten zu einem Ende, das den Gegnern des Sozialismus recht zu geben scheint. Mit rassistischer Verfolgung und Vernichtung von Menschen aber hatte das nichts zu tun. Und derer wollte man eigentlich nach 70 Jahren gedenken. Der Berliner Apothekerverein versteigt sich zu der Behauptung: »Diskriminierungen und Verfolgungen von Apothekern geschahen mit unterschiedlichen Begründungen. Unabhängig davon, ob ... sie mit politischen, religiösen, sexuellen oder wirtschaftlichen Begründungen erfolgten, ist es notwendig, sie alle zu verurteilen.« So macht der Antikommunismus auch blind gegen die Einmaligkeit der Naziverbrechen. Sigurd Schulze Schlechte NachrichtDas Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung wird nach 15 Jahren eingestellt. Namhafte Autoren wie Dietrich Eichholtz, Kurt Pätzold, Werner Röhr, Karl Heinz Roth und Rolf Surmann schrieben honorarfrei, die Redakteurinnen Brigitte Berlekamp und Brigitte Hering arbeiteten ehrenamtlich, doch die Einnahmen deckten die Kosten nicht. Das Bulletin hat in teilweise sehr umfangreichen Beiträgen zu den jeweiligen Schwerpunktthemen (Warschauer Aufstand, Wirtschaftsbilanz der deutschen Kriegsniederlage, Genozid an den Sinti und Roma, Faschismusforschung in der DDR, um nur einige zu nennen) wichtige neue Forschungsergebnisse präsentiert. Seine Hauptfunktion bestand darin, herrschende Historikermeinungen zu korrigieren und gefährlicher Instrumentalisierung einzelner aus dem Zusammenhang gerissener historischer Fakten entgegenzutreten. Wie gefährlich es sein kann, wenn sich Staaten aus gegenwärtigem politischem Interesse auf falsche Geschichtsbilder festlegen, zeigt ein Beispiel aus der jüngsten und letzten Bulletin-Ausgabe. Man liest dort: »Die Befreiung Osteuropas vom deutschen Faschismus durch die Rote Armee 1944/1945 wird in den baltischen Neustaaten von Politikern, Medien und Historikern umgedeutet und diffamiert. Zum Jahrestag der Befreiung 2005 wandte sich Estlands Verteidigungsminister Ligi an die Überlebenden der estnischen SS-Legion und anderer Kollaborationsverbände und erklärte: ›Euer Kampf 1944 war ein Kampf für die Freiheit Estlands.‹ Regierungschef Ansip würdigte im Juli 2006 auf einer Parade von Veteranen der 20. Estnischen SS-Division und des antikommunistischen Untergrunds nach Kriegsende, der sog. Waldbrüder, die Leistungen der estnischen Kollaborateure an der Seite der deutschen Wehrmacht und meinte sogar, man habe trotz der Niederlage 1944 letztlich doch noch gesiegt. Im darauffolgenden Jahr brachte es dieser Regierungschef sogar fertig, das Denkmal für die sowjetischen Befreier in Tallinn beiseite räumen zu lassen.« Ähnlich in Litauen unter Präsident Adamkus, der 1944 mit der deutschen Wehrmacht vor der heranrückenden Roten Armee geflohen war und bis zu seiner Rückkehr 1997 als hochrangiger Beamter für die US-Regierung gearbeitet hatte. Im heutigen Deutschland gibt es täglich Anlaß zum Widerspruch gegen Geschichtsverdrehung und -verdrängung. Kritische Historiker müßten immerzu eingreifen: etwa gegen die eifrig gezüchtete Anhänglichkeit an den preußischen Militarismus (symbolisiert in der Potsdamer Garnisonskirche, die wiederaufgebaut werden soll), gegen die Inszenierung des deutschen Volkes als Kollektiv unschuldiger Opfer (vor allem durch Funktionäre der Vertriebenenverbände) und