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Am liebsten erinnere ich an Geschonneck als Kommissar im spanischen Bürgerkrieg in dem Film »Fünf Patronenhülsen« von 1960 und als Oberst Petershagen (»Gewissen in Aufruhr«). Schwerer erscheint mir indes sein Gewicht für die Theatergeschichte: Seine Jahre am Berliner Ensemble! Was wäre Brechts Theaterrevolution der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre ohne Schauspieler wie ihn? Hans Caninenberg, der am 29. Juni im Alter von 95 Jahren starb, hatte auf westdeutschen Bühnen große Klassiker-Rollen wie Shakespeares Puck, Goethes Orest und Mephisto, Schillers Marquis Posa oder Kleists Prinz Friedrich von Homburg gespielt, ein Helden- wie Charakter-Darsteller. Weithin bekannt wurde er durch seine TV-Rollen, indes waren die nicht vom besten Stoffe, wie Serien meist sind. Doch in die deutsche Theatergeschichte hat er sich eingeschrieben. Die Volksbühne am Luxemburgplatz läßt mich oft an ihre rühmliche Geschichte unter Benno Besson, Manfred Karge und Matthias Langhoff denken – oder Fritz Marquardt, der am 15. Juli 80 Jahre alt geworden ist und heute in der Uckermark lebt, malt und seinen Acker bestellt. Er inszenierte gern versponnen-schwierige Stücke wie Büchners »Woyzeck«, O’Caseys »Juno und der Pfau«, Dramen von Molière, Kleist, Sternheim, frühe Stücke der Sowjetdramatik, etwa Katajew oder Kopkow, vor allem aber Stücke seines Freundes Heiner Müller wie »Weiberkomödie«, »Die Bauern«, »Der Bau«, »Germania – Tod in Berlin«. Auch als Schauspieler hat er einen Namen, unvergeßlich als Chaplin in Taboris »Brechtakte« am Berliner Ensemble. Am BE weiterhin im Dienst ist, inzwischen 75 Jahre alt geworden, Walter Schmidinger. Jugendlicher Held war er eigentlich nie. Eingeprägt hat er sich mir vor allem in Rollen von Einsamen oder Gebrochenen, grenzüberschreitenden Gestalten, deren Menschlichkeit er im szenischen Vorgang sucht und bewahrt. Seine Erfahrungen wurden sicht- und in unverkennbarer Diktion hörbar im Prolog zu Schillers »Wallenstein« 2007 in Peter Steins Berliner Inszenierung. Da zeigte der Meister der flüchtigsten aller Künste, der Schauspielkunst, was es heißt, »seiner Mitwelt mächtig sich versichern,/ [...] Ein lebend Denkmal sich erbauen«. Das hat er getan und tut es noch. 100 Jahre alt wäre in diesem Jahr Steffie Spira geworden. Eine Tafel an ihrem früheren Wohnhaus in der Künstlerkolonie am ehemaligen Laubenheimer Platz (heute Barnayplatz) soll an sie erinnern. Einstmals war Spira Mitglied der proletarischen »Truppe 31« des Gustav von Wangenheim, ab 1933 Exilantin in vielen Ländern, zuletzt in Mexiko, ab 1948 im Deutschen Theater und in der Volksbühne. Am 4. November 1989 setzte sie sich auf dem Alexanderplatz für eine politische Erneuerung der DDR ein. Und noch eine Ehrung ist kurz zu nennen: Fred Düren, der am 2. Dezember 80 wird und über 30 Jahre am Deutschen Theater schönste und größte Rollen gespielt hat, ist dessen Ehrenmitglied geworden. Er lebt gegenwärtig in Israel. Und nun spaziere und wandere ich weiter durch die Gegenwart. Da es bei den großen Häusern derzeit nichts Aufregendes gibt, suche ich wieder einmal zahlreiche Freie Gruppen auf, um nachzuspüren, ob es bei denen neue Impulse gibt. Nicht nur des Namens wegen fange ich mit dem Prime Time Theater an. Sein Markenzeichen ist GWSW, was so viel heißt wie »Guter Wedding, schlechter Wedding«. Sein Sitz ist in der Müllerstraße 163 b. Zweimal war ich dort, ich sah »Die Invasion der Prenzlwichser« und »Mein Türke, meine Schwiegermutter und ich«. Daß man sich in dieser stark von Türken bewohnten Gegend deren Themen und Problemen zuwendet, ist zu begrüßen. Es kommt aber darauf an, wie man es macht. Schwiegermütter gibt es überall, die Geschichten ähneln sich. Hier wird wirklich multikulturell geliebt, eine polnische Putzfrau macht auch noch mit, und bei deutschen Friedrichshainis, wie sie genannt werden, geht es gleichfalls mehr drüber als