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Einmal stellt sie eine 99-jährige Frau Müller dar, die da meint, Werte für die Jugend seien im Krieg zu finden; eine andere Frau, ihres Zeichens Verkäuferin bei Lidl, wählt NPD, weil sie einen rechtsradikalen Sohn hat. Wieder eine andere hält die Moral ihres Millionärsgatten, der ein gewaltiger Steuerhinterzieher ist, für verteidigenswert gegenüber dem »Neid« des Volkes. Hier wird mit der uns umgebenden Welt hart ins Gericht gegangen – einer Welt im ständigen Krieg, innen und außen. Dagegen spielt eine Künstlerin mit großer Verzweiflung und noch größerem Haß an – manchmal ordinär, meist wütend, oft lachend, insgesamt auch intelligent. Textautor Philipp Schaller bietet ihr gute Vorlagen. Nicht zufällig findet der Abend im Kabarett Charlie M. in der Karl-Marx-Allee 133 in Berlin-Friedrichshain statt. Wenn man Anna und Bernhard Blumes Fotografisches Theater im Hamburger Bahnhof (Bezirk Tiergarten) betritt, steht da das ältere Paar in einer Art Fitneß-Look und schaut sich sein Publikum etwas erstaunt an. Dann führen Anna und Bernhard ihre Zuschauer in ihre Fotoausstellung »Reine Vernunft« und erklären allerlei. Der Bezug auf den Philosophen Kant ist gewollt, aber rein ist diese Vernunft denn doch nicht. Die beiden über 70-jährigen zeigen ihr Werk, ihre Fotografien, die sie (seit über 40 Jahren in Köln lebend) von der Welt gemacht haben. Auf diesen Fotos geht es gewaltig hin und her; die Dinge stehen Kopf, und ein Bild wie »Trautes Heim« assoziiert eher eine Stätte des Chaos als ein Heim. Die Dinge auf diesen Bildern, auf denen die beiden Blumes auch selbst zu sehen sind, werden aggressiv. Diese Welt ist verrückt, ein Universum von Verrücktheiten baut sich auf, zum Beispiel in dem Bild »Die Ekstasen der Vasen«. Es ist viel Bitternis auch hier, und zugleich ist dies der Ort für ein großes Gelächter. Die Angriffe richten sich weniger gegen die staatliche Ordnung als letztendlich gegen das lang anhaltende deutsche Philistertum, wobei die Blumes auch auf die künstlerischen Mittel etwa eines Joseph Beuys und der gesamten Moderne, zum Beispiel des Dadaismus, des Konstruktivismus, des Kubismus, zurückgreifen. Der Name Anna Blume erinnert direkt an ein berühmtes Gedicht von Kurt Schwitters, dem hannoverschen Dadaisten. Ein konstitutives Element des Theaters kommt hier freilich zu kurz; das Wort. Im Scheinbar-Varieté in der Monumentenstraße zwischen Kreuzberg und Schöneberg geschieht Folgendes: Hier darf jeder Theater spielen, was und wie er will, aber nur sieben Minuten lang. Man kann über alles reden, wie es an einem von mir gesehenen Abend geschah – zwischen Hegelscher Dialektik und Schuheputzen. So wurde dieses 1984 gegründete Theaterchen eine Art Talenteschmiede, etwa in der Art des Britischen Open Stage. Der Gründer und immer noch Leiter ist Stefan Linne, einstmals ein Pantomime. Seine Idee hat ich bewährt; man konnte viele Leute aus dem Volke mit allerlei Witz und Artistik sehen und hören, Talente probierten sich aus, wurden erkennbar und manche sogar bekannt, zum Beispiel Kurt Krömer oder Mario Barth. Die Nachwuchsfrage führt zum Theater für Kinder und Jugend. Waren wir auf unserer letzten Station in einem der kleinsten Theaterräume gewesen und hatten das Scheinbare durchleuchtet, so sind wir jetzt bei einem Theater mit einem gänzlich entgegengesetzten Titel angekommen: dem Weiten Theater – Theater für Puppen und Menschen, 1991 gegründet und seit 2003 mit fester Spielstätte in der Parkaue im Bezirk Lichtenberg, wo seit langem Theater für Kinder und Jugendliche gemacht wird und wo jetzt auch die Abteilung Puppenspiel der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch ansässig ist. Das kleine Ensemble hat über 50 Produktionen herausgebracht und gibt etwa 200 Vorstellungen im Jahr sowie zahlreiche Gastspiele. Zum Repertoire gehören Märchen, die gern von Kindern gesehen werden und sie zum eigenen Spiel anreizen können. Einige Titel mögen den Geist dieser Truppe charakterisieren: »Reise ins Paradies – als die Welt noch jung war«, »Das kleine Ich bin ich« oder »Der weiße Hammer – ein schwarzes Stück«. Ich sah zu meinem Ergötzen eine szenische Lesung mit Texten von Michael Ende, künstlerisch geleitet von Irene Winter und Martin Karl. Der Probleme Jugendlicher, vor allem solcher mit Migrationshintergrund, nimmt sich die Jugendtheaterwerkstatt Moabit in ihrem Stück »Der Sprung« an. Künstlerischer Leiter dieser Aufführung ist Ahmed Shah. Als Autoren werden die 13- bis 20jährigen Spieler angeführt. Das Stück provoziert. Sie behandeln ihre eigene Chancenlosigkeit und machen gegen Gewalt und Rassismus Front. Nicht ohne Witz und Gesang nach »moabitischem Rap«. Im zweiten Teil machen die Jugendlichen eine Zeitreise zurück ins Deutschland der Dreißiger Jahre, basierend auf Gesprächen mit Hedi Epstein, einer Überlebenden der Shoah. Hier entsteht starke emotionale und intellektuelle Wirkung, die die Aufführung aus dem Kontrast beider Teile bezieht. Leider verflacht der dritte Teil im Moabit der Gegenwart. Danach eile ich in zum Gripstheater (Tiergarten), wo seit fast 20 Jahren immer noch und das Stück von Volker Ludwig und Detlef Michel »Ab heute heißt du Sara« nach Inge Deutschkrons Erinnerungsbuch »Ich trug den gelben Stern« gezeigt wird. Ich habe es bald nach der Uraufführung gesehen. Die Wiederbegegnung ist immer noch sehr eindrucksvoll, obwohl inzwischen eine völlig andere Besetzung spielt – mit Verve und Engagement. Stück und Buch sind nicht alt geworden.
Erschienen in Ossietzky 20/2008 |
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