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Aber viele Millionen Menschen in Deutschland haben gar kein Vermögen, nur Schulden. Andere besitzen also um so mehr. Die zweite Meldung wurde allgemein als wesentlich brisanter eingeschätzt: Zwei Wissenschaftler der Universität Jena wollen herausgefunden haben, daß der Regelsatz nach Hartz IV, gegenwärtig 351 Euro, viel zu hoch sei, 132 Euro würden für ein menschenwürdiges Leben ausreichen. Martin Petersen hat in Ossietzky 19/08 hierauf schon die passende sarkastische Antwort gegeben. Die Nachricht aus Jena fand auch in anderen Medien starke Resonanz. Nach einigen Tagen mußte die Kanzlerin dementieren: »Hartz IV wird nicht gekürzt.« Freilich wird es auch nicht erhöht – trotz steigender Preise, trotz dringlicher Forderungen der Sozialverbände, trotz skandalös gewachsener Kinderarmut. Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) kündigte stattdessen schärfere Kontrollen der Arbeitsfähigkeit von Hartz-IV-Empfängern an: »Im Vordergrund steht für mich die bessere Qualifizierung für die Arbeitslosen.« Daß Forscher, die mehr und mehr auf Drittmittel angewiesen sind, Ergebnisse liefern, mit denen sie die Gunst von Geldgebern zu erlangen oder sich zu bewahren hoffen, ist nichts Neues mehr. Auf solche simplen Gründe lassen sich manche Zynismen zurückführen, mit denen Professoren in Presse und Funk Gehör finden. Ganz neu ist auch nicht der scheinbar wissenschaftliche Nachweis für die jetzt festgestellte angebliche Grundgesetzverträglichkeit einer massiven Absenkung des Existenzminimums auf ein Drittel der bisherigen Sozialhilfesätze. Im Asylbewerberleistungsgesetz ist seit Jahren von staatlichen Stellen als rechtens festgeschrieben, daß für Flüchtlinge eine Unterstützung weit unter dem Existenzminimum als ausreichend gelten muß, ohne daß damit die in Artikel 1 des Grundgesetzes garantierte »Würde des Menschen« angetastet würde. Die Behandlung von Flüchtlingen gilt als Experimentierfeld für den Umgang mit anderen Betreuungsbedürftigen. Moralische Empörung ist angebracht und wurde von Gewerkschaften oder Sozialverbänden auch artikuliert. Merkwürdig ruhig verhielten sich bisher die beiden großen Kirchen. Sie sind eher damit beschäftigt, sich dem Manager- und Unternehmerlager als unentbehrliche Sinnproduzenten zu empfehlen, wie die jüngste EKD-Denkschrift zeigt (s. Ossietzky 18/2008). Aber reicht moralische Skandalisierung? Auch dann, wenn wir die Meldung Nr. 1 als Kontrastfolie heranziehen? Schon aus dem vor einigen Wochen veröffentlichten 3. Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung ging hervor: Die Reichen und Besserverdienenden gewinnen immer mehr vom Bruttoinlandsprodukt, während die Armen bis hinein in die Mittelschichten mit immer weniger zurechtkommen müssen. Die Aufregung über solche Tatsachen hielt sich aber in Grenzen. Immer mal wieder wird in den Medien sogar behauptet, es sei gut für alle, wenn die da oben riesige Vermögen zusammenraffen, denn dann könnten sie für die da unten Arbeitsplätze schaffen. Die Hochverdienenden trügen auch am meisten zum Einkommenssteuer-Aufkommen bei, aus dem der Staat seine Sozialausgaben überhaupt erst bestreiten könne. Daß die Masse der Beschäftigten und Rentner die wesentlich höheren Verbrauchssteuern aufbringt, taucht in solchen Berechnungen nicht auf; ganz zu schweigen von der Tatsache, daß sich der Staat den weitaus größten Teil der Sozialabgaben von den Arbeitnehmern direkt per Lohnabzug holt. Wir aber sollen uns alle freuen, daß es unseren Reichen immer besser geht, und sollen der alten Geschichte von den Spatzen vertrauen, die erst dann satt und glücklich werden können, wenn den Pferden genug Hafer ins Futter gemischt wurde, so daß die Pferdeäpfel die Vögel besser nähren. Hinweise auf die zunehmenden Ungerechtigkeiten bleiben ohne verändernde Kraft, solange der systematische Zusammenhang zwischen dem Ärmerwerden auf der einen und dem Reicherwerden auf der anderen Seite nicht verstanden wird. Es ist nicht so, daß die Reichen ihre Güter den Armen durch offenen Raub wegnehmen müßten. Der Kapitalismus verfügt über subtilere Mechanismen: Die Habenichtse sehen sich sogar gezwungen, sich mit sinkenden Löhnen zufrieden zu geben und dadurch selber mit dafür zu sorgen, daß sie verarmen – aus Angst, sonst ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Im Konkurrenzkampf zu bestehen, könne letztlich nur durch Einsparungen an den Löhnen und Sozialabgaben gelingen, argumentieren die Unternehmer. Sie reduzieren das Personal, verlängern die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, kassieren die Rationalisierungsgewinne. Wenn sich viele Unternehmer so verhalten, wächst die Arbeitslosigkeit. Daß daraus eine generelle Krise entstehen muß (wie sie gegenwärtig droht), scheint die Kapitalisten als Klasse insgesamt nicht zu stören; sie erwarten, mit ihren angehäuften Gewinnen die Krise locker überstehen zu können. Dem Kapitalismus verpflichtete Regierungen sollen dieses Treiben moderieren. Krasse Vorschläge wie die aus Jena aber, die Wünsche aus dem Unternehmerlager aufnehmen, könnten zu Aufruhr und Chaos führen. Deswegen will Minister Scholz beruhigen: Im Vordergrund stehe (noch?) keine Kürzung der Stütze; statt dessen wolle er angeblichen Drückebergern durch schärfere Kontrollen auf die Schliche kommen. Sein Wunsch nach »besserer Qualifizierung« der Arbeitslosen läuft darauf hinaus, sie noch strenger für die Bedürfnisse erfolgreicher Kapitalakkumulation zuzurichten. Über die menschenunwürdigen Zustände im kapitalistischen Gesamtsystem muß informiert werden, aber dadurch allein ändert sich noch nichts. Verändernde Kraft könnte entstehen, würden wir dabei die weisen Worte des Dichters Bert Brecht bedenken: »Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah’n sich an, / und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wär’st du nicht reich« (aus »Das Alphabet«).
Erschienen in Ossietzky 20/2008 |
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