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Ob die Geschichte einen wahren Kern hat oder nur fromme Legende ist – sie rührt die Menschen noch heute. Und jedes Jahr feiern sie in aller Welt am 24. Dezember (bei den Orthodoxen ein bißchen später) den in der Krippe Geborenen, den ein Jude aus Tharsus in der heutigen Türkei später zum Sohn Gottes erhob, womit er eine Kirche oder viele Kirchen begründete, die sich noch immer auf ihn berufen und vorgeben, in seinem Namen zu handeln. Die, die daran glauben, haben im Laufe der Zeit merkwürdige Bräuche entwickelt, um den Kleinen in der Krippe im Stall von Bethlehem zu feiern: Sie schlagen grüne Bäume im Wald (es gibt sie aber auch schon aus Plastik) und bekränzen sie mit Kugeln, Lametta, Lichtern wie die Straßen ihrer Städte. Die Tempel ihres Konsums sind zu dieser Zeit noch prachtvoller bestückt als sonst. Die glitzernden und funkelnden Angebote stapeln sich in üppiger Fülle, um sich, hübsch eingepackt in buntem Papier mit Schleifchen, am »Heiligen Abend« auf den Tischen der Lieben wiederzufinden. Und dann strahlen die Lichter auf den grünen Bäumen, Kinder- und Erwachsenenaugen glänzen, der Gänsebraten brutzelt im Backofen, Süßes wird bis zum Erbrechen genascht und viel Hochprozentiges daraufgegossen. Da schwirren die Wünsche vom »Frohen Fest« durch die Stuben, und auch von »Frieden« ist viel die Rede, vor allem in den Gottesdiensten und den Fernsehansprachen der führenden Politiker. Und Engel mit Goldhaar und eingebautem Computer hauchen »Halleluja« und »Hosianna« und »Den Menschen ein Wohlgefallen«. Selbst die Mittellosen, die man früher Arme und heute »Hartz-IV-Empfänger« nennt, feiern den Kleinen in der Krippe, auch wenn sie sich ein solches Fest eigentlich gar nicht leisten können, wenig oder nichts auf dem Gabentisch liegt und die Spekulatius nur von Aldi sind. Und Bethlehem? Der Ort, von dem alles ausging? Er ist heute eine sterbende Stadt, von Glück und Freude verlassen. Hoffnungslosigkeit regiert hier. Israels acht oder neun Meter hohe Betonmauer umschließt sie – wie so viele andere Gemeinden im »Heiligen Land« – mit eisernem Griff und schnürt die Bewohner von der Außenwelt ab. Die Menschen sind eingesperrt wie in einem Gefängnis – können nicht hinaus noch hinein. Selbst Nachbarn, Verwandte und Freunde können nicht mehr zueinanderfinden. Auch der Arbeitsplatz wird für viele unerreichbar. Die Bauern sind von ihren Feldern getrennt. Es sei denn, die israelischen Bewacher lassen Gnade walten und gewähren an den Checkpoints Durchlaß. Das tun sie selten. Selbst hochschwangere Frauen, die zur Niederkunft in ein Krankenhaus gebracht werden müssen, dürfen oft nicht passieren; schon viele sind an den Grenzbarrikaden verblutet. Würden die Grenzsoldaten heute Maria und ihren Mann durchlassen? Demütigung und Erniedrigung sind hier die Regel. Handel und Wandel sind unter diesen Bedingungen des Eingeschlossenseins nicht mehr möglich, die Menschen verarmen. Wer sich gegen diesen Zustand auflehnt und »Menschlichkeit« fordert, gilt als »militant« und muß mit dem Schlimmsten rechnen. Jede Nacht kommen die Soldaten der Besatzungsarmee, dringen in die Häuser ein, schikanieren, drangsalieren, zerstören, verhaften und töten. Einer, der es wissen muß, der evangelische Pastor der Weihnachtsgemeinde in Bethlehem, der Palästinenser Mitri Raheb, sagt: »Unsere Situation kann eigentlich nur schizophren machen. Die Amerikaner, Israelis und Europäer reden ständig vom Frieden, auf den wir seit Jahrzehnten warten, aber es gibt ihn nicht und wird ihn so bald nicht geben. Wahr ist: Die Mauer wird jeden Tag größer und länger. Die jüdischen Siedlungen wachsen und wachsen und engen unseren Lebensraum immer mehr ein. Die Israelis mauern uns wirklich ein und schaffen mit jedem Tag neue Fakten.« Das ist Bethlehem zu Weihnachten 2008. Und die Christen aus aller Welt, für die der Ort eine so magische Anziehung hat? Sie kommen zu Zehntausenden mit großen Bussen aus Jerusalem. Voller Ehrfurcht betreten sie die »Geburtskirche« und steigen dann zu der winzigen, kaum einen Meter hohen Grotte hinab, in der der kleine Jesus gelegen haben soll (war im Neuen Testament nicht von einem Stall die Rede?). Viele knien nieder und küssen voller Inbrunst den Stern, den man auf dem Boden der Höhle angebracht hat. Dann fahren sie zu den Feldern hinauf, wo die Engel den Hirten dem biblischen Bericht zufolge die frohe Botschaft vom »Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« verkündeten. Auch dort gibt es Grotten. In ihnen versammeln sich die frommen Pilger, beten und singen Weihnachtslieder – auch mitten im heißen Sommer. Dann bringen die großen Busse sie wieder nach Jerusalem in ihre luxuriösen Hotels. Kaum ein Pilger hat etwas von den Palästinensern in der Stadt und ihrer Not wahrgenommen, von der grauen Monstermauer, der Armut und Verzweiflung der Bewohner, den zerstörten Häusern und Olivenhainen, den Übergriffen der Soldaten. Der Blick ist ganz auf das Geschehen von »damals« gerichtet, auf das Heilige Paar und seine Notunterkunft im Stall. Bestenfalls ersteht man in einem der Souvenirshops eine geschnitzte Krippe mit den Hauptdarstellern der Weihnachtsereignisse für das nächste Fest zu Hause, um dann nostalgisch zurückblickend sagen zu können, wie schön, wie nice, wie beautiful es in Bethlehem war.
Erschienen in Ossietzky 25/2008 |
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