die anhaltende Diskriminierung tatsächlicher Nazi-Opfer (namentlich der sogenannten Kriegsverräter), gegen die rabiate Beseitigung von Hinterlassenschaften der DDR (Beispiel: Palast der Republik) und deren Ersetzung durch Gruselfilme und Pseudo-Gedenkstätten (wie in Berlin-Hohenschönhausen), gegen die fortdauernde Dominanz der NATO-Propaganda in der Darstellung der Kriege in Jugoslawien und Afghanistan. Da sind Publikationen wie das Bulletin bitter nötig. Immerhin: Die Reihe der Bulletin-»Beihefte«, die sich zu dicken Büchern ausgewachsen haben, soll weitergeführt werden. Das jüngste behandelt die »Sudetenkrise« 1938. Eckart Spoo »Die verrückte Amerikanerin«– so die Autorin und Übersetzerin Edith Anderson sarkastisch über sich selbst. 1915 in den USA geboren, zog sie 1947 nach Berlin der Liebe wegen, und zwar in den Ostsektor der geteilten Stadt. Zuneigung und Engagement galten nicht nur dem Ehemann Max Schröder, sondern auch dem Land, das einen Sozialismus-Versuch wagte und sich zwei Jahre später Deutsche Demokratische Republik nannte. Diese jüdische Kommunistin aus der Bronx mutete sich allerhand zu, oft mehr als sie verkraften konnte – nachzulesen in ihrem 2007 auf deutsch, zuvor in den USA im englischen Original erschienenen furiosen Erinnerungsband »Liebe im Exil«. Leben in der Trümmer-Metropole stand auch für die freiwillige Zuwanderin aus einem Siegerstaat anfangs unter dem Motto »Keiner soll hungern, ohne zu frieren«. Dazu eine Groteske: Max Schröder, geboren 1900, früh Hitler-Feind, Kommunist, Rückkehrer aus der US-Emigration, Cheflektor des eben entstehenden Aufbau-Verlages, stürzte sich mit solchem Elan in die Arbeit, daß er keine Zeit fand, Lebensmittelkarten für Edith zu beantragen. Sie lebten also zu zweit von seinen knappen Rationen. Die junge Frau, damals des Deutschen kaum mächtig, fühlte sich hilflos vor der Bürokratie. Aber andere Karten ergrimmten sie mehr. Bodo Uhse lud häufig ausländische Kollegen ein, um so den Namen der DDR bekannt zu machen. Denn: »Westdeutsche Kartographen waren tatsächlich angewiesen, das Gebiet der DDR als weißen Fleck darzustellen; die Adenauer-Regierung boykottierte jeden Staat, der diesen weißen Fleck auf der Landkarte als legitimen Staat anerkannte.« Solche kritischen Sätze stecken wohl vielen westlichen Rezensenten quer im Hals, das rasante und detaillierte Erinnerungs-Buch stößt in der früheren BRD auf konsequentes Desinteresse. Dabei war Mrs. Anderson keineswegs einäugig – ihr Verhältnis zur DDR pendelt zwischen Wohlwollen und Wut. Eine Qual für die sensible Stilistin ist der Verlautbarungsjargon des zweiten deutschen Staates, unter anderem die berüchtigte »Genitivitis«. Scharf auch ihr Urteil über die Presse: »Zeitungen waren keine Informationsquelle, sie waren Vernebler oder Einpeitscher.« Es fehlte und fehlt auch im Westen nicht an lügenden und korrupten Schreiberlingen, aber »drüben« sollte ja etwas Neues und Besseres aufgebaut werden. Welche Kräfte diesem Ziel entgegenstanden, resümiert die Autorin: »Max glaubte, daß die Regierung ernsthaft eine klassenlose Gesellschaft anstrebte, aber alle Unternehmungen in diese Richtung wurden durch den Kalten Krieg gebremst, der die sozialistischen Länder zwang, Mittel zu verschwenden für ihre Selbstverteidigung, die leider auch alberne Propaganda einschloß und das, was man später ›herzlose Bürokratie‹ nannte. Und es ist wahr, daß der Kalte Krieg eine gesunde Entwicklung des Sozialismus bremste. Das war das Ziel des Westens.