drunter. Ahmed darf nicht erfahren, wer der Vater seines Kindes ist, auch eine Richterin will ihre Ehe auflösen, die Tochter verzweifelt deswegen an der Welt, und so geht und liegt das rundherum. Haben diese Leute keine anderen Probleme? Da die Akteure meist zu laut sprechen und sich dem Publikum anschmeißen, kann auch nur wenig Komik entstehen. Ein Umweg führte mich in die Palisadenstraße 48 in Friedrichshain zum Berliner Kriminaltheater. Hier eifert man dem größten Erfolgsstück der Theatergeschichte nach: der »Mausefalle« von Agatha Christie – in London im St. Martin’s Theatre seit 1952 gespielt und hier inzwischen auch schon über 750 mal. Die Regie von Wolfgang Rumpf war eher ein behutsames Arrangement der acht sehr eifrig agierenden Schauspieler, dieses Stück wirkt aus und für sich schon stark. Auch den »Hund von Baskerville« von Arthur Conan Doyle hat dieses Theater im Repertoire. Die sehr deutsche Gruppe mit dem fremdklingenden Namen Lubricat Theatre Company unter Dirk Cieslak spielte bislang in den Sophiensälen; ich habe sie schon mehrfach erwähnt. Nun sind sie in das Ballhaus Ost in der Pappelallee umgezogen. Ein Abend hat den Titel »Goldener Boden« und soll das Handwerk preisen. Werkzeugmacher, eine Weberin und andere Laien spielen mit. Die Idee ist altbiblischer Herkunft: Moses erhält den göttlichen Auftrag zum Hüttenbau. Diese Idee hängt über dem Abend, gibt ihm Figur und Statur und verhindert, daß die dialogischen Betrachtungen über die heutigen Märkte in ein Ökonomistendeutsch verfallen. Man merkt den Einfluß des Soziologen Richard Sennett, ohne daß dieser selbst zu Wort kommt. Diese kritische Sicht läßt eine kleinbürgerlich-heimelige Feier einer alten Handwerksgesinnung nicht aufkommen. In den Sophiensälen sind inzwischen die »Ping Tan Tales« von Gesine Dankwart zu erleben. Ping Tan ist chinesischer Herkunft, eine Art Erzähltheater. Meist sitzen zwei oder drei Schauspieler zusammen und singen oder sprechen mit instrumentaler Begleitung von Kampf und Liebe, wobei sie mehr durch Stimme und Mimik ausdrücken als durch Gestik. Im Ursprungsland sind Ping Tan oft Epen, ihr Vortrag kann Wochen dauern, wenn man zwei Stunden pro Tag berechnet. Es ist zu vermuten, daß diese Erzähltheaterkunst im modernen China ausstirbt. Um so verdienstvoller ist es, diese Tradition hierzulande zu adaptieren. Zugrunde liegt eine Geschichte aus Godards Film »La Chinoise« aus dem Jahre 1967: Vier Jugendliche richten in der Wohnung ihrer Eltern eine marxistisch-leninistische Kommune ein und treffen damit auf eine französische Wirklichkeit. Doch die Möglichkeiten von Ping Tan sind schnell erschöpft. Viel Mühe ist hier umsonst vertan. Hervorragend allerdings das Programmheft, in dem Gesine Dankwart und ihre Dramaturgin Susanne Vinzenz rund 40 China-Experten interviewten. Sehr informativ. Die Kunst blieb vermutlich in China. - Immer wieder gern gehe ich in das nun schon fast 20 Jahre arbeitende Theater 89, Torstraße 216, Berlin-Mitte. In diesem Ensemble arbeitet als Hausautor Oliver Bukowski. In seinem neuesten Stück »Steinkes Rettung« beschreibt er einen Manager, der auf einem Ausflug in den Bayerischen Alpen am Rand des Abgrunds steht – was durchaus metaphorisch zu sehen ist. Aber die Handlungsführung und das anzunehmende Unheil überzeugen nicht. Die bewährte Regie von Hans-Joachim Frank und eine Anzahl guter Schauspieler können das Stück nicht retten. Eine ungleich bessere Hand hatte das Theater 89 mit der Bühnenfassung der Tagebücher Victor Klemperers von Katrin Kazubko unter dem Titel »Gehen-Bleiben«. Hier wirken einmal alle Faktoren zusammen: geschickte Dramaturgie, sorgsame Sprachregie, Bernhard Geffkes Vortragskunst und vor allem ein großer Stoff, dargebracht von einem hochintellektuellen Autor, der schreiben konnte. Im Allerweltsgrau unserer Theaterspaziergänge ein bemerkenswert heller Abend.
Erschienen in Ossietzky 19/2008 |
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