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Keine Schauspieler, Laien – und doch Spezialisten für das Peter-Weiss-Stück »Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes von Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade«. Sie sind der Grund für die Änderung des Titels nach Auflagen des Verlages für die Fassung, die der Regisseur Volker Lösch in Zusammenarbeit mit Beate Seidel erarbeitet hat. Nicht die Patienten der Anstalt bilden hier den Chor, sondern die 24 Hamburger, die sich im Prolog selbst vorstellen, ihre verzweifelte Arbeitssuche schildern, das Scheitern, ihre Gefühle dabei, das Jonglieren mit dem Wenigen. Kultur? »Ich würde gerne ins Theater gehen, ich bleibe lieber zu Hause, denn daß etwas im Kühlschrank ist, das ist wichtiger.« Ihre wachsende Wut: »Der Arbeitslose ist der Täter.« Sie fühlen sich eingesperrt in der Gesellschaft. Eingeengt zwischen Wänden, die auf der Bühne riesige Plakate sind: das bunte Logo von Lidl mit dem Aldi-Schriftzug (Bühne: Cary Gayler). Wände, gegen die sie anrennen, umfallen, immer aufs Neue. »In Gleichheit dürfen wir hier verrecken – wer sperrt uns ein?« fragen die Patienten bei Peter Weiss, fragen hier die Bürger von Hamburg. Plötzlich stehen Marat und de Sade in historischen Kostümen da, auch der Anstaltsdirektor Coulmier. Historisch? Marat ruft: »Das Volk kann die Wucherpreise fürs Brot nicht zahlen« und »Wer Arbeit hat, schuftet sich ab für Makler, Börsenagenten und Aktienspekulanten«. Das Stück wurde 1964 uraufgeführt, heute werden Sätze wie diese gut verstanden: »Jetzt sind die nächsten dran, unser Blut zu saugen, Papierfetzen werfen sie uns hin, die Geld vorstellen solln und nur zum Arschabwischen taugen.« Jean Paul Marat (Achim Buch), der Revolutionär in der Wanne, disputiert mit dem Marquis de Sade, dem Nihilisten, der lässig hingefläzt neben ihm sitzt und trinkt. Marat: »Ich glaube an die Sache, die du verrätst.« Der Marquis ist eine Frau, von Marion Breckwoldt genüßlich gespielt. Sie stellt den Zweifler dar, der nicht mehr an die Revolution, nur noch an sich selbst glauben kann, den Gegenpol zu Marat. Wenn die Hartz-IV-Empfänger in Müllsäcke kriechen, kommentiert de Sade kühl: »Die werden dafür bezahlt, sich selber zu entsorgen.« Doch er tut das Gleiche, saugt sich mit einer Foltermaschine das eigene Fett ab und verleibt es sich – Sadist und Masochist in einer Person – wieder ein, schlürft es wie Sahne aus einem Glas. Volker Lösch läßt den Zyniker in ein Nikolauskostüm schlüpfen, um das Volk auf der Bühne mit Broten zu beglücken, über die sie sich hermachen wie Tiere – der Mensch ist ein »irrsinniges Tier«. Jean Paul Marat, sein Gegenspieler, der Revolutionär, wechselt das Erscheinungsbild über die Jahrhunderte. Er schwebt als Lenin-Skulptur vom Himmel, verwandelt sich in Castro, in Dutschke, der freigiebig Ringelpullis verteilt, die er sich vom Leib reißt, und zum Schluß in Lafontaine, der mit Mikrofon auf die Bühne stürmt und Wahlkampfreden hält (»…als wären die Reichen je bereit, freiwillig ihre Besitztümer herauszugeben«). Er tanzt mit seiner zukünftigen Mörderin Charlotte Corday (Jana Schulz), die ihn mit Blumenstrauß begrüßt – wie 1990, als ein Anschlag auf ihn verübt wurde, mit dem Messer. Auf der Bühne in Hamburg nimmt sie die Pistole. Die radikalen Aufrufe des Ex-Priesters Jacques Roux (Aleksandar Radenkovic): »Greift zu den Waffen, kämpft um euer Recht, erhebt euch, stellt euch vor sie hin, zeigt ihnen, wie viele ihr seid« – sie müssen abgewürgt werden. Anstaltsleiter Coulmier (Hanns Jörg Krumpholz) sorgt für Ruhe: »Sollen wir uns so was mit anhören, wir Bürger eines neuen Zeitalters, wir, die den Aufschwung wollen!« Hier steht er vor dem Hartz-IV-Volk in roter Sportjacke mit Mercedes-Emblem als Animateur. Der Glücks-Guru läßt Tütensuppen und Nudelpackungen vom Himmel regnen, um die sich alle raufen. Oder er verteilt rote Boxhandschuhe fürs Schattenboxen gegen sich selbst. Oder als Anpeitscher wie beim Wal-Mart-Konzern, jeder sein eigener Chef. Jeder muß doch einsehen, daß wir uns alle »dem gemeinsamen Ziel« nähern. »Und wir dürfen uns äußern in jeder Weise, und was wir nicht äußern dürfen, sagen wir leise.« Sie sprechen es in ihren Gummiwänden, von denen das Lidl-Aldi-Logo herunterdroht. Roux aber spricht laut, ruft zum Umsturz auf: »Wir fordern, daß alle Werkstätten und Fabriken in unseren Besitz übergehn, wir fordern, daß in den Kirchen Schulen eingerichtet werden, so daß dort endlich einmal etwas Nützliches verbreitet wird.« Klatschen im Publikum. Und weiter: »Wir fordern eine sofortige Anstrengung aller, um den Krieg zu Ende zu bringen, diesen verfluchten Krieg … Wir fordern, daß diejenigen, die den Krieg entfacht haben, unmittelbar alle Kosten dafür tragen.« Die Armen auf der Bühne machen mit dem Aufruf ernst, fordern mit eigenen Worten ihr Recht. Im Epilog verkünden sie: »Von 300 Superreichen in Deutschland sind 28 Hamburger. Ihr Vermögen beträgt zusammen 49,35 Milliarden Euro. Wenn diese 28 Hamburger nur 2,5 Prozent Vermögenssteuer zahlen würden, hätte der Hamburger Haushalt 1,2 Milliarden mehr in der Kasse.« Und sie verlesen eine Liste mit den Namen der reichsten Hamburger. Einige von denen, im intimen Rahmen des manager-magazins nachzulesen, wollen nicht auf einer öffentlichen Bühne genannt werden. Vier haben eine Einstweilige Verfügung angedroht. Und so hören wir nur die Ziffern des mm-Listenplatzes und die Höhe des Vermögens. Die Ungenannten sind – wie nun auch die Hamburger Morgenpost (Schlagzeile in Riesenlettern: »Skandal am Hamburger Schauspielhaus – Superreiche bloßgestellt«) mitteilt: Albert Büll, Immobilien (400 Millionen, Platz 290 der Liste der reichsten Deutschen), Max Warburg, Privatbank (550 Millionen, Listenplatz 208), Bernd Kortüm, »Norddeutsche Vermögen« (500 Millionen, Platz 236), Christian Olearius, Privatbank (700 Millionen, Platz 158). Der Hamburger Mäzen Michael Otto hält es – von seinem Standpunkt als Unternehmer und als reichster Hamburger – für »eine künstlerisch schwache Leistung, das Thema so auf die Bühne zu transportieren«. Er war nicht anwesend. Die Anwesenden waren anderer Meinung. Tobender minutenlanger Beifall auf den Rängen und im Parkett.
Erschienen in Ossietzky 22/2008 |
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