« So die Analyse Max Schröders, der leider schon 1958 einer unheilbaren Krankheit erlag. Seine Frau, gestorben 1999, erlebte noch den Exitus eines Staates, von dem sie sich, trotz einiger Skepsis, etwas erhofft hatte. Ingrid Zwerenz Edith Anderson: »Liebe im Exil«, Basis Druck, 546 Seiten, 22 € Walter Kaufmanns LektüreDie Henri-Nannen-Journalistenschule muß eine famose Einrichtung sein, wenn Absolventen wie Annett Heide und Jan Wiechmann daraus hervorgehen! Ihre Reportagen zu den Auswirkungen des Irak-Krieges auf die US-Soldaten, die dort zum Einsatz kamen, sind aufschlußreich, gut durchdacht, sprachlich beispielhaft. Jetzt weiß man, was Amerikaner motiviert, in diesem Krieg zu dienen – Patriotismus? Der auch, bei diesem oder jenem. Meist aber ist es Geldnot, Arbeitslosigkeit, Abenteuerlust, sind es familiäre Zwistigkeiten und Rachegelüste, seit die Medien »nine eleven« zur Parole gemacht haben und die zertrümmerten Twin-Towers von Manhattan zum Fanal geworden sind. Fünfeinhalb Jahre waren die beiden Journalisten für ihr Buch in den USA – Jahre, in denen sie den Wechsel von Kriegsbegeisterung zu Frustration erfassen konnten. Und sie verfolgten Schicksale einzelner Amerikaner, die in den Krieg gezogen waren. Da ist der Indianer Tyrone Roper, Scharfschütze, der für jeden seiner »Kills« seinen Helm mit Federn markiert; da ist der Obergefreite Joshua Key, der mit Frau und vier Kindern in den Untergrund flüchtet und sich am Ende nach Kanada rettet; da ist der schwer verletzte Tyler Ziegler, der auch ohne Arme, Nase und Ohren am liebsten wieder in den Krieg ziehen würde – weg von sich selbst und der Frau, die ihn verlassen hat; und da sind die, die auf der Strecke blieben und Amerika nicht wiedersahen: Sergeant Jimmy Worster aus Alaska stirbt an einer Überdosis Drogen, im Grunde jedoch an dem Grauen, das er miterlebte und nicht länger verkraften konnte; Justin Johnson verblutet nach einem Attentat auf einer Straße in Bagdad, weshalb sein Vater ihn rächen will und ebenfalls in den Krieg zieht und – angesichts des Elends irakischer Kinder geläutert daraus hervorgeht. Besonders tragisch ist die Geschichte des US-amerikanischen Juden Nick Berg., der Radiotürme für die Iraker bauen will, aber von Terroristen gefangen und vor einer laufenden Kamera geköpft wird. Und wie kommt ein Vater über die Hinrichtung des eigenen Sohnes hinweg ... Siebzig Seiten später wird man mit dem Massaker von Haditha konfrontiert, das dem Massaker von My Lai in Vietnam an Grausamkeit nicht nachsteht – ein Schandmal für das US-Marinekorps! Vierundzwanzig Iraker, darunter drei Frauen und sieben Kinder, wurden kaltblütig niedergemetzelt. Als sich am 6. September 2007 der Haupttäter Staff Sergeant Frank Wuterich einer Anhörung des Militärtribunals stellen muß, sitzt er gelassen da und beantwortet Fragen. »Fühlen Sie Mitleid angesichts der unschuldig getöteten Iraker?« »Jawohl.« »Warum?« »Es sind Familien gestorben. Ich sehe meine eigene Familie vor Augen und würde nicht wollen, daß ihnen so etwas zustößt.« »Wie groß ist ihre Familie?« »Eine Frau und drei Kinder.