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Haben sich das Zentralorgan der deutschen Bourgeoisie und das im Format halbierte ehemalige Zentralorgan der Linksliberalen plötzlich in Agenturen einer Volksbewegung gegen die Kapitalherrschaft verwandelt? Nein, sie reagieren nur darauf, daß der Wind gedreht hat, und verdrehen sich selbst, um die Diskurshoheit zu behalten. Immerhin haben 70 Prozent der Bevölkerung nach den Ereignissen dieses Herbstes wenig oder kein Vertrauen mehr in die deutschen Banken. 74 Prozent stimmen sogar der These zu: »Die großen Konzerne machen jedes Jahr Rekordgewinne und schmeißen gleichzeitig die Leute raus. Da muß man schon die Frage stellen, inwieweit das mit dem Grundgesetz vereinbar ist« (aus einer Allensbach-Umfrage, zitiert unter der Überschrift »Wasser auf die Mühlen der Linken« in der FAZ). Mehr noch: »74 Prozent der Ostdeutschen, aber auch 47 Prozent der Westdeutschen meinen, der Sozialismus sei ›eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde‹« (FR). Da muß dringend etwas getan werden, damit solche fundamental oppositionellen Gedanken nicht eines Tages politische Konsequenzen haben. Ein altbewährtes Rezept dafür ist: Man greife die kritische Stimmung auf und lenke sie in eine Richtung, die der Stabilisierung der Verhältnisse dient. Wer ist der Hort und Garant von Stabilität in unsicheren Zeiten? Der Staat – wer sonst. Dem Ruf nach »mehr Staat« schloß sich denn auch schnell die Mehrheit an – auch die Mehrheit derer, die jahrelang nach »mehr Markt« gerufen hatten. Schließlich geht es um die Rettung unserer Wirtschaftsordnung. Nach der Privatisierung exorbitanter Gewinne ist die Verstaatlichung exorbitanter Spekulationsverluste angesagt. Dazu ein Programm zur Förderung der abschmierenden Konjunktur – allerdings nur, wenn es sich im wesentlichen auf kosmetische Maßnahmen zur Verbesserung der Stimmungslage beschränkt und die Verteilung zwischen oben und unten unangetastet läßt. Wie das alles von den Meinungsmachern vorbereitet wurde, dafür ein Beispiel aus einem Leitartikel der FAZ. Unter dem letzte Autoritätsreserven beschwörenden Titel »Vater Staat« stand da als Hinweis zu lesen – man traute seinen Augen kaum –: »Ja, Grund, Boden und Produktionsmittel können ›zum Zweck der Vergesellschaftung‹ in Gemeineigentum überführt werden.« Womöglich erinnerte sich auch in der Redaktion der FAZ niemand mehr, daß bei einer Meinungsumfrage in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine rauschende Mehrheit der Bundesbürger die das Eigentum betreffenden Artikel des Grundgesetzes der Verfassung der DDR zuordneten? So märchenhaft erschien der Verfassungstext angesichts der bundesdeutschen Verfassungswirklichkeit. Daß die FAZ den fast vergessenen Sozialisierungsparagraphen zitierte, sollte wohl den Leserinnen und Lesern vor Augen führen, was geschehen könnte, wenn sich die Unternehmerschaft und ihre politischen Interessenvertreter nicht am Riemen reißen. Denkbar auch, aber weniger wahrscheinlich, daß sie die geplante Staatshilfe für das notleidende Kapital mit dem Anschein einer realen Vergesellschaftung (sprich: Demokratisierung) ökonomischer Machtpositionen versehen wollte. Es ging aber noch weiter: »Die Macht transnationaler Unternehmen und Spekulanten ist sehr groß. Sie kann offenbar ganze Gemeinwesen an den Abgrund bringen.« Diese Erkenntnis muß man nun nicht mehr den programmatischen Erklärungen von attac oder anderen linken Quellen entnehmen. Sie ist im Leitartikel der FAZ angekommen. Das Feuilleton dieser Zeitung pflegt derweilen die fein dosierte Panikmache. Dort schreibt der Herausgeber Frank Schirrmacher von »Endzeitparolen unserer Zeit« und gibt gleich selbst eine aus: »Bringt der Rettungsplan die Rettung? Reden wir, fast zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, so wie einst Günter Mittag und das Politbüro und kaufen zur Beruhigung der Massen noch ein paar billige DVD-Rekorder ein?« Man muß sich ihn dabei vorstellen, wie er in seiner warmen Redaktionsstube sitzt und statt einer DVD eine CD mit einem klassischen Streichquartett eingelegt hat, während er über das »apokalyptisch aufgeladene« Jahr 2009 nachsinnt. Zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis? Wir werden es noch erfahren.
Erschienen in Ossietzky 25/2008 |
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