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Sie stehen auf der großen Bühne des Hamburger Schauspielhauses zusammen mit 16 Damen und Herren, die in dem Stück, das kein Stück ist, »die Kümmerer« genannt werden. Zu sehen ist ein Dokumentartheater-Projekt mit Menschen ab 60, alle aus der Hamburger Region. Regie führt Markus Heinzelmann. Unterstützt und begleitet wird das Erzähltheater durch vier Musiker, die hier »Die Kümmerlinge« heißen. Die Darsteller spielen sich selbst, die eigene Geschichte. Die positiven Aspekte des Alterns sollen betont werden und das Sich-Kümmern um andere. Wie man sich im Alter, im Ruhestand, engagieren kann, wird amüsant oder auch etwas penetrant vorgeführt. Daß die Agierenden ihre eigenen Texte auswendig lernen mußten, stört manchmal. Vieles wirkt aber auch spontan. Das gilt besonders für die Älteste, Sonja Barthel (91), einst von der Gestapo verfolgt, weil ihre Mutter Jüdin war. Jetzt lebt sie in einer generationsübergreifenden Wohngemeinschaft in Lüneburg, wo sie die Geschichtswerkstatt gegründet hat. Sie ist bei jeder Demo gegen rechts dabei, sagt sie. Anfangs tritt sie noch mit einem Laufwagen auf. Dann: »Ich bin ja schon wieder fit – das hier war gestern.« Eine andere engagiert sich für Strafgefangene, nachdem sie selbst schwere Schicksalsschläge erleiden mußte. Sie singt, auch ohne Mikrophon klingt ihre Stimme voll und alles andere als alt. Auf der von Jan Müller gestalteten Bühne agieren alle in einer Bar/Kneipe/Café. Oben spielt die Band. Hinten an der Wand steht ein Regal voller Pappschachteln mit Fragezeichen. Manchmal wird ein Karton herausgezogen, der ein Leben enthält. Beispiel: Jan Thiem, 1935 in Hamburg-St. Georg geboren, 1937 Vater inhaftiert, bei Großeltern, 1942 Einschulung, 1947 Oberschule, 1949 FDJ-Pionierlager, 1953 von der Schule geflogen, Maschinenbaulehre, IG Metall, 1954 DDR-Kontakte, 1957 Berufsverbot, 1958 Neuanfang bei Siemens, 1959 illegale KPD, 1961 Hochzeit, 1962 Wahlkampfleiter der Deutschen Friedensunion, 1964 Tochter Imke, 1966 Sohn Jan, 1972 Rechtsstreit mit Siemens, 1978 ehrenamtlicher Richter am Arbeitsgericht, 1980 Sohn Oliver, Krach im Betriebsrat wegen DKP-Kandidatur, 1981 Wahl in die Ortsverwaltung der IG Metall, Vorsitz des Bildungsausschusses, 1983 Werftenkrise, 1986 Siemens besetzt, Abmahnung, 1987 Arbeitsgerichtsprozeß, 1989 Heirat mit Bärbel, 1991 Siemens bietet 400.000 DM, um mich loszuwerden, 1994 Wahl in den Siemens-Gesamtbetriebsrat, Solaranlage gebaut, 1996 Sturz vom Apfelbaum, Invalide, 1998 nach 40 Jahren Verabschiedung bei Siemens, 2001 Vorstand der DGB-Senioren, 2002 Filmgruppe Hamburger Metaller, 2003 Schlaganfall, 2004 lerne Polnisch, 2007 Klara geboren, Eintritt Verein Hafenkultur e.V., 2008 Eintritt in Die Linke, »Kümmerer«. Ich lebe noch! Hurra! Da gibt es Mico Kaletta, der mit seinem Freund in Hannover eine Schwulensauna gründete. Und sich heute um die Homosexuellen der Nazi-Zeit kümmert, indem er »Stolpersteine« im Straßenpflaster verlegt, um an sie zu erinnern. Elena Nikolov, in Sofia geboren, nennt sich selbst eine atheistische Artistin – oder umgekehrt. Ist im linken Kulturverein – durch Rolf Becker, sagt sie. Und: »Es erwies sich, daß Marx noch aktuell ist.« Sie will mit uns einen besseren Staat gründen. Einer macht Liegestütze und zeigt so, wie fit man auch als Rentner sein kann. Ein anderer arbeitet heute in Reinbek für die CDU. Evamarie hat sich ihren Wunsch erfüllt – im Alter – und noch Saxophon gelernt. Auch arbeitet sie als »Singpatin« mit Kindergartenkindern. Jemand sagt: »Als ich 80 wurde, bekam ich einen Computer geschenkt.« Die Band in Hawaii-Hemden spielt Schnulzen, Elvis, Rock´n Roll. Er habe heute noch Schmerzen beim Absingen der Nationalhymne, sagt einer, als sich alle erinnern. Angst vor Alter, Hinfälligkeit, Demenz – eine wagt, verstohlen davon zu sprechen. Auch der frühere Wirt der Kulturkneipe »Villon« kann nicht nur Aufbauendes berichten. Panikattacken passen nicht so ganz hierher. Er arbeitet heute als Fremdenführer. Irgendwann sind Witze angesagt. Das ist peinlich, ganz unnötig. Das SPD-Mitglied spielt den Clown Anjol, aber lustig ist der nicht. Einer singt etwas in Platt – was ich als Berlinerin nicht verstehe. Das Publikum klatscht im Rhythmus mit. Alle singen; »Wir bleiben dran, egal, was kommt, wir bleiben dran.« Ich frage mich, ob das schön trotzig klingt oder scheußlich eingeübt.
Erschienen in Ossietzky 21/2008 |
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