« »Das war’s. Dann geht er wieder«, schreiben Annett Heide und Jan Wiechmann, »geht in die Freiheit. Ein Held für die einen. Ein Kindermörder für die anderen.« Allein schon mit dieser Reportage beweisen sie sich als genaue Chronisten unserer Zeit. W. K. Annette Heide und Jan Wiechmann: »Als Jimmy starb. Wie der Krieg nach Hause kommt«, Berlin Verlag, 237 Seiten, 6.90 € Pakete mit SprachgeschenkenWenn Welträtsel in Podiumsdiskussionen gelöst werden, bin ich gern dabei. Nicht weil ich an die Lösungen glaube, sondern weil so viele Entdeckungen über unsere Sprache zu machen sind. Ältere Herren mit fest gefügten Meinungen sagen gern »Ich aus Meinersicht«. Dieser Ort Meinersicht muß erstaunlich viele Einwohner haben. Jüngere Menschen hingegen sprechen im pluralis majestatis. Wir meinen. Wir wissen. Wir lassen uns nicht verWirren. Wer aber ist das Wir? Wir sind eine Gruppe, die Analysen tätigt und Lösungsvorschläge in die Diskussion wirft. Ich überlege, wer wohl bei den Großen Würfen am Kopf getroffen werden wird. Oder wird getroffen worden sein? Die vollendete Zukunft ist die Sprache der Jungen. Immer sind Aspekte unter verschiedenen Sichtweisen zu diskutieren. Hingegen wird das Auseinanderklaffen der Meinungsverschiedenheiten immer evidenter. Jedenfalls müssen deswegen mehr Pakete geschnürt werden. Vielleicht wegen Weihnachten. Oder auf Weihnachts-Wegen? Und wenn es um Banken geht – das Wort »Banken« hat komischerweise Konjunktur, obwohl alle nur von »Banken-Krise« sprechen – werfen Sprachschöpfer das Wort »Finanzprodukt« wiederum in die Diskussion. Noch ein Wort, das hoffentlich nicht trifft. Ich stelle mir vor, wie die Bankangestellten am Fließband sitzen und lauter kleine Finanzprodukte montieren. Mit hübschen Sprachverschlüsselungen bunt beklebt. Sodann geschickt versandt – oder versendet mit Schick? Auf jeden Fall geht die Botschaft, die ein Sendungsbewußtsein enthält, in den Ort Meinersicht. Matthias Biskupek Press-KohlKlaus Geitel verriet uns neulich in der Berliner Morgenpost: »Nézet-Séguin heißt der neue Pultheld.« Der neue Pultheld scheint ein Überraschungsdirigent zu sein. »Es war, als fiele einem gleich zu Konzertbeginn das komplette, in Musik verwandelte 19. Jahrhundert auf den Kopf ... Der in Salzburg zum jungen Superstar erhobene Jung-Dirigent eröffnete sein Konzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester mit einer Tschaikowski-Klamotte: die ›symphonische Phantasie nach Dante‹, die ›Francesca da Rimini‹ feiert, beklagt und am Ende wie mit dem kompositorischen Holzhammer erschlägt. Nézet-Séguin verstand, ihn, als Taktstock verkleidet, machtvoll zu schwingen.« Machtvoll, doch vorsichtig, also glücklicherweise ohne mit seinem als Taktstock verkleideten Holzhammer Herrn Geitels Sparschwein kaputtzuhauen. Nach einer Zugabe der georgischen Violinistin Lisa Batiashvili, einem »warmen Regen der Melodie«, geschah es, »daß Ravel mit seiner Suite aus ›Daphnis und Chloe‹ wieder voll den Hahn aufdrehte. Die ›Danse générale‹ des Finales schoß mit atemberaubender Wucht unter den Händen des Kapellmeisters hervor.« Ravel drehte den Hahn, den er zunächst voll aufgedreht hatte, schnell wieder zu. Ahnte er, daß Geitel wasserscheu sein könnte? Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 25/2008